Stubenhocker durch Corona

Genug gewohnt!

Illustration: Eine Familie sitzt auf einem Sofa und schaut auf einen Fernsehbildschirm, auf dem ein Wal zu sehen ist.
Warum überhaupt noch rausgehen?! Der Lockdown hat uns zu Couchpotatoes gemacht, findet die Autorin Heike-Melba Fendel. © imago images / fStop Images / MaltexMueller
Gedanken von Heike-Melba Fendel |
Wir sind, seit uns die Pandemie von der Straße geholt hat, Wohnende, Stubenhocker und Nestbauer geworden. Das hat sich soweit verselbstständigt, dass die Welt draußen ihren Glanz verloren hat, klagt die Publizistin Heike-Melba Fendel.
In einem Supermarkt in der Kölner Innenstadt lernte ich als Studentin eine ältere Dame kennen. Sie erklärte mir, dass sie immer ganz zuletzt an die Obst- und Gemüsetheke gehe, obschon sich diese am Eingang befand. „Ist genau falsch herum“, sagte sie kopfschüttelnd. „Matscht doch alles weg, wenn man die schweren Sachen obendrauf packt.“
Fortan plauderten wir stets bei unserem gelegentlichen Aufeinandertreffen. Am Ende unserer kurzen Gespräche nahm sie ihre Einkaufstasche vom Boden, winkte kurz mit der freien Hand und sagte: „Ich gehe dann mal wohnen.“

Leben auf wenigen Quadratmetern

Sie wohnte also nicht, wie ich und alle, die ich kannte, irgendwo, um von dort aus loszugehen und dann etwas zu tun und zu erleben. Weil sie offenkundig nichts mehr zu tun und zu erleben hatte. Was ich nicht verstand, war, was dieses Wohnen denn für eine Tätigkeit sein sollte.
„Och“, sagte sie auf meine Nachfrage. „Ich habe immer etwas zu tun: Kochen, sauber machen, die Geranien auf meinem Balkon versorgen und die Prospekte aus dem Briefkasten studieren, und dann gibt es ja auch immer was im Fernsehen.“
So ist das, wenn man alt wird, dachte ich traurig. Das Leben zieht sich auf wenige Quadratmeter zusammen – wie das einer Hausfrau, nur mit weniger zu tun. Weniger zu putzen, weniger zu kochen und weniger zu schimpfen: Über den Mann, der nie im Haushalt mithilft, wenn er denn überhaupt mal da ist, und die Kinder, die auch nix beitragen, außer alles schmutzig zu machen.

Raus aus der Vorstadt, rein ins Leben

Wir schmutzenden Kinder haben uns rasch verzogen, sobald wir 18 waren. Wir besetzten Häuser, gründeten Wohngemeinschaften oder nahmen uns irgendwo ein Zimmer mit Klo auf der halben Treppe. Hauptsache raus aus der Vorstadt, runter vom Sofa und rein ins Leben. Das natürlich top-gestyled, mit Klamotten aus Kiloläden und Frisuren voll Haarspray. Ob unsere Wohnungen gut aussahen, war vollkommen egal, solange wir es taten.
Jung sein hieß, Wege ausprobieren, Städte erobern, Körper in immer neue Räume stellen und gucken, was passiert. Alles Dinge also, die wir seit Pandemiebeginn nicht oder kaum noch tun können. Die Jungen nicht und wir, die wir uns als jung geblieben erachten, auch nicht.

Gefangen im Rentner- oder Hausfrauenleben

Seit knapp zwei Jahren sind wir alle weitgehend dazu verdammt, Wohnende zu sein. Gefangen in dem minimalen Handlungsspielraum eines Rentner- und Hausfrauenlebens zwischen Supermarkt, Briefkasten und den eigenen oder doch meist gemieteten vier Wänden. Nicht wenige zusätzlich belastet und überlastet von all jenem, das durch Homeschooling und Homeoffice hinzugekommen ist.  
Auch das Prinzip Wohnen ist längst überlastet. Es wurde inzwischen auch kollektiv zur Tätigkeit umgeschrieben. Man muss das Haus nicht mehr verlassen, ja, man will es gar nicht mehr. Wurden Spaziergänge rasch als triste Pandemieroutine und lustloses Herumtrotten auf abgelatschten Wegen geschmäht, so wurde und wird der deutlich begrenztere Wohnraum jedweder Protzstufe unermüdlich gewienert, gestaltet und zur Schau gestellt.

Vom Wohneigentum zum Fetisch Betongold

Ausdruck eines pandemischen Stockholm-Syndroms – wenn ich schon nicht raus darf, finde ich es eben zu Hause geil – ist all dies jedoch eher nicht. Der Modebegriff „Cocooning“ beschrieb bereits in den 1980er-Jahren den Rückzug junger Menschen in eine couchselige Zweisamkeit. Es folgte der unaufhaltsame, nicht allein wirtschaftlich begründete Aufstieg vom Wohneigentum zum Fetisch Betongold.
Ob gekauft oder gemietet – gemütlich muss es sein. Das Prinzip Staubfänger feiert in Form von Gummibäumen, Kissenburgen und Nippes aller Art seine Wiederauferstehung aus den 1950er-Jahren. Und, ganz wie damals, trägt man Schürze zu all den Koch- und Backorgien.
Derweil hat die Welt vor den geputzten Fenstern jeden Glanz verloren. Flanieren so öde, Kino so mühsam, Treffen so unnötig – die Parkbank heißt jetzt Facetime. Darüber sind wir als Stubenhocker selbst zum Möbel geworden. Unsere Welt ist Wohnung und WLAN und ab und zu mal raus, eine rauchen. Rausgehen, nur um wieder in die Wohnung zu kommen, ist jedoch genau falschrum angeordnet, wie die freundliche Rentnerin sagen würde. Wir Drinnies vermatschen unsere Jugend und alles, was von ihr geblieben ist, unter dem Kronleuchter. Wir sind wohnen gegangen.

Heike-Melba Fendel ist Künstler-/PR-Agentin und Inhaberin der Agentur Barbarella Entertainment. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und Buchautorin. Fendel gehört zum Autorinnenkollektiv der Kolumne „10 nach 8 – politisch, poetisch, polemisch“ auf zeit.de. 2009 erschien ihr aus 99 Geschichten bestehender Roman „nur die“ bei Hoffmann und Campe. Ihr zweiter Roman „Zehn Tage im Februar“ (2017) spielt vor dem Hintergrund der Berlinale.

Die Autorin Heike Melba-Fendel
© Markus Nass
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