Suche nach der verlorenen Kindheit

26.02.2010
Anfang des 19. Jahrhunderts ist Johann Josty ein vermögender Patissier in Berlin. Gedanken an seinen Geburtsort im Engadin, aus dem er mit 12 Jahren zu Fuß geflohen ist, hat er all die Jahre verdrängt. Bis er sich entschließt, in seine alte Heimat zu reisen.
Wir schreiben das Jahr 1810: Genau ein Vierteljahrhundert ist es her, dass Johann Josty seine Heimat Sils Maria im Engadin verlassen hatte. Als 12-Jähriger war er der Armut und Perspektivlosigkeit seines Elternhauses entflohen. Zu Fuß kämpfte er sich nach oben. Jetzt ist er 37 und ein vermögender Patissier in Berlin. Die Gedanken an Sils Maria hat er all die Jahre verdrängt - nun aber wird der Wunsch nach einem Wiedersehen mit der Heimat immer drängender.

Konkreter Auslöser seiner Reise ist der Gewinn einer großen Geldsumme bei der Bank: 150.000 Taler, die er nach Hause bringen will, als gönnerhafte Wiedergutmachung für all die Jahre des Schweigens. Die längst überfällige Rückkehr ist eine Suche nach der eigenen Identität, "nach der Hälfte seines Selbst, das unterwegs verloren gegangen war."

Selbst Lina, Mutter seines Kindes, soll diesen Weg nicht mit ihm gehen. Und doch wird sie zur eigentlichen Hauptfigur in diesem Buch. Lina ist Jüdin und will nicht konvertieren. Das bedeutet im Preußen dieser Zeit, dass die beiden nicht heiraten dürfen und in wilder Ehe leben. Als Lina einige Wochen nach der Abreise Johanns zugetragen wird, ihr Gefährte würde in Sils Maria mit einer anderen Frau verheiratet werden, macht sie sie sich allein auf den Weg dorthin, um ihre unkonventionelle Beziehung zu retten.

Überzeugender als der leicht kitschige Plot dieser Geschichte ist ihre Umsetzung: die Sprache, die Form, die Atmosphäre. Ähnlich wie beim Prosa-Debüt von Isabelle Azoulay fasziniert auch hier wieder die detailverliebte Ausstattung des Buches. Seine große Stärke sind die Bilder, die zahllosen Sinneseindrücke, die lebendig werden. Man riecht förmlich die feinen Gewürze in den Patisserien von Josty, man schmeckt die feinen Kuchen und Marzipan-Kreationen des Zuckerbäckers. Man sieht und fühlt die edlen Hüte aus Seide und Feder, die Lina als Hutmacherin anfertigt.

Die Metropole Berlin, wie sie sich vor genau 200 Jahren dargestellt hat, wird in einem modernen, gleichwohl dem Zeitkolorit angepassten eleganten Erzählton plastisch. Selbst historische Ereignisse wie Napoleons kampfloser Einzug in die Stadt am 27.Oktober 1806 geraten in der Perspektive Jostys zu eindrücklichen Episoden. Auch von Sils Maria entsteht ein glaubwürdiges, differenziertes Bild, das vom heute mondänen Lieblingsort großer Denker weit entfernt ist.

Isabelle Azoulay hätte der Kraft ihrer beiden Schauplätze und Protagonisten ruhig mehr vertrauen können. Die ein oder andere dramatische Verwicklung, (insbesondere während der Reise von Lina) wirkt konstruiert und läuft ins Leere. Atmosphärisch allerdings versetzt uns die Autorin virtuos in ferne Zeiten.

Besprochen von Olga Hochweis

Isabelle Azoulay: Josty - eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria
Elfenbein Verlag, Berlin 2009
152 Seiten, 19 Euro