"Struktureller Rassismus"

Verteidigung eines Begriffs

04:18 Minuten
Historischer Stadtplan Londons mit blau und rot markierten Stadtvierteln, die die sozialen Schichten der Bewohner aufschlüsseln.
Oft entscheiden Stadtteile über ein Leben in Armut oder Reichtum, wie etwa diese Stadtkarte von London Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt. Nicht selten steht das in Zusammenhang mit "strukturellem Rassismus", argumentiert der Philosoph Daniel James. © Unsplash / LSE Library
Eine Entgegnung von Daniel James · 28.03.2021
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Der Begriff „struktureller Rassismus“ lege Fehlschlüsse nahe, behauptete der Philosoph Philipp Hübl in einem Kommentar auf Deutschlandfunk Kultur. Der Philosoph Daniel James hält dagegen: Der Begriff sei wichtig, um Rassismus umfassend zu verstehen.
Philipp Huebl erblickt das zentrale Problem der Rede vom strukturellen Rassismus darin, dass sie "diffus" und deswegen "irreführend" sei. Denn sie verleite uns etwa zu dem Fehlschluss, jede oder jeder Weiße sei schon Rassistin oder Rassist, weil sie von einer rassistischen Struktur profitieren. Deswegen hält er einen strukturellen Rassismusbegriff als solchen für unbrauchbar und gar, wie er auf Twitter nachlegt, für "unwissenschaftlich". Nicht nur mache er handlungsunfähig, er verharmlose zudem wahrhafte Menschenfeindlichkeit.
Porträt von Daniel James.
Struktureller Rassismus zeige sich auch darin, wer wie schwer von der Coronapandemie getroffen werde, sagt Daniel James.© Kirill Semkow
Die noch junge öffentliche Debatte über strukturellen Rassismus könnte, wie andere auch, sicher größere Klarheit vertragen. Deswegen aber schon eine Fragestellung, die auch Gegenstand sozialwissenschaftlicher und philosophischer Forschung ist, als "unwissenschaftlich" zu diskreditieren hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

USA – das Rätsel nach Ende der Segregation

Um zu beurteilen, ob der Begriff des strukturellen Rassismus brauchbar ist, müssen wir zunächst einmal nach dessen Pointe fragen. Ich sehe diese in der Rolle, die er in sozialwissenschaftlicher Forschung spielt.
Diese sah sich Ende der 80er-Jahre in den USA mit einem Rätsel konfrontiert: Obwohl nach dem Ende der Segregation rassistische Einstellungen abnahmen, bestanden die Ungleichheiten zwischen weißen und nicht-weißen Menschen in Sachen Strafverfolgung, Gesundheit und Wohlstand sowie auf den Verbraucher-, Kredit-, Arbeits- und Wohnungsmärkten fort. Sie können also nicht allein durch solche Einstellungen erklärt werden.
Stattdessen wurde geltend gemacht, dass das Vorliegen eines hierarchisch strukturierten sozialen Systems, in dem weiße und nicht-weiße Menschen verschiedentlich verortet sind, sie besser erklärt. Dieses System umfasst auch die von Huebl angeführten Faktoren wie Zugang zu Bildung und sozialen Netzwerken.

Wenn Stadtteile über Lebenschancen entscheiden

Beides hängt aber eng damit zusammen, in welchem Stadtteil man lebt – und dieser Zusammenhang erklärt sich in den USA auch aus der diskriminierenden Praxis des "Redlining", bei der Bewohner:innen bestimmter Stadtteile Dienstleistungen verteuert oder gar nicht angeboten wurden.
Ein struktureller Rassismusbegriff erlaubt somit, nach solchen Zusammenhängen zu fragen.

Ungleiche Effekte der Corona-Pandemie in Großbritannien

Ein aktuelles Beispiel hierfür können wir in den ungleichen Auswirkungen erblicken, die die COVID-19-Pandemie auf die "Black Asian and Minority Ethnic" (BAME)-Bevölkerung des Vereinigten Königreichs hat. Dass der hier ausdrücklich verwendete strukturelle Rassismusbegriff nicht verharmlosend ist, lässt sich daran festmachen, dass hierzu auch eine erhöhte Sterblichkeit gehört.
Wie eine durch die Labour-Partei in Auftrag gegebene Untersuchung offenlegt, erklären drei Faktoren diese Ungleichheit: Erstens die Überrepräsentation der Betroffenen in Berufszweigen, die sie einem größeren Risiko zu erkranken aussetzen; zweitens der schlechtere Zugang zu Gesundheitsversorgung; drittens die erhöhte Bevölkerungsdichte und schlechte Luftqualität in den Stadtteilen, in denen sie leben.

Die Datenlücke schließen

Es liegt nahe zu fragen, ob sich solche Ungleichheiten auch hierzulande finden lassen. Um dieser Frage aber überhaupt nachgehen zu können, bräuchten wir demografische Daten, die Aufschluss über die diese Ungleichheiten erklärenden Faktoren geben. Denn die von Huebl angeführten Daten geben uns hierauf keine Antwort.
Diese Datenlücke hat auch damit zu tun, dass der Bundesregierung eine verbindliche Arbeitsdefinition von Rassismus fehlt, die uns für diese Frage sensibilisieren würde. Es stimmt also, dass wir dieser Frage schwer empirisch nachgehen können. Statt aber deswegen einen strukturellen Rassismusbegriff gleich als "unwissenschaftlich" abzutun, sollten wir die Verwissenschaftlichung dieser Fragestellung vorantreiben.
Die Datenlücke zu schließen, wäre ein erster Schritt.

Daniel James ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Geschäftsführer des Düsseldorf Institute for Philosophy of Public Affairs. Dort leitet er derzeit gemeinsam mit Leda Berio und Benedict Kenyah-Damptey ein partizipatives Forschungsvorhaben über "Rasse: Zur Aushandlung eines belasteten deutschen Ausdrucks".

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