Stückl: Botschaft Jesu Christi im Mittelpunkt der Passionsspiele

Christian Stückl im Gespräch mit Dieter Kassel · 14.05.2010
Der Festspielleiter der Passionsspiele in Oberammergau, Christian Stückl, will in der diesjährigen Inszenierung die Botschaft Jesu Christi stärker in den Mittelpunkt rücken. Bisher sei die Figur Jesus zu stark auf den Leidenden reduziert worden.
Dieter Kassel: Seit Ende Februar 2009 darf sich kein Darsteller bei den Oberammergauer Passionsspielen mehr rasieren oder die Haare schneiden; seit Monaten wird diskutiert, geredet, manchmal gestritten; im September gab es für einen Teil der Crew eine Fahrt nach Israel zur Vorbereitung; es wurde viel geprobt – und jetzt, jetzt wird sich zeigen, ob sich das alles gelohnt hat, denn jetzt beginnen sie endlich: die 41. Oberammergauer Passionsspiele. Und bevor es losgeht, reden wir mit dem Mann, der sie nun schon zum dritten Mal leitet, mit Christian Stückl. Schönen guten Tag, Herr Stückl!

Christian Stückl: Grüß Gott!

Kassel: Herrscht denn so ein paar Tage vor der Premiere in Oberammergau eher die Ruhe vor dem Sturm oder ist es besonders hektisch?

Stückl: Ja, sagen wir so: Ich selber bin in der größten Anspannung, denn irgendwo hat man jetzt über sechs Monate hin lang versucht, den Darstellern das Laufen beizubringen, und jetzt muss man plötzlich loslassen und muss sagen, jetzt geht los, und dann passieren natürlich noch Fehler und dann wird man nervös und dann sind jetzt viele Journalisten da und ja, irgendwie ist der Trubel gerade groß. Aber es ist auch Vorfreude dabei.

Kassel: Haben Sie das Gefühl, die Erwartungshaltung ist besonders groß, weil Sie natürlich verglichen werden mit dem Jahr 2000, als es nicht zuletzt ja die größten Textveränderungen seit 150 Jahren gab? Haben Sie das Gefühl, die Menschen erwarten jetzt schon wieder eine Revolution?

Stückl: Also, bei uns ist ja das Spannende: Wenn man das ... Ich mache das jetzt zum dritten Mal, ich war 24, wie ich das erste Mal gewählt worden bin, war damals der Jüngste, habe dann versucht, irgendwie das Spiel zu reformieren, habe beim letzten Mal wirklich große Textänderungen – in den Zeitungen stand, die größten Textänderungen –, ... Die Textänderungen sind noch mal größer geworden, ich habe noch mehr gemacht und habe noch mehr verändert und letztlich denke ich aber nicht über diese Spiele von vor zehn Jahren nach und ich lasse mich da nicht in den Druck bringen, sondern denke mir: Es sind zehn Jahre vergangen und jetzt müssen wir ein neues Spiel auf die Bühne stellen und das haben wir jetzt versucht und das wird die Tage auch hoffentlich gut über die Bühne gehen.

Kassel: Sie haben immer wieder erzählt, dass für Sie das Spannendste an dieser Aufgabe in Oberammergau die Auseinandersetzung mit der Figur von Jesus ist und dass Sie immer wieder neue Facetten finden, auf alle möglichen Arten und Weisen, wenn Sie manchmal im Kino sitzen, sicherlich auch manchmal, wenn Sie wahrscheinlich spazieren gehen. In welchem Ausmaß unterscheidet sich denn der Jesus, den wir dieses Jahr sehen werden in Oberammergau von dem, den wir vor zehn Jahren gesehen haben?

Stückl: Ja, sagen wir mal so: Die Tradition der Passionsspiele erzählt eigentlich die Leidensgeschichte Jesu, die letzten Tage vom Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung und die Auferstehung. Also, mir ist es in der Vergangenheit so gegangen, dass ich gesagt habe: Eigentlich wird die Figur Jesus zu sehr auf den Leidenden reduziert und von seinen Ideen, von dem, was er wollte, von seiner Botschaft kommt viel zu wenig rüber. Und deswegen habe ich den gesamten ersten Teil eigentlich umgeschrieben, habe Bergpredigt-Texte hineingenommen, habe gesagt: Letztlich wird er ja für seine Botschaft ans Kreuz genagelt, weil die Botschaft ist für viele unerträglich und eigentlich eine ganz wichtige Botschaft, und deswegen wird er für seine Ideen ans Kreuz genagelt, und deswegen ist das der wichtigste Part für mich. Und deswegen habe ich das hineingenommen diesmal.

