Studie der Otto-Brenner-Stiftung

Die große Sehnsucht nach dem starken Mann

06:35 Minuten
Jugendliche während einer Führung auf der Fraktionsebene im Reichstag Berlin, aufgenommen 2012
Die Politikverdrossenheit der Nachwendekinder ist laut Studie der Otto-Brenner-Stiftung groß. © imago/photothek
Wolfgang Merkel im Gespräch mit Ute Welty · 05.03.2019
Audio herunterladen
Laut einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung ist die Politikverdrossenheit unverändert hoch. 26 Prozent der Nachwendekinder im Osten und fast ebenso viele im Westen finden, dass es "einen starken Führer" geben sollte. Was sagt das über unser Land?
Ute Welty: Wenn ab heute der chinesische Volkskongress zusammenkommt, dann erleben wir auf der einen Seite eine Inszenierung von Demokratie, die ihren Namen nicht wirklich verdient. Auf der anderen Seite konstatieren wir einen Niedergang der Demokratie. Laut einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung ist die Politikverdrossenheit unverändert hoch: 60 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass sie keinen Einfluss auf Politik haben, und ungefähr ein Viertel hofft auf einen "starken Führer". Warum das so ist, dazu jetzt Fragen an Wolfgang Merkel. Er leitet die Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Wie sehr sorgen Sie sich um diese Zahlen, die die Otto-Brenner-Stiftung jetzt veröffentlicht hat?

Warnung vor Alarmismus

Merkel: Das sind sicherlich keine sehr schönen Zahlen, allerdings warne ich vor einem Alarmismus. Ich warne deshalb davor, weil wir gegenwärtig - oder sagen wir die letzten fünf Jahre - eine Flut von Veröffentlichungen und Büchern sehen, die nichts weiter als den Abstieg, den Niedergang, die Krise und möglicherweise sogar schiefe Vergleiche zur Weimarer Republik ziehen.
Das ist nicht gerechtfertigt. Wenn ich aber ein Wort dazu sagen darf, was diese Studie von der Otto-Brenner-Stiftung ausdrückt: Das ist kein Novum, das ist nichts Neues, dass die Bevölkerung in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, in ganz Europa, eine gewisse Geringschätzung für parlamentarische Prozesse hat, und ein Viertel, wie wir hören, auch eine Präferenz für einen starken Führer – meist ist es ja ein Führer und keine Führerin – haben.
Aber noch einmal: Wir haben heute eine Demokratie, die deutlich besser dasteht, als wir das in den 60er- oder 70er- und auch den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten.

Komplexe, ungleichzeitige Entwicklungen

Welty: Das heißt, wir haben es möglicherweise gar nicht mit einer Entwicklung zu tun, sondern mit einem Bodensatz von Unbelehrbaren?
Merkel: Die Entwicklung ist nicht so eindeutig. Wir müssen bei Entwicklungen, wenn es so um komplexe Systeme wie die Demokratie geht, einfach wahrnehmen, dass es unterschiedliche, ungleichzeitige Entwicklungen gibt. Also wenn Sie sich etwa anschauen die Rolle der Frauen, die Rolle von Minderheiten, die Rolle und Stellung von Homosexuellen in unserer Gesellschaft, da sind wir heute Lichtjahre davon entfernt, was sich in der Bonner Republik der 60er- und 70er-Jahre abgespielt hat.
Wenn wir aber darauf verweisen, dass wir heute eine höhere Ungleichheit haben, dass das untere Drittel unserer Gesellschaft wegbricht, nicht mehr teilnimmt und bestenfalls noch advokatorisch von der Linken oder einen anderen Partei vertreten wird, dann sind das ernst zu nehmende Entwicklungen. Die Globalisierung spielt hier eine ganz große Rolle. Es spielt eine Rolle, dass die Starken, die Regierungen, nicht mehr so die wirtschaftliche und soziale Entwicklung steuern können, wie das in den 60er- und 70er-Jahren der Fall war. Die Demokratie ist heute durchaus besser, ist aber sehr fragil geworden.

Politische Eliten abseits der Gesellschaft

Welty: Wenn Sie das so beschreiben, wer ist dann erstens dafür verantwortlich und wer kann zweitens etwas dagegensetzen?
Merkel: Man kann das natürlich und nicht völlig zu Unrecht auf die politischen Eliten schieben, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Den politischen Eliten ist tatsächlich anzurechnen, dass sie ihre eigenen Debatten, ihre eigenen Diskurse, ihre eigenen Begriffe pflegen und damit sich von der unteren Hälfte der Gesellschaft im Verständnis wegbewegen.
Die Gesellschaft findet sich nicht mehr in diesen Debatten wieder. Das haben wir in den USA gesehen, das war der große Erfolg von Donald Trump, dass er diese Menschen angesprochen hat, die sich nicht vertreten fühlen, also sie haben keine Stimme gehabt.
Hier müssen die politischen Eliten, aber auch die Parteien mit unterscheidbaren Programmen auf die Gesellschaft stärker zugehen. Damit sind wir schon bei Gegenstrategien, aber wir sollten nicht glauben, dass wir alles nur mit ganz klugen Strategien hinbekommen.
Wir haben einfach einen Teil der Gesellschaft, den wir mit unserer Bildung völlig unzureichend erreichen, und wir wissen, Bildung ist der stärkste Indikator, an dem wir messen können, ob jemand an der Politik teilnimmt, teilnehmen will, sich informiert oder nicht.

"Demokratie braucht Zeit"

Welty: Was ist das große Missverständnis, wenn es darum geht, dieser eine Mann – in Klammern, vielleicht auch dann irgendwann mal diese eine Frau oder eben auch nicht – könne alles regeln?
Merkel: Das ist eine Illusion nach der Einfachheit von Politik. Große Teile der Bevölkerung nehmen wahr, dass es einen Streit in der Politik gibt – den muss es geben –, aber dass es auch Zeit braucht. Wenn wir uns erinnern, in der großen Finanzkrise und dann später in der Eurokrise, hat das Parlament sehr viel länger Zeit gebraucht, um die Schutzschirme zu beschließen, die man aufspannen wollte, um Griechenland, Spanien und Portugal aus der Malaise herauszubringen.
Es gibt ein, man kann fast sagen, Imperium der Geschwindigkeit in der wirtschaftlichen Entwicklung, die von der Politik nicht eingeholt werden kann, nie eingeholt werden kann, unter keinen Umständen. Demokratie braucht Zeit. In einem Zeitalter der Ungeduld und der schnellen Lösungen gibt es zusätzlich zu der Faszination der Stärke eines politischen Führers natürlich auch jene Nahrung, die eine solche Einstellung fördert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema