"Struktureller Rassismus"

Ein irreführender Begriff

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Illustration: Eine Hand bewegt Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben auf einem Schachbrett.
Die Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gruppe sage nicht automatisch etwas über Rassismus aus, argumentiert der Philosoph Philipp Hübl. © imago images / Ikon Images / Danae Diaz
Ein Kommentar von Philipp Hübl · 21.03.2021
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Obwohl rassistische Einstellungen hierzulande abnehmen, werden sie immer lauter beklagt. Dass Diskriminierungen bekämpft werden, ist wichtig, meint Philipp Hübl. Die Rede vom „strukturellem Rassismus“ aber lege falsche Schlüsse nahe.
Wir reden so viel über Rassismus wie nie zuvor in Deutschland. Das liegt aber nicht daran, dass alles schlimmer wird, wie viele glauben, sondern paradoxerweise daran, dass wir immer weltoffener und sensibler geworden sind. Laut Mitte-Studie (PDF) hat sich der Anteil der Deutschen mit rassistischen Einstellungen in den letzten 20 Jahren fast halbiert: von 12,2 auf 7,2 Prozent.

Weniger Diskriminierungs-Erfahrungen und rechte Gewalt

Fragt man Menschen mit Migrationsgeschichte, ob sie in den letzten zwei Jahren aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert wurden, so antworten etwa 10 Prozent mit "ja". Das ergab eine repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (PDF).* Natürlich ist jeder einzelne Fall einer zu viel, aber das heißt umgekehrt: 90 Prozent fühlen sich nicht diskriminiert. Sogar rechte Gewalt ist deutlich zurückgegangen: Die Amadeu-Antonio-Stiftung zählt zwischen 1990 und 2001 insgesamt 144 rechtsextreme Morde. Von 2002 bis 2021 sind es immer noch erschreckende 69 Taten, aber das sind nur halb so viele im doppelten Zeitraum.
Warum also reden wir mehr über Rassismus? Das liegt nicht nur daran, dass Vertreter bisher ausgeschlossener Gruppen öffentlich ihre Rechte einfordern, sondern vor allem daran, dass Begriffe wie "Gewalt" und "Rassismus" heute viel weiter gefasst werden als früher. Und so entdeckt man mehr, obwohl eigentlich weniger da ist.
PDer Philosoph Philipp Hübl
Philipp Hübl, Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin© Philipp Hübl
Die ursprüngliche Definition war psychologisch: Ein Rassist ist, wer andere aufgrund ihrer Ethnie oder Hautfarbe abwertet. Doch bald wurde der Rahmen erweitert. Fortan galten auch indirekte Diskriminierungen als rassistisch, wie im Fall des Arbeitgebers, der sich für liberal hält, aber seltener Bewerber dunkler Hautfarbe einstellt. Später kam noch der "institutionelle Rassismus" hinzu, wie etwa beim "Racial Profiling" der Polizei: eine Praxis, die selbst dann diskriminierend ist, wenn kein einzelner Polizist rassistische Einstellungen hat.

Fehlschlüsse aus Begriff "struktureller Rassismus"

Aktuell ist der Rassismus-Begriff noch einmal erweitert worden, manchmal unter dem ominösen Label "struktureller Rassismus". Inspiriert von der "Critical Race Theory" ist im Extremfall jetzt jeder ein Rassist, wenn er einer Gruppe angehört, die im Mittel sozioökonomisch bessergestellt ist als eine nicht-weiße oder zugewanderte Minderheit.
Daraus folgt oft der Fehlschluss, jeder Weiße würde vom "System" irgendwie "profitieren". Diese Annahmen beruhen nicht mehr auf empirischen Daten, sondern auf diffusen Vorstellungen von Macht und impliziten Stereotypen, die sich angeblich "reproduzieren". Doch die Forschung zu vermeintlichen "unbewussten Vorurteilen" ist extrem umstritten (PDF). Stereotype zu kennen, heißt nicht, dass wir an sie glauben (PDF) - und schon gar nicht, dass sie unser Handeln leiten.

Gruppenzugehörigkeit nicht automatisch Rassismus

Natürlich hat niemand ein Patentrecht auf theoretische Begriffe wie "Rassismus". Man kann sie so eng oder weit fassen, wie man will. Doch wenn alle Menschen per Definition rassistisch sind, wird der Begriff unbrauchbar: Er suggeriert, dass man ohnehin nichts tun kann - und er verharmlost Menschenfeinde, die jetzt in derselben Schublade wie Leute landen, die unschuldig fragen "Woher kommst Du?"
Vor allem verwechselt die Rede vom "strukturellen Rassismus" Gerechtigkeit mit Gleichverteilung. Richtig ist: Menschen mit Migrationsgeschichte sind am Arbeitsmarkt unterrepräsentiert. Ein Faktor (PDF) beim Zugang zum Arbeitsmarkt ist dabei rassistische Diskriminierung, wie Studien zeigen. Andere Faktoren (PDF) sind aber Sprachkenntnisse, Bildung und ein Freundeskreis in der Mehrheitsgesellschaft.
Um die Lage zu verbessern, muss man alle Faktoren analysieren. Dabei hilft es jedoch wenig, wenn man immer reflexartig "Rassismus" ruft, sobald ein Vorstand nur aus Weißen besteht. Mit der diffusen Rede vom "strukturellen Rassismus" ist niemandem geholfen.
* Die im Text zitierte und verlinkte repräsentative Erhebung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) von 2018 bezieht sich auf Daten aus dem Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Daneben gibt es eine zweite repräsentative Erhebung der ADS mit anderen Daten und einer kleineren Stichprobe aus dem Jahr 2017, in der 23,2 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund angeben, sie seien in den letzten zwei Jahren aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert worden (S. 102).

Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken" im Verlag C. Bertelsmann.

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