Kassel: Es ist logischerweise eine zwei Jahrtausende alte Geschichte – aber es ist trotzdem das, was Sie da auf die Bühne bringen, ein zeitgenössischer Jesus?

Stückl: Wie ich 1990 das erste Mal das gemacht habe, war ich ein junger Mann und wir sind selber zum Demonstrieren nach Wackersdorf gefahren oder so und ich habe in Jesus nur den Revolutionär gesehen. Jetzt habe ich einen wesentlich ruhigeren Jesusdarsteller und bin eigentlich eher fasziniert von der Konsequenz, mit der Jesus für seine Ideen einsteht, mit der er vorwärts geht, wie er versucht, die Menschen irgendwie auf einen anderen Weg zu bringen. Und dadurch verändert sich eigentlich in jedem Jahrzehnt für einen selber die Jesus-Figur noch mal. Das ist ja das Spannende, wir können uns eigentlich letztlich nur auf die Suche nach dieser Figur machen – ein richtiges Bild werden wir nie zeigen. Und irgendwie hat das Bild natürlich auch mit unserer Zeit heute was zu tun, weil ich bin ein Regisseur des Jahres 2010 und nicht ein Historiker, sondern ich bringe natürlich meine Ideen, mein Bild, meine subjektiven Eindrücke mit ins Spiel hinein und deswegen wirkt die Figur natürlich in manchen Momenten auch heutig.

Kassel: Wie viel subjektive Eindrücke dürfen denn die Darsteller mit ins Spiel einbringen? Wenn es da Diskussionen gab – und die gab es ja sicher bei den Proben –, bei denen dann einer sagt, ach, ich sehe den Jesus oder auch eine andere Figur anders – wie stark ist das dann eingeflossen?

Stückl: Wir sind ... Das ganze Passionsspiel wird ja von ausschließlich Laien getragen und die also erst mal, ja, sagen wir mal so, dem Regisseur fast aus der Hand fressen. Für mich war immer ganz wichtig, dass ich gesagt habe: Die Darsteller müssen selber anfangen zu diskutieren, die Darsteller müssen sich selber auseinandersetzen. Deswegen habe ich ja gesagt: Wir fahren, bevor wir mit den Proben beginnen, zehn Tage nach Jerusalem, wir gehen die Wege nach, wir diskutieren, wir reden. Und deswegen ist es mir ganz, ganz wichtig, dass der Jesusdarsteller, der es ja am Ende spielen muss, ganz eigene, subjektive Dinge auch mit ins Spiel hinein nimmt. Bei uns ist ja spannend: Wir haben zwei Jesusdarsteller, der ist doppelt besetzt, und das Los hat entschieden, wer die Premiere spielt, und von daher bringt da auch jeder von den beiden noch mal seine ganz eigene, persönliche Haltung rein. Der eine ist der Schnellere, der Agilere, der andere ist der Ruhigere. Also das ist ganz spannend irgendwie, wenn man da ... Man hat gar nicht das eine Jesus-Bild, sondern eigentlich zwei verschiedene Menschen auf der Bühne.

Kassel: Wenn in Oberammergau jemand, nicht jemand, sondern ein Oberammergauer natürlich, den Jesus spielen darf, das prägt ihn doch fürs Leben, vor allen Dingen in der Gemeinschaft. Konnten Sie sich denn überhaupt völlig frei aussuchen, wer den spielt? Ich meine, das darf ja nicht Hinz und Kunz sein.

Stückl: Ja, es gibt bei uns eine Regel, das heißt, mitspielen beim Passionsspiel darf derjenige, der geboren ist in Oberammergau oder seit 20 Jahren dort lebt. Also, ich kann mir meine Schauspieler nur aus diesem Kreis aussuchen. Da haben sich von 5000 Einwohnern Oberammergaus haben sich 2200 gemeldet, die mitspielen, und aus denen suche ich am Ende, der Regisseur, der Spielleiter sucht die Personen aus. Ich habe da ganz freie Hand, der Gemeinderat hat bei uns theoretisch ein Vetorecht, wenn also irgendeine Figur ihm gar nicht gefällt, dann muss ich umdenken, aber das ist nicht passiert und dadurch habe ich den Pilatus, den Kaiphas, den Jesus, den Judas selbst ausgesucht und denen die Rollen übertragen.

