Subversiver Lifestyle als Konsumhaltung

Von Volkhard App |
Mit der Ausstellung "Bali" präsentiert die Kestnergesellschaft Hannover neue Tendenzen in den Arbeiten des Fotokünstlers Wolfgang Tillmans. Mit seinen Werken mahnt der Künstler das Nachdenken über Wahrheit an und zeigt die Verstrickungen des Einzelnen in einer globalisierten Welt.
Rein äußerlich bleibt hier alles buchstäblich "im Rahmen". Einst hatte Tillmans seine Alltagsmotive noch ganz ohne Rahmen direkt an die Wände gepinnt und geklebt – auch als Rebellion gegen die herkömmliche Präsentation von Fotokunst. So bunt und locker gerieten damals seine Arrangements unterschiedlich großer Bilder, dass Eingeweihte noch heute verzückt von "planetarischer Hängung" sprechen.

Doch damit scheint es erst einmal vorbei. Ein Saal wird in Hannover allein von streng gerahmten Großformaten bestimmt und hat dadurch eine fast schon sakrale Ausstrahlung. Geblieben aber ist die für Tillmans typische Vielfalt von Motiven und technischen Verfahren. Zwei Gruppenfotos einer Party wurden per Kopierer grob in Schwarzweiß vergrößert, während das farbig fein nuancierte Porträt des Pop-Art-Veteranen Richard Hamilton als Prototyp für das Bild eines alten Mannes an der Wand hängt. An anderer Stelle der Schau blicken wir auf Tokios Skyline mit dem Fudji im Hintergrund, sehen faltenreiche Kleidungsstücke, bizarre Pflanzen, eine Straße mit kauernden Affen, und das fotografierte Atelier Tillmans mit den vielen Flaschen erzählt derart glaubwürdig von einer durchfeierten Nacht, dass man den Begriff "Stillleben" erst gar nicht verwenden mag. Diese Vielfalt der Genres und die Beiläufigkeit des Dargestellten fallen noch immer auf. Tillmans:

"Das Unmittelbare meiner Fotos ist sicherlich beabsichtigt: einerseits, weil ich den Dingen und Leuten, die ich fotografiere, in der Tat nahe bin. Und andererseits wird die Sprache einer ungekünstelten Fotografie vom Menschen als eine nahe Sprache empfunden. Je weniger offensichtlich inszeniert etwas erscheint, desto glaubwürdiger ist es. So habe ich es jedenfalls empfunden."

Aber er hat in den letzten Jahren auch elegant gebogenes Fotopapier abgelichtet: diese Abbildungen mit ihrem Wechsel aus diffus-bunten und weißen Partien erscheinen als Schritt in die Abstraktion. Die Ungegenständlichkeit erreicht Tillmans vollends, wenn er Bilder ohne Kamera herstellt: die farbigen Flächen mit ihren reizvollen Spuren entstehen beim Durchlaufen der Entwicklungsapparatur. Und doch scheint für ihn die Gegenüberstellung von figürlich und ganz und gar abstrakt nicht so wichtig zu sein:

"Die visuelle Initiation als Kind war die Astronomie. Das war die erste Liebe meines Lebens, da habe ich nächtelang auf der Terrasse gehockt, ins Schwarze geguckt und mir kleine Punkte angeschaut. Und letzten Endes ist das nichts anderes als ein abstraktes Bild. Also, diese Empfindung, dass Abstraktion etwas sehr Gegenständliches ist, hatte ich wirklich von Kindes Beinen an. Und zum Beispiel die Concorde-Arbeit von 1997, wo ich das Überschallflugzeug in 56 Positionen am Himmel fotografiert habe, war für mich in gewisser Weise auch eine abstrakte Arbeit. Mit 56 Farbfeldern und Farbverläufen. Die Faltenwürfe auf umherliegenden Kleidungsstücken oder die Details in T-Shirts, das ist für mich von Abstraktion nie soweit entfernt gewesen."

Mit einer Novität wenigstens für Deutschland kann diese Schau aufwarten - sind doch im größten Saal der Kestnergesellschaft drei Dutzend Tische aufgestellt, auf denen Tillmans eigene Fotos, vor allem aber Zeitungsausschnitte und andere Materialien zu konkreten Themenfeldern angeordnet hat, so dass sein gesellschaftliches und politisches Engagement durchscheint – dann aber wieder so assoziativ wirkt, dass der künstlerische Impetus die didaktische Absicht überspielt. Von Religion und Sexualität handeln diese "Themeninseln", von Krieg und Frieden, vom Islam und der Angst vor Terror im goldenen Westen, von Homosexualität und Aids, von der Natur und vom kosmischen Ganzen. Der Besucher soll sich über diese einfachen Holztische beugen und seinen Geist anregen lassen. "Truth Study Centre", so der Titel der Großinstallation. Um Wahrheitsfindung geht es also und um die Aufklärung der Öffentlichkeit:

"Ich will nicht eine geschlossene Wahrheit vermitteln, sondern den Widerspruch im Betrachter wecken, ihn zum Nachdenken über Wahrheit und Wahrnehmung anregen. Das ‚Truth Study Centre’ verdankt sich meiner Empfindung, dass alle Probleme unserer Zeit in den letzten Jahren von Menschen hervorgerufen wurden, die für sich die absolute Wahrheit reklamieren. Ob das christliche Fundamentalisten in Amerika sind, die die Evolution leugnen, oder die afrikanische Gesundheitsministerin, die behauptet, dass HIV nicht der Grund von Aids ist, oder ob es um Islamisten geht, die alles Mögliche verneinen, oder die Regierung Bush, die die Existenz bestimmter Massenvernichtungswaffen unterstellt. Durch das Sortieren dieser Themengruppen und das Aufzeigen der Widersprüche habe ich eine Form gefunden, auch mit meiner eigenen Not in dieser Situation umzugehen."

"Truth Study Centre" und eine geschickte Auswahl einzelner Fotografien:
"Bali" heißt diese vielschichtige Ausstellung, mitverantwortlich für diesen Titel ist ein güldener Gong, der in Hannover stolz als das erste skulpturale Werk Tillmans offeriert wird. "Bali" aber bedeutet noch sehr viel mehr und zielt auf den gesamten thematischen Horizont dieser Schau:

"Mir ist aufgefallen, dass im Freundeskreis oft von Bali die Rede ist. Das kommt von Leuten, die aufgeklärt sind und politisch korrekt denken. Und sie verknüpfen damit Paradiesvorstellungen und gehen ihnen nach, obwohl es gleichzeitig eine Verstrickung ist: in die Globalisierung, in einen 16-stündigen Flug mit CO2–Ausstoß. Und so steht das Wort als Symbol für die Verstrickung, in der wir alle leben. Wenn ich das Gefühl dieses Jahrzehnts kurz beschreiben müsste, dann eben so: dass wir alle verstrickt sind in diese Situation."

Service: Die Ausstellung "Bali" in der Kestnergesellschaft Hannover ist vom 16. Februar bis zum 6. Mail 2006 zu sehen.