Stuart: "England und Polen als Sündenbock hinzustellen ist nicht fair"
Zwei Tage vor dem EU-Gipfel hat die englische Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die auch Mitglied im Präsidium des EU-Konvents war, davor gewarnt, England und Polen zum Sündenbock zu erklären. Das sei nicht fair, sagt Stuart. Auch andere Länder seien bei bestimmten Fragen nicht bereit, im europäischen Sinn zu verhandeln.
Leonie March: Beim EU-Gipfel in Brüssel will Angela Merkel die Weichen für Wege aus der europäischen Verfassungskrise stellen. Doch bislang sieht es so aus, als bleibe der Vertrag auf dem Abstellgleis. Zu unterschiedlich sind die Positionen, zu unvereinbar die Forderungen. Polen droht im Streit um den Abstimmungsmodus mit einem Veto. Großbritannien will die Grundrechte-Charta ausklammern. Bislang bildet sie Teil II des Vertrages und soll mit ihm rechtskräftig werden. – Am Telefon begrüße ich nun die Labour-Abgeordnete im britischen Parlament Gisela Stuart. Guten Morgen Frau Stuart! – Für viele Mitgliedsstaaten spiegelt die Grundrechte-Charta ja wieder, was das geeinte Europa erreicht hat. Wehrt sich London trotzdem zu Recht gegen die Aufnahme in den Verfassungsvertrag?
Gisela Stuart: Ich glaube, was London und was auch andere Länder, wenn sie ehrlicher wären, stört ist, dass zum Beispiel diese ganzen Verhandlungen über die Grundrechte-Charta ursprünglich, als es anfing, als leitmaßgeblich betrachtet wurden. Es hieß, die haben keine rechtliche Natur. Nach mehreren Jahren wird diesem ganzen Text nun eine gesetzliche Fähigkeit gegeben. Das sind Sachen, wo Politiker in vielen Ländern sagen, das sollten eigentlich Entscheidungen auf nationaler Ebene sein und nicht auf europäischer Ebene. Und wissen Sie, es ist nicht so lange her, wo Roman Herzog sogar in Deutschland sagte, dass etwa 80 Prozent der Gesetzesvorschläge jetzt in Brüssel verhandelt werden und nicht mehr auf nationaler Ebene, und sogar jemand wie Roman Herzog meinte, dass dies ein Problem wäre, weil Deutschland ja noch eine parlamentarische Demokratie wäre. Es sind solche Bedeutungen, vor denen wir Bedenken haben.
March: Aber wozu, Frau Stuart, hat man dann diese europäische Grundrechte-Charta überhaupt ausgearbeitet, wenn das nur warme Worte sind, die nicht rechtskräftig werden sollen?
Stuart: Die ersten Verhandlungen sagten, das sind nicht rechtskräftige Verhandlungen, das sind Ambitionen, das sind Vorstellungen, die wir haben, und das ist unser Ziel. Das wird aber nicht zum buchstäblichen rechtskräftigen Text.
March: Das heißt, es soll in der Verfassung nicht einmal einen Querverweis geben aus Londoner Sicht?
Stuart: Das auf jeden Fall. Das war nämlich nicht die Basis der ursprünglichen Verhandlungen und das ist das Problem. Das ist nämlich auch das Problem mit diesem ganzen Verfassungsvorschlag, dass wir den Bürger in diese Verhandlungen nicht mit einbeziehen, dass das nur eine politische Elite macht. Das ist auch etwas, wo London und auch andere Länder ein Problem haben.
March: Sie selbst, Frau Stuart, gehörten dem Präsidium des Verfassungskonvents an, haben die EU-Verfassung also mit ausgehandelt. Warum können Sie diesem Text heute nicht mehr zustimmen?
Stuart: Es waren eben die letzten Tage um die Verfassung, wo eine kleine Gruppe von Politikern Entscheidungen trifft, ohne den Bürger einzuschließen. Warum ist als Gegenstück zum Beispiel Deutschland nicht bereit, eine Volksbefragung über diesen Verfassungsvertrag abzuhalten? Keiner von den deutschen Politikern ist bereit, das in Erwägung zu ziehen.