Kassel: Aber Eifersüchteleien gibt es doch schon? Da stehen doch jetzt bestimmt in den Massenszenen auch Leute auf der Bühne, die eigentlich denken: Ich wäre der bessere Jesus gewesen.

Stückl: Das kann schon möglich sein. Es ist aber also ganz nett, es äußert dies keiner. Also, es gibt sicherlich jemanden, der sich denkt, ich hätte es auch gekonnt oder ich hätte es auch gern gemacht, aber das äußert keiner. Da ist es eher so, dass die Schauspieler sagen: Judas würde mir noch mehr gefallen, der hat die heftigeren Szenen, der hat so eine Soloszene, wie die ... Judas Verzweiflung, und dadurch ist so ... Der talentierte Schauspieler möchte manchmal fast lieber den bösen Judas, in Anführungsstrichen, spielen als den braven Jesus. Aber letztlich wird die Auswahl der Darsteller von mir schon akzeptiert.

Kassel: Sie haben, wenn Sie das erzählen, eine unglaubliche Fröhlichkeit und Begeisterung in der Stimme. Da kann ich die Zeitungsartikel, die es ja alle zehn Jahre wieder gibt – die so Oberammergau im Vorfeld als Hexenkessel beschreiben, wo es die bösen Menschen gibt, die Sie ohnehin für den falschen Leiter halten, der die Spiele versaut hat –, kann ich die Zeitungsartikel gar nicht glauben. Wird das ein bisschen hochgespielt manchmal in der Presse?

Stückl: Das wird absolut hochgespielt. Wie ich es 2000 das zweite Mal gemacht habe, bin ich durch Bürgerentscheid gewählt worden, es war also kein Vorgang, dass der Gemeinderat gesagt hat, wer der Spielleiter ist, sondern die Bürger haben das für sich selbst entschieden. Und deswegen ist es schon so, dass ich also, ich würde sagen, 90 Prozent der Bevölkerung hinter mir habe. Und natürlich gibt es ein paar, die dann eifersüchtig sind, weil sie nicht die richtigen Rollen gekriegt haben oder die sagen, ich könnte vielleicht auch den Spielleiterposten selbst bekleiden, und von daher gibt es auch in so einem Dorf Streit. Ich sage mal immer: Solange wir streiten, bleibt unsere Sache lebendig, aber wie es manchmal nach außen wirkt – so stark ist der Streit nicht. Wir machen das alle ... Ich habe selten vorher ein Passionsspiel gehabt, wo also die Mitwirkenden so an einem Strang gezogen haben, das war also eine ziemlich gute Stimmung eigentlich in dem Jahr.

Kassel: In Deutschlandradio Kultur reden wir vor dem Beginn der Oberammergauer Passionsspiele mit Spielleiter Christian Stückl. Herr Stückl, es ist diskutiert worden viel über die Bibel, über die Auslegung. Das ist so in der Vorbereitung, Sie haben es beschrieben. Das Ganze steht ja auch ein bisschen – na ja, mehr als ein bisschen – unter der Beobachtung des Münchner Bischofs, der hat da auch jemanden hingeschickt, der auf die Texte achtet. Kurzum: Das hat auch mit der katholischen Kirche zu tun, und die katholische Kirche in Deutschland ist in einer Krise wegen der Missbrauchsvorwürfe gegen viele Verhaltensweisen. Welche Rolle hat den das zumindest im Vorfeld gespielt bei Ihnen?

