Stuhltransplantation

Wie Ärzte Patienten über die Darmflora heilen

08:40 Minuten
Die Illustration zeigt eine rot-weiße Kapsel
Für eine Stuhltransplantation können Patienten zum Beispiel eine Kapsel schlucken. © imago images / Science Photo Library
Von Carina Fron · 05.09.2019
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Den Stuhl einer gesunden Person in den Darm einer erkrankten übertragen: Eine Methode, die zurzeit nur bei einer bestimmten Durchfallerkrankung eingesetzt wird, könnte auch anderen Patienten helfen - etwa Menschen, die an Depressionen leiden.
"Es erscheint sehr reizvoll", sagt Jeroen Raes, "dass wenn Menschen etwas fehlt und sie Depressionen haben, zu überlegen: Warum geben wir es Ihnen nicht einfach zurück?"
Was diesen Menschen fehlen könnte, das hofft Jeroen Raes ausgerechnet im Darm gefunden zu haben. Er ist Mikrobiologe an der katholischen Universität in Leuven in Belgien. Dazu muss man wissen: Das Gehirn hat durch Nerven, Hormone und das Immunsystem einen Draht zur Darmflora, beide beeinflussen sich wechselseitig.
"Was wir herausgefunden haben ist", erklärt Jeroen Raes, "dass die Darmflora bei Menschen, denen es gut geht, anders aussieht als bei Menschen mit Depressionen oder schlechterer geistiger Gesundheit. Das war sehr überraschend. Hinweise darauf gab es schon in Versuchen mit Mäusen. Aber bisher gab es keine Studie an Menschen."

Besondere Auffälligkeiten bei zwei Darmbakterien

Der Mikrobiologe und seine Kollegen analysierten die Darmflora von 1054 Belgiern, die zusätzlich Auskunft über ihre körperliche und seelische Gesundheit gaben. Und es zeigte sich: Zwei Bakterien im Stuhl der Studienteilnehmer, die unter Depressionen litten, waren besonders auffällig. Das heißt: Bakterien der Gattungen Coprococcus und Dialister waren entweder gar nicht vorhanden oder wenn, dann nur in verminderter Anzahl.
"Wir brauchen einen Beweis, dass die Bakterien wirklich Depressionen beeinflussen", sagt Jeroen Raes. "Wenn man sie nicht hat und man ist depressiv ist, dann ist noch nicht klar, ob man die Bakterien durch die Depression verloren hat oder ob sie überhaupt erst durch den Verlust die Depression entsteht."
Denn ob ein Mensch eine Depression entwickelt, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab.
"Man geht davon aus, dass es biologische Ursachen für Erkrankungen gibt, und dass es psychologische und andere zusätzliche Umweltfaktoren gibt, die psychische Erkrankungen auslösen", sagt Stefan Borgwardt, Professor für Neuropsychiatrie an der Universität Basel und an der Universität Lübeck.

Beeinflusst die Darmflora die Psyche?

Er findet die Idee, dass die Darmflora die Psyche beeinflusst, daher auch interessant: "Meine persönliche Motivation ist: Ich bin Psychiater und ich weiß, dass die Psychiatrie im Gegensatz zu anderen Feldern der Medizin in den letzten Jahrzehnten bezüglich neuer Therapiemethoden nicht wirklich vorangekommen ist."
Zusammen mit seinem Team führt Stefan Borgwardt daher momentan selbst eine der weltweiten ersten Studien durch, bei denen Patientinnen und Patienten neben Antidepressiva auch Stuhltransplantationen verabreicht bekommen - als zusätzliches Mittel gegen Depressionen. Noch steht diese Studie am Anfang. Ähnlich ergeht es anderen Forschern. Sie alle wollen durch Stuhltransplantationen Krankheiten heilen wie Diabetes, Autismus, Schizophrenie, Multipler Sklerose, Parkinson oder Erdnussallergien.
"Im Moment sind sich Experten weltweit einig", sagt Maria Vehreschild, "dass diese Therapie nur angewendet werden sollte bei Patienten, die wiederholt an einer sogenannten Clostridium-difficile-Infektion leiden. Das ist eine Durchfallerkrankung, die durch ein bestimmtes Bakterium ausgelöst wird und die eben die Eigenart hat, dass sie bei manchen Patienten sehr häufig wiederkommt."