March: Aber wenn London keine Kompetenzen an Brüssel abgeben will, wenn alle Länder auf etliche Ausnahmeregelungen pochen, was bleibt dann noch vom Bekenntnis zum gemeinsamen Europa?
Stuart: Vom gemeinsamen Europa bleibt erheblich viel und wir müssen uns auf die Gebiete konzentrieren, wo wir nur Lösungen auf europäischer Ebene finden können, auch auf europäischer Ebene zu arbeiten. Wenn es zum Beispiel um den ganzen Umweltschutz geht, wenn es zum Beispiel um den freien Handel geht und die Verhandlungen mit anderen Ländern, die Wettbewerbsfähigkeit auf ganz vielen Ebenen, dann sind auch Länder wie Deutschland oft nicht bereit, sich im europäischen Sinne zu verhalten. Ich glaube, England und auch Polen dort als Sündenbock hinzustellen, ist nicht immer fair.
March: Und eine gemeinsame Außenpolitik gehört nicht dazu, was auf europäischer Ebene verhandelt und geeinigt werden muss?
Stuart: Wenn große Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien wirklich bereit wären, politisch eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Stellung zu haben, dann könnte man das auf europäischer Ebene machen, ob wir jetzt einen sogenannten europäischen Außenminister haben oder nicht. Das Problem ist nicht die Institution auf europäischer Ebene; das Problem ist, dass die verschiedenen großen Länder immer noch ihre eigenen außenpolitischen Prioritäten verhandeln wollen. Und da muss ich sagen, es ist wieder nicht Großbritannien, der der Außenseiter ist. Andere Länder machen das genauso. Wenn Sie mal auf die Verteidigungspolitik hinschauen: die ganz großen Fortschritte wurden ständig gemacht mit Frankreich und Großbritannien außerhalb des Rahmens der europäischen Institutionen, wenn die gemeinsamen Interessen da waren. Das ist doch im Augenblick das Problem, dass wir eine Europäische Union mit 27 Ländern haben und dass es ganz einfach schwieriger wird zu verhandeln. Es ist aber nicht die Abwesenheit der Verfassung daran Schuld. Was daran Schuld ist und was meiner Meinung nach aber auch schön ist, dass wir 27 Länder haben, die alle ihre Interessen haben, und wir müssen dann gemeinsam verhandeln.
March: Aber ist es vor diesem Hintergrund all dessen, über das wir gerade gesprochen haben, nicht notwendig, dass man dann von dem Grundsatz "alle oder keiner" abrückt und sich einige Staaten zu einem Kerneuropa zusammenschließen?
Stuart: Ich glaube nicht, dass das die Lösung ist, die man suchen sollte. Die wirkliche Lösung ist, dass man endlich mal anfängt, ganz bestimmte Probleme ins Auge zu nehmen: zum Beispiel die Größe der Kommission, eine Kommission mit 27 Mitgliedern und noch mehr. Vielleicht ist das jetzt zu groß. Leute wie Jacques Delors waren immer der Meinung, die Kommission sollte nie mehr wie zwölf sein.
March: Aber dann gibt es wieder ein Hauen und Stechen, wer dort Mitglied sein darf und wer nicht.
Stuart: Aber wenn die Kommission doch das Ideal der Europäischen Union, wo wir nicht wieder mit nationalen Interessen handeln, sein soll, warum ist das die eine Institution, wo die nationalen Interessen so offensichtlich sind, dass jedes Land einen eigenen Kommissionsvertreter haben muss. Ist das nicht diese Institution, wo wir uns als gute Europäer zeigen sollten?
March: Kurz zum Schluss, Frau Stuart. Glauben Sie, dass Tony Blair sich zum Schluss seiner zehnjährigen Amtszeit kompromissbereit zeigen wird in Brüssel, oder wird er das nicht tun? Wird er die Linie vertreten, die Sie gerade deutlich gemacht haben?