Stückl: Im Vorfeld erst mal gar nicht, also, wir haben uns ja vorbereitet auf das ganze Passionsspiel außerhalb der Kirchenkrise. Die kam ja jetzt erst in den letzten Monaten über uns herein, und natürlich liegt Oberammergau neben Kloster Ettal, das ja auch irgendwie ins Augenmerk gekommen ist. Natürlich wurde es bei uns diskutiert, wir waren alle dort auf dem Gymnasium, wir waren dort auf der Schule, viele der jetzigen Mitwirkenden sind da immer noch auf der Schule. Natürlich haben wir alle diskutiert darüber. Auch die vielen Journalisten, die kamen, haben uns immer wieder nach der Kirchenkrise gefragt. Also, letztlich ist man da natürlich nicht frei. Wir haben uns trotzdem aber gesagt: Was hat die Kirchenkrise mit unserem Spiel zu tun? Erst mal gar nichts. Wir versuchen, uns zu konzentrieren auf die Figur Jesus, auf die Geschichte, die wir zu erzählen haben, und wir inszenieren jetzt nicht irgendwie die Kirchenkrise mit ins Stück hinein. Und von daher haben wir zwar viel diskutiert und irgendwie kommen bestimmte Sätze, die Jesus dann sagt, plötzlich auch in einen anderen Fokus – wenn Jesus auch vor dem Tempel sagt, und ihr Priester, ihr seid ... von außen erscheint ihr den Menschen fromm, innen seid ihr aber voller Unrat, dann wird natürlich plötzlich auch diskutiert, ob Jesus, das, was Jesus da zu den jüdischen Priestern sagt, nicht auch auf unsere Priester irgendwie anzuwenden ist. Und die Diskussion war natürlich da.

Kassel: Auch die Wirtschaftskrise scheint ja die Passionsspiele zu betreffen, wenn man sich das anguckt: Es sind noch Karten zu haben, nicht mehr für die Premiere, aber für einige Vorstellungen, sowohl die Arrangements mit Übernachtung und Essen als auch einfach nur Einzelkarten. Hat das ein bisschen den Druck auf Sie erhöht? Denn bei aller Kunst: Die Spiele sind für den Ort Oberammergau natürlich wirtschaftlich enorm wichtig.

Stückl: Ich bin ja auch in München Intendant des Theaters und wenn ich in München 90 Prozent Platzauslastung erreiche, dann bin ich eigentlich ein sehr guter Intendant. Im Augenblick haben wir beim Passionsspiel schon 90 Prozent Platzauslastung. Aus Tradition heraus kommen sehr viele Amerikaner nach Oberammergau, die werden in diesem Jahr etwas weniger kommen aufgrund der Wirtschaftskrise, dafür gibt es aber für den deutschen Markt, sagen wir mal so, gibt es noch Karten und ich glaube, wir werden am Ende trotzdem ganz erfolgreiche Passionsspiele haben, da wir ja jetzt im Augenblick schon wissen: 90 Prozent ist verkauft.

Kassel: Hat denn die zeitliche Verlegung – das ist auch eine kleine Revolution, die Sie in diesem Jahr gewagt haben –, die zeitliche Verlegung, also Beginn nicht mehr vormittags, sondern nachmittags, zweiter Teil geht bis in den späten Abend, hat das in Bezug auf den Kartenverkauf etwas ausgemacht?

Stückl: Ich glaube, von Tokio bis Rio, von New York bis München gehen die Menschen überall abends ins Theater, also, für den Zuschauer ist das eigentlich eher der Normalfall, dass er am Abend ins Theater geht. In Oberammergau war es halt so, dass Ängste da waren der Touristiker, dass dann die Essensausgabe und solche Dinge schwieriger werden, wenn wir in den Abend hineinspielen. Aber wir haben jetzt schon vier öffentliche Proben gehabt in den letzten Tagen und ich glaube, jeder, der am Anfang dagegen war, ist jetzt fast dafür, weil sie alle sehen, dass das also eine ganz andere Wirkung auf der Bühne hat, dass das Licht ganz anders fokussiert. Und letztlich kommen die Zuschauer aus dem Spiel raus und sagen, das Nachtspiel ist toll, und dann ändert sich die Meinung sofort wieder.

Kassel: So wie seit fast 400 Jahren und doch auch wieder völlig anders werden sie sein, die Oberammergauer Passionsspiele, die morgen beginnen. Gespielt wird bis zum 3. Oktober und wie erwähnt, des einen Freud ist des anderen Leid: Es gibt für etliche Vorstellungen noch Karten, gucken Sie sich das einfach im Internet an. Ich danke dem Festspielleiter Christian Stückl für das Gespräch, Herr Stückl, und wünsche Ihnen höchst erfolgreiche und angenehme Festspiele!

Stückl: Vielen Dank!
Andreas Richter als Jesus, Mitte, spielt in der Szene "Einzug in Jerusalem" während einer Fotoprobe der Passionsspiele 2010 im Theater in Oberammergau.
Andreas Richter als Jesus, Mitte, spielt in der Szene "Einzug in Jerusalem" während einer Fotoprobe der Passionsspiele 2010 im Theater in Oberammergau.© AP