Stuhltransplantation als individueller Heilversuch

Maria Vehreschild ist Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Mikrobiomforschung am Uniklinikum Köln. Dort führt sie seit 2014 fäkale Mikrobiota-Transplantationen durch, wie sie die Stuhltransplantationen lieber nennt. Und die sind in Deutschland momentan nur auf zwei Wegen zulässig: Entweder indem man Teilnehmer einer Studie ist oder bei einem sogenannten individuellen Heilversuch.
"Wenn ich einen individuellen Heilversuch mache", erklärt Maria Vehreschild, "dann muss mein Patient in einer Situation sein, in der ich alle zugelassenen Substanzen schon ausgenutzt habe und ich meinen Patienten trotzdem nicht ausreichend helfen konnte."
Genau das ist bei einer Clostridium-difficile-Infektion der Fall. Etwa 2000 bis 3000 schwere Fälle werden davon in Deutschland jährlich gemeldet. Meist infizieren sich die Menschen nach einer Antibiotikabehandlung im Krankenhaus. Ironischerweise wird hier meist mit noch mehr Antibiotika behandelt. Bei rund 25 Prozent der Patienten hilft das allerdings nicht. Eine Stuhltransplantation ist dann das Mittel der Wahl.
"Was passiert, wenn man diese Präparate verabreicht, ist, dass die Claustridien nicht mehr diese Giftstoffe ausschütten und dann diese Entzündung abheilen kann", sagt Maria Vehreschild. "Das heißt, ich beeinflusse indirekt schon den Darm selbst, aber über die Beeinflussung der Bakterien."

Nur 35 Kliniken in Deutschland bieten Behandlung an

Bei einer fäkalen Mikrobiota-Transplantation wird der Stuhl eines Gesunden entweder direkt in den Darm transplantiert oder die Patienten schlucken ihn über eine Kapsel. Derzeit führen 35 Kliniken in Deutschland diese Behandlung durch. Eine Anmeldung ist allerdings freiwillig. Das erschwert eine Kontrolle darüber, welche Ärzte so eine Behandlung anbieten. Zumal im Internet unzählige Anleitungen und Videos kursieren, wie jeder eine Stuhltransplantation auch zu Hause machen kann.
"Das finde ich absolut unerträglich", sagt Paul Enck. "Allein der Gedanke, dass Medizin so betrieben wird." Paul Enck schüttelt nicht nur über die Selbstbehandlungsversuche der Menschen im Internet den Kopf. Der Leiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen ist auch skeptisch, wenn es um die Heilungsversuche seiner Kollegen per Stuhltransplantation geht.
"Was jetzt passiert ist tatsächlich allerdings Hype", sagt er. "Das ist nach dem Motto: 'Jetzt probieren wir es bei allen anderen auch aus.' Und dabei stelle man dann fest: Es funktioniert nicht."
Immerhin wisse man noch so wenig über das Zusammenspiel der Mikroorganismen, so Paul Enck. Zum Beispiel wäre zwar die Behandlung mit einer Stuhltransplantation bei der Clostridium-difficile-Infektion nachweislich bei rund 80 Prozent der Patienten hilfreich. Aber noch wüssten die Forschenden gar nicht genau, was den Erfolg eigentlich ausmacht.

Kritik wegen Infektionsrisiken

"Also ich würde mir heute keinen Stuhl von jemand Fremden in den Hintern blasen lassen, um das mal so ganz salopp zu sagen, wenn ich nicht wüsste, was da drin wäre", sagt Paul Enck.
Bestätigt fühlt er sich in seiner Kritik durch den ersten Todesfall nach einer Stuhltransplantation in den USA: "Weil der entsprechende Mensch immunsupprimiert war und weil im Stuhl natürlich nicht nur Bakterien drin sind, sondern auch Viren und alles möglich, was da sonst noch so wirkt und man nicht kontrolliert, was da eigentlich übertragen wird."
Die zahlreichen Viren, Pilze und anderen Mikroorganismen im Darm sind extrem wichtig für das Immunsystem. Aber sie sind in einem ständigen Wandel.
"Mikrobiota ändert sich relativ schnell", erklärt sagt Paul Enck. "Wenn ich also heute, weil ich Bauchschmerzen kriege, auf die Ballaststoffe verzichte, dann habe ich spätestens in einer Woche eine völlig andere Mikrobiota."

"Es könnte ein Teil der Behandlung sein"

Auch Medikamente beeinflussen die Darmflora. Das macht noch einmal deutlich, warum Jeroen Raes weiter forschen muss. Und warum der Zusammenhang zwischen einer veränderten Darmflora und Depressionen noch nicht abschließend geklärt ist.
Deshalb ist Raes selbst noch vorsichtig mit Versprechungen: "Es könnte ein Teil der Behandlung sein, aber es wird nicht die Wunderbehandlung sein, nach der alle, deren Darmflora wir behandelt haben, plötzlich glücklich in der Gegend rumrennen. Das wird sicher nicht passieren."
Einen kühlen Kopf bewahren - das gilt letztendlich für alle Studien rund um die Behandlung mit Stuhltransplantationen. Denn wichtig ist nicht, wie viele Studien der Hype um dieses Thema hervorbringt, sondern welche Ergebnisse am Ende wirklich wissenschaftlich überprüfbar sind.
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