Stuart: Ich glaube, was Tony Blair machen muss ist einen Verhandlungsvertrag abschließen, den sowohl die britische Öffentlichkeit akzeptieren kann und den Gordon Brown auch der britischen Öffentlichkeit verkaufen kann. Auch in einem langfristigen Interesse Europas hat es keinen Sinn, zu irgendetwas Ja zu sagen, wo er weiß, dass es die Briten nicht akzeptieren.
March: Vielen Dank Gisela Stuart. Sie ist Labour-Abgeordnete im britischen Parlament.
Gisela Stuart: Ich glaube, was London und was auch andere Länder, wenn sie ehrlicher wären, stört ist, dass zum Beispiel diese ganzen Verhandlungen über die Grundrechte-Charta ursprünglich, als es anfing, als leitmaßgeblich betrachtet wurden. Es hieß, die haben keine rechtliche Natur. Nach mehreren Jahren wird diesem ganzen Text nun eine gesetzliche Fähigkeit gegeben. Das sind Sachen, wo Politiker in vielen Ländern sagen, das sollten eigentlich Entscheidungen auf nationaler Ebene sein und nicht auf europäischer Ebene. Und wissen Sie, es ist nicht so lange her, wo Roman Herzog sogar in Deutschland sagte, dass etwa 80 Prozent der Gesetzesvorschläge jetzt in Brüssel verhandelt werden und nicht mehr auf nationaler Ebene, und sogar jemand wie Roman Herzog meinte, dass dies ein Problem wäre, weil Deutschland ja noch eine parlamentarische Demokratie wäre. Es sind solche Bedeutungen, vor denen wir Bedenken haben.
March: Aber wozu, Frau Stuart, hat man dann diese europäische Grundrechte-Charta überhaupt ausgearbeitet, wenn das nur warme Worte sind, die nicht rechtskräftig werden sollen?
Stuart: Die ersten Verhandlungen sagten, das sind nicht rechtskräftige Verhandlungen, das sind Ambitionen, das sind Vorstellungen, die wir haben, und das ist unser Ziel. Das wird aber nicht zum buchstäblichen rechtskräftigen Text.
March: Das heißt, es soll in der Verfassung nicht einmal einen Querverweis geben aus Londoner Sicht?
Stuart: Das auf jeden Fall. Das war nämlich nicht die Basis der ursprünglichen Verhandlungen und das ist das Problem. Das ist nämlich auch das Problem mit diesem ganzen Verfassungsvorschlag, dass wir den Bürger in diese Verhandlungen nicht mit einbeziehen, dass das nur eine politische Elite macht. Das ist auch etwas, wo London und auch andere Länder ein Problem haben.
March: Sie selbst, Frau Stuart, gehörten dem Präsidium des Verfassungskonvents an, haben die EU-Verfassung also mit ausgehandelt. Warum können Sie diesem Text heute nicht mehr zustimmen?
Stuart: Es waren eben die letzten Tage um die Verfassung, wo eine kleine Gruppe von Politikern Entscheidungen trifft, ohne den Bürger einzuschließen. Warum ist als Gegenstück zum Beispiel Deutschland nicht bereit, eine Volksbefragung über diesen Verfassungsvertrag abzuhalten? Keiner von den deutschen Politikern ist bereit, das in Erwägung zu ziehen.
March: Aber wenn London keine Kompetenzen an Brüssel abgeben will, wenn alle Länder auf etliche Ausnahmeregelungen pochen, was bleibt dann noch vom Bekenntnis zum gemeinsamen Europa?
