"Strukturdefekt der Demokratie"

Wolfgang Merkel im Gespräch mit Christopher Ricke · 28.12.2009
Politiker seien keine schlechteren Menschen, nimmt der Wissenschaftler Wolfgang Merkel die Volksvertreter in Schutz. Gebrochene Wahlversprechen seien fast so alt wie die Demokratie selbst, sagt Merkel. Um Stimmen zu gewinnen, müssten sie sich im Wahlkampf als "omnipotente Problemlöser" präsentieren.
Christopher Ricke: Ob Obama oder Westerwelle, ob Eigenheimzulage oder Mehrwertsteuer, es gilt der ewige Adenauer: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern! Wir sind bei einer ganz besonderen politischen Krankheit, dem Vergessen von Wahlkampfversprechen. Ich spreche mit dem Politikprofessor Wolfgang Merkel, er lehrt und forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Professor Merkel, warum enttäuschen denn die Politiker immer wieder ihre Wähler?

Wolfgang Merkel: Man könnte das griffig formuliert so etwas wie einen Strukturdefekt der Demokratie nennen, und der rührt vor allen Dingen daraus, dass politische Parteien und ihre Spitzen direkt in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Sie müssen dem Wähler prägnant griffige Formulierungen und Formeln anbieten, die für komplexe Lösungen taugen müssen. Das gerät oft verkürzt. Die Politiker präsentieren sich als omnipotente Problemlöser und bleiben dann in der Realität mit der eigentlichen Lösung doch weit hinter dem Versprochenen zurück. Also Politiker sind keine schlechteren Menschen, aber es gibt gewisse Zwänge des Konkurrenzkampfes, verstärkt durch die elektronischen Medien, die sie im Wahlkampf dann doch zu vorschnellen Lösungsvorschlägen und Versprechen verleiten.

Ricke: Das hat sich ja geändert in den letzten Wahlperioden, gerade der elektronische Wahlkampf. Heißt das, die Wahlkampfversprechen werden auch häufiger gebrochen?

Merkel: Das würde ich nicht sagen, aber sie werden natürlich häufiger medienwirksam immer wieder angemahnt bei den Politikern. Diese Sentenzen können immer wieder eingespielt werden ins Fernsehen und so etwas darstellen wie ein permanentes Gewissen der Wähler oder Forderungen der Wähler gegenüber den Repräsentanten. Insofern dringt das stärker in das öffentliche Bewusstsein ein, aber gebrochene Wahlversprechen sind fast so alt wie die Demokratie selbst. Erinnern Sie sich etwa in Deutschland an die berühmte Zustimmung zu den Kriegskrediten vor dem Ersten Weltkrieg. Die SPD, die pazifistische Partei par Excellence, stimmt auf einmal unter der Vaterlandseuphorie für die Kriegskredite. Bismarck selbst hat das gleichsam in Serie gemacht und die Bundesrepublik Deutschland ist voll davon.

Ricke: Dann lassen Sie uns doch gleich bei den Sozialdemokraten bleiben. Ein sehr griffiges, ein binär kodiertes Versprechen, das so einfach gebrochen werden konnte, ja oder nein, stimmt es oder stimmt es nicht, war ja die Mehrwertsteuererhöhung, die nicht kommen sollte und dann doch kam. Wem hat die denn letztlich geschadet, nur dem Steuerzahler?

Merkel: Ich glaube nicht, dass es dem Steuerzahler so geschadet hat, aber es hat der SPD geschadet. Genauer gesagt: Es hat der Glaubwürdigkeit der SPD geschadet, die doch gegen den Vorschlag von der Kanzlerkandidatin Angela Merkel und der CDU gegen Mehrwertsteuer gestimmt hat, übrigens im Grunde gegen ihr eigentliches Programm dagegengestimmt hat, sondern das war einfach eine Oppositionsmarkierung im Wahlkampf. Und dann nicht nur bei zwei Prozent stehen zu bleiben, sondern gar drei Prozent vorzuschlagen, das hat mit Sicherheit der SPD an der Glaubwürdigkeit geschadet.

Ricke: Nehmen wir ein ganz aktuelles Beispiel. Da liegt der Fall etwas komplizierter. Da wird wegen eines Wahlkampfversprechens ein anderes politisches Ziel geopfert: Da wird die Haushaltskonsolidierung aufgegeben, weil ein Koalitionspartner, der kleinere, auf Steuersenkungen beharrt. Hier ist das Stichwort das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Wie liegt denn dieser Fall