Studio Hamburg-Produktionschef über Dreharbeiten

Gleichung mit vielen Unbekannten

10:29 Minuten
28.04.2020, Thüringen, Hohenfelden: Autos stehen beim Testlauf vor der großen Leinwand am Stausee Hohenfelden, bevor ab dem 29.4.2020 hier vorerst jeden Abend ein Film im 150 PKW fassenden Autokino gezeigt wird. In Thüringen sind Autokinos wieder erlaubt, da im eigenen Wagen die Regeln für die soziale Distanz mit Sicherheit eingehalten werden können.
Auch wenn das Filmegucken im gemütlichen Kinosessel mit Popcorn vielleicht noch nicht so bald wieder möglich ist - neuen Stoff brauchen wir allemal. Aber wie können eigentlich die Dreharbeiten funktionieren? © dpa / Michael Reichel
Michael Lehmann im Gespräch mit Susanne Burg · 02.05.2020
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Trotz Corona sollen viele Dreharbeiten fortgeführt werden. Dafür müssen Skripts umgeschrieben und hohe Sicherheitsstandards eingehalten werden. Produktionen werden zur teuren Wackelpartie. Doch die Projekte aufzugeben wäre finanziell desaströs.
Susanne Burg: Immer wieder weisen die führenden Virologen des Landes darauf hin: Wir befinden uns nicht am Ende einer Pandemie, sondern am Anfang. Es ist keine Kurzstrecke, sondern eher ein Marathon. Auch für die Filmwelt bedeutet das: Wie kann die Industrie diesen Marathon durchhalten? Wie und in welcher Form ist arbeiten möglich? Wie und in welcher Form sind auch Filmdrehs möglich? Es gibt Pläne für Filmdrehs – wie die aussehen, das bespreche ich mit Michael Lehmann. Er ist Produktionschef bei Studio Hamburg oder genauer: Vorsitzender Geschäftsführer der Studio-Hamburg-Production-Gruppe. Guten Tag, Herr Lehmann!
Michael Lehmann: Ja, guten Tag!
Burg: Seit Kurzem gibt es in Deutschland wieder Lockerungen, unter anderem hat der Einzelhandel wieder aufgemacht, aber noch weiß natürlich keiner so recht, ob das gut geht, ob die Infektionszahlen um die magische Reproduktionszahl 1 bleiben oder doch wieder steigen. Sie planen im Mai Dreharbeiten, zum Beispiel zu "Notruf Hafenkante" und "Praxis mit Meerblick", einer ZDF-Produktion, die wegen Corona verschoben werden musste. Warum, wie kam es zu dieser Entscheidung?
Lehmann: Ja, das Warum ist sicherlich erst mal das Wichtigste. Für uns ist es natürlich unsere Arbeit, für alle anderen Menschen ist es die schönste Nebensache der Welt: Film. In diesem Zwiespalt befinden sich viele meiner Kollegen und ich mich auch insbesondere, weil man aus dem Nichts heraus vor einer Herausforderung steht, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung auf der einen Seite zu haben – wir arbeiten ja mit vielen Projekten, haben viele Filmproduktionen oder auch Shows und Dokumentationen. Auf der anderen Seite eben halt auch zu sehen, dass hinter jedem dieser Projekte viele Arbeitnehmer stehen, viele Arbeitsplätze stehen, viele Familien dahinter stehen und es natürlich für viele auch ihr Auskommen ist.
Wir sind ja eine Branche von vielen freien Mitarbeitern – es drängen ganz, ganz viele Freie und fragen, wann können wir wieder drehen. Es ist natürlich auch so, dass viele von denen nicht so abgesichert sind, wie wir es vielleicht landläufig von fest angestellten Mitarbeitern kennen, und dementsprechend natürlich da der Druck, insbesondere auch wieder arbeiten zu wollen, doch besonders hoch ist. Also gesamtgesellschaftlich – ich glaube, wir haben über kein Thema so viel diskutiert wie über Corona. Dementsprechend können wir jetzt nur den Teams neue Angebote machen, unter welchen Bedingungen wir drehen können, und jetzt kann jeder für sich selber entscheiden, ob er drehen möchte oder nicht drehen möchte.