Stuart: Vom gemeinsamen Europa bleibt erheblich viel und wir müssen uns auf die Gebiete konzentrieren, wo wir nur Lösungen auf europäischer Ebene finden können, auch auf europäischer Ebene zu arbeiten. Wenn es zum Beispiel um den ganzen Umweltschutz geht, wenn es zum Beispiel um den freien Handel geht und die Verhandlungen mit anderen Ländern, die Wettbewerbsfähigkeit auf ganz vielen Ebenen, dann sind auch Länder wie Deutschland oft nicht bereit, sich im europäischen Sinne zu verhalten. Ich glaube, England und auch Polen dort als Sündenbock hinzustellen, ist nicht immer fair.
March: Und eine gemeinsame Außenpolitik gehört nicht dazu, was auf europäischer Ebene verhandelt und geeinigt werden muss?
Stuart: Wenn große Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien wirklich bereit wären, politisch eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Stellung zu haben, dann könnte man das auf europäischer Ebene machen, ob wir jetzt einen sogenannten europäischen Außenminister haben oder nicht. Das Problem ist nicht die Institution auf europäischer Ebene; das Problem ist, dass die verschiedenen großen Länder immer noch ihre eigenen außenpolitischen Prioritäten verhandeln wollen. Und da muss ich sagen, es ist wieder nicht Großbritannien, der der Außenseiter ist. Andere Länder machen das genauso. Wenn Sie mal auf die Verteidigungspolitik hinschauen: die ganz großen Fortschritte wurden ständig gemacht mit Frankreich und Großbritannien außerhalb des Rahmens der europäischen Institutionen, wenn die gemeinsamen Interessen da waren. Das ist doch im Augenblick das Problem, dass wir eine Europäische Union mit 27 Ländern haben und dass es ganz einfach schwieriger wird zu verhandeln. Es ist aber nicht die Abwesenheit der Verfassung daran Schuld. Was daran Schuld ist und was meiner Meinung nach aber auch schön ist, dass wir 27 Länder haben, die alle ihre Interessen haben, und wir müssen dann gemeinsam verhandeln.
March: Aber ist es vor diesem Hintergrund all dessen, über das wir gerade gesprochen haben, nicht notwendig, dass man dann von dem Grundsatz "alle oder keiner" abrückt und sich einige Staaten zu einem Kerneuropa zusammenschließen?
Stuart: Ich glaube nicht, dass das die Lösung ist, die man suchen sollte. Die wirkliche Lösung ist, dass man endlich mal anfängt, ganz bestimmte Probleme ins Auge zu nehmen: zum Beispiel die Größe der Kommission, eine Kommission mit 27 Mitgliedern und noch mehr. Vielleicht ist das jetzt zu groß. Leute wie Jacques Delors waren immer der Meinung, die Kommission sollte nie mehr wie zwölf sein.
March: Aber dann gibt es wieder ein Hauen und Stechen, wer dort Mitglied sein darf und wer nicht.
Stuart: Aber wenn die Kommission doch das Ideal der Europäischen Union, wo wir nicht wieder mit nationalen Interessen handeln, sein soll, warum ist das die eine Institution, wo die nationalen Interessen so offensichtlich sind, dass jedes Land einen eigenen Kommissionsvertreter haben muss. Ist das nicht diese Institution, wo wir uns als gute Europäer zeigen sollten?
March: Kurz zum Schluss, Frau Stuart. Glauben Sie, dass Tony Blair sich zum Schluss seiner zehnjährigen Amtszeit kompromissbereit zeigen wird in Brüssel, oder wird er das nicht tun? Wird er die Linie vertreten, die Sie gerade deutlich gemacht haben?
Stuart: Ich glaube, was Tony Blair machen muss ist einen Verhandlungsvertrag abschließen, den sowohl die britische Öffentlichkeit akzeptieren kann und den Gordon Brown auch der britischen Öffentlichkeit verkaufen kann. Auch in einem langfristigen Interesse Europas hat es keinen Sinn, zu irgendetwas Ja zu sagen, wo er weiß, dass es die Briten nicht akzeptieren.
March: Vielen Dank Gisela Stuart. Sie ist Labour-Abgeordnete im britischen Parlament.