Suche nach dem verlorenen Freund

Schwarzweißfoto von Kenzaburo Oe, der als junger Mann an seinem Schreibtisch sitzt. Im Hintergrund ein Bücherregal.
1958 erhielt Kenzaburo Oe für "Der Fang" mit 23 Jahren als einer der jüngsten Autoren aller Zeiten den renommierten Akutagawa-Preis. © picture-alliance / dpa / Pan-Asia
Rezensiert von Vladimir Balzer · 09.09.2005
Der japanische Schriftsteller Kenzaburo Oe legt einen neuen Roman vor. Darin verarbeitet der Literaturnobelpreisträger seinen Aufenthalt als Gastprofessor in der deutschen Hauptstadt. Thema der Geschichte ist die Suche nach einem verlorenen Freund.
Er ist 70 geworden in diesem Jahr – der japanische Schriftsteller Kenzaburo Oe. Neben Haruki Murakami ist er weltweit der bekannteste Autor seines Landes. Sein Schriftstellerleben wurde mit dem wichtigsten Preis geehrt, den ein Autor bekommen kann: mit dem Literaturnobelpreis.

Das war 1994. Jetzt, elf Jahre später, veröffentlicht Kenzaburo Oe seinen neuen Roman. Die Geschichte des Schriftstellers Kogito und seines alten Freundes Goro, einem berühmten Filmemacher.

Goro begeht Selbstmord und damit beginnt das Drama für Kogito. Um etwas von Goro zu bewahren, versucht sich Kogito an ihn zu erinnern. Vor seinem Tod hat Goro stundenlang Kassetten besprochen. Kogito nimmt sie in seinem Kassettenrecorder mit, den er Tagame nennt, Schildkäfer, und hört sie, wann immer er kann. Er erfährt Unverhofftes über seinen alten Freund, vor allem aber: Er versucht mit ihm zu reden, obwohl dessen Antworten längst feststehen. Kogito läuft Gefahr, sich zu isolieren, und in der einseitigen Konversation mit seinem toten Freund in andere Welten abzugleiten.

Vielleicht bräuchte er eine Art Quarantäne? Er ist jedenfalls froh, für einige Monate nach Berlin reisen zu können. Er hat das Angebot einer Gastprofessur. Aber die Stadt Berlin und nicht zuletzt die Filmfestspiele erinnern immer wieder an seinen toten Freund, den Filmemacher.

Kenzaburo Oe hat einen Roman geschrieben, der dem Leser schmeichelt, da er auf sprachliche und formale Experimente weitgehend verzichtet. Auch die Perspektive ist klar. Ein Erzähler berichtet in der dritten Person über die Helden. Und vergisst nicht, auf jeder zweiten Seite das Wort Schildkäfer zu erwähnen, wie eine Beschwörung, aber auch wie einen neuen Freund.

Da der Rezensent bisher leider noch nicht Japanisch spricht, muss er auf das vertrauen, was die Übersetzerin Nora Bierich bietet. Kenzaburo Oes Sprache wirkt in diesem Roman zuweilen trocken-altmodisch. Das dort erwähnte Max-Planck-Institut ist "namhaft", eine Fernsehanstalt sei "seriös". Das ist ein offiziöser Ton, der im besten Fall Distinguiertheit verbreitet, im schlechtesten wenig über die Dinge sagt, die solche Adjektive näher beschreiben sollen.

Trotz allem: Natürlich weiß Kenzaburo Oe zu erzählen. Dieser Roman enttäuscht nicht. Er hat alle nötigen klassischen Qualitäten. Nur das Detail überzeugt nicht immer. Kaum versteckt ist zudem die Verarbeitung der eigenen Erfahrungen von Kenzaburo Oe während einer Gastprofessur in Berlin, deren Einzelheiten so erzählt werden, wie die Fakten es verlangen. Alles stimmt: der Name der Uni, der einladende Verlag, die Bushaltestelle am Potsdamer Platz.

In dieser Hinsicht ist der Hauptheld, der Schriftsteller Kogito, ein Alter Ego des Autors. Aber warum auch nicht? Wie lange ist immer verlangt worden, dass sich Literatur auf die erfahrbare Wirklichkeit beziehen soll. Wer darauf wert legt, erfährt in Tagame Berlin-Tokyo viel über den Aufenthalt eines japanischen Literaturnobelpreisträgers in der deutschen Hauptstadt. Aber auch über die Sehnsucht nach einem verlorenen Freund.

Kenzaburo Oe: Tagame Berlin-Tokyo
Aus dem Japanischen von Nora Bierich
S.Fischer
320 Seiten, 19,90 Euro