Dreharbeiten mit Sicherheitsschleusen

Burg: Das, kann ich mir vorstellen, war eine komplizierte und komplexe Angelegenheit, diese Rahmenbedingungen zu schaffen – ein Filmteam besteht ja aus vielen Menschen. Welche Gedanken sind eingeflossen, um die Hygieneregeln, den Sicherheitsabstand et cetera zu gewährleisten?
Lehmann: Wir haben jetzt für unser Haus für die unterschiedlichsten Produktionen einen Maßnahmenkatalog entwickelt. Und das fängt natürlich an, dass wir die ganz normalen Hygienebedingungen, die wir jetzt alle kennen, versuchen umzusetzen. Wir wollen den Drehtag so gestalten, dass wir Schleusen haben, dass wir die Kontaktflächen der Menschen, die miteinander arbeiten, reduzieren, sprich das Beleuchterteam mit dem Kamerateam, die Maske untereinander, die Garderobe untereinander. Dann stellen sich natürlich solche Fragen: Wie können wir denn überhaupt für eine Maskenbildnerin Sicherheit herbeiführen? Mittlerweile diskutieren wir da den Friseur-Paragrafen, den es ja mittlerweile gibt, wie Friseurbetriebe wieder aufmachen.
Kommen wir hin zu den Schauspielern, das ist ja die schwierigste Situation, weil da ist ja Kontakt eigentlich nicht zu vermeiden. Da steht für uns zuallererst erst mal im Vordergrund, dass wir sagen, testen, testen, testen. Das ist unsere einzige Möglichkeit, wenn wir in die Situation kommen können, Sicherheit zu schaffen. Sprich: Ein Team startet, und wenn ein Team startet, würden wir das gerne einmal testen lassen, sodass wir überhaupt erst mal feststellen können, sind wir mit einem gesunden Team unterwegs. Dann für die Schauspieler eine große Sicherheit zu schaffen, dass sie in den Szenen, in denen sie eng spielen müssten oder müssen, dass wir diese Szenen dann auch einem starken Sicherheitsfaktor auch anbieten können. Ja, und dann fangen wir an, die Drehbücher umzuschreiben. Wir verlegen Szenen nach draußen, wir versuchen, die Drehbücher wirklich erst mal auf Abstand zu schreiben, sodass wir vielleicht Kernszenen für uns noch mal herausfinden können, verifizieren können, für die Tage wir dann testen müssen unsere Schauspieler.
Jedes unserer Projekte hat auch eine Besonderheit: Wir haben jetzt zum Beispiel eine Reihe auf Rügen, da haben wir gesagt, okay, wir schicken ein getestetes Team nach Rügen, wir wissen, dass dort ja eigentlich die Fallzahlen sehr gering sind, und sagen, dass wir in eine Drehquarantäne uns begeben. Für uns ist es so, wenn wir einen Dreh gewährleisten wollen, dann müssen wir diese Angebote an die Menschen machen, aber wir müssen auch eine relative Sicherheit bekommen, weil wir haben nichts davon, einen teuren Dreh in der Mitte abzubrechen. Ich kann Ihnen sagen, wir haben drei Serien und vier Fernsehspiele abgebrochen, im Dreh abgebrochen, und wir haben zusätzlich fünf Fernsehspiele, die wir im April drehen wollten, die haben wir auch noch verschoben. Das ist ein Umsatzvolumen von 20 Millionen, die wir alleine in diesem Frühjahr abbrechen oder verschieben mussten, und das hält man auch als große Firma nur bedingt durch.

Dreharbeiten in Tschechien? Unmöglich

Burg: Wie können Sie denn jetzt, wenn Sie in den Dreh gehen, einigermaßen dieses finanzielle Risiko minimieren? Sie haben ja schon gesagt, die Testung et cetera, aber man kann ja trotzdem nicht gewährleisten, dass es keinen Corona-Fall am Set gibt. Gerade wenn Sie Serien drehen, so was wie chronologisches Drehen oder so, ist das mit in die Überlegungen eingeflossen?
Lehmann: Ja, auf Rügen, um bei dem Beispiel zu bleiben, wollten wir zweimal 90 Minuten drehen. Dies dreht man normalerweise nicht chronologisch, sondern durcheinander, um eine gewisse Wirtschaftlichkeit auch dahinter zu finden. Das heißt, die beiden Bücher werden je nach Drehorten quasi kombiniert, und die Schauspieler spielen Szenen aus zwei verschiedenen Büchern. Dies ist natürlich nicht mehr möglich, weil wenn wir dann eine Situation hätten, dass wir wieder abbrechen müssten, dann würden wir ja vor einem wirtschaftlichen Schaden stehen von zwei Projekten. Also haben wir gesagt, nein, wir drehen diese Projekte hintereinander. Das ist dann ein kostenverstärkender Faktor, aber gleichzeitig ein risikominimierender Faktor. Wenn wir weiterdrehen wollen, dann müssen wir eben risikominimierende Faktoren in unser Arbeitsumfeld einbauen.
Burg: Das Projekt auf Rügen, "Praxis mit Meerblick", das ist ja nun auch ein besonderer Fall mit Mecklenburg-Vorpommern, die ja nun auch mit Einreisen von Menschen, die nicht ihren ersten Wohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern haben, sehr streng sind. Wie mussten Sie um bestimmte Regelungen auch noch drumherum planen, was Drehs angeht? Verschiedene Bundesländer haben unterschiedliche Regelungen, wo gedreht werden darf – in Bayern durfte bis Mitte April nicht auf öffentlichem Gelände gedreht werden, in Berlin schon. Inwiefern mussten Sie solche Regelungen berücksichtigen?
Lehmann: Ja, und um das noch zu erweitern, wir haben ab August einen großen Eventfilm, den wir drehen wollen. Den wollten wir zum Teil in Tschechien drehen, und das können wir uns heute auch gar nicht vorstellen, dass wir in Tschechien drehen werden.
Burg: Genau, denn die Ländergrenzen sind auch zu.
Lehmann: Und im Kleinen ist es so, ja, wir kämpfen um jede einzelne Drehgenehmigung. Grundsätzlich müssen wir ja jegliche unserer Drehs genehmigen lassen, besonders wenn sie auf öffentlichem Grund sind, und dementsprechend haben wir jedes Mal die Situation, dass wir das diskutieren. Natürlich werden jedes Mal alle unsere Maßnahmen, die wir haben – Fieber messen, testen – durchdiskutiert, und natürlich hoffen wir, dass die Erkenntnisse, die sich aus der Heinsberg-Studie ergeben und so weiter, dass diese sich gesamtgesellschaftlich natürlich dann auch irgendwann durchsetzen werden, sodass wir genauer wissen, wie sind denn jetzt eigentlich die Übertragungswege. Sind sie so, wie wir es gedacht haben, sind sie vielleicht ein bisschen differenzierter, wie wird sich das auf unser Arbeitsleben in der Zukunft auswirken?

Netflix als Ausspielort

Burg: Sie sind auch Produzent von "Berlin, Berlin", der Film, das war eigentlich eine Kinoproduktion, nun läuft er ab nächster Woche bei Netflix. Constantin-Chef Martin Moszkowicz hat noch vor ein paar Wochen hier bei uns in der Sendung gesagt, Streaming-Auswertung alleine rechne sich nicht, Kino sei diesbezüglich essenziell. Warum nun doch Netflix? Nach dem Motto, lieber den Spatz in der Hand?
Lehmann: Nein, das muss man noch mal ein bisschen differenzierter sehen, auch das wiederum für jeden Film differenziert sehen. Da ja Constantin unser Verleiher ist und Martin Moszkowicz da mein Partner ist, kann ich das auch sozusagen für uns beide dort jetzt erklären. Er hat es eigentlich grundsätzlich richtig gesagt, und ich glaube, er wollte damit grundsätzlich auch zum Ausdruck bringen, wie sehr wir zum Kino stehen, gleichwohl, jedes einzelne Projekt hat dort noch mal seine Besonderheiten. In dem Fall gibt es ja auch dazu eine Serie, und Netflix konnte die Serie wie den Film erwerben und war dementsprechend auch bereit, unsere Bedürfnisse sehr im Fokus zu haben, und dementsprechend ist es hier in keinster Weise ein Spatz in der Hand.
Man darf ja auch nicht übersehen, wenn Sie sagen, Martin Moszkowicz hat es vor ein paar Wochen in der Sendung gesagt, dann sage ich, ein paar Wochen später ist der wirtschaftliche Druck auch für uns alle noch mal viel größer geworden. Also, das war für uns wirtschaftlich sehr notwendig gewesen, den Film dann über Netflix auszuwerten, und ich bin sehr dankbar, dass die Förderer dies für sich auch erkannt haben und uns dort unterstützt haben, genauso wie unsere Partner von der Degeto, dass alle da mitgegangen sind. Ansonsten wäre dieser Film irgendwann mal im Herbst rausgekommen.
Das gesamte Geld für die P&A (Prints und Advertising) , für das Marketing, war schon ausgegeben. Ein zweites Mal das auszugeben, ist wirtschaftlich nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Dann wäre dieser Film klein herausgebracht worden, noch mal im Kino irgendwann mal in Konkurrenz mit sehr viel US-Ware, wäre zwei Wochen im Kino geblieben und wäre dann einfach untergegangen. Das wünscht man keinem Film. Und was es bedeutet, einen Tag, ein paar Stunden vor der Premiere zu erfahren, dass die Premiere abgesagt wird, und dann zwei, drei Stunden später zu erfahren, dass der gesamte Film nicht mehr ins Kino kommt, das kann man sich im Produzentenherz gar nicht vorstellen, was das bedeutet.
Burg: Denn das war genau das Wochenende, als dann beschlossen wurde, auch die Kinos zuzumachen. Die Menschen waren quasi schon in ihrer Galakleidung, um zur Premiere zu gehen.
Lehmann: Genau, so war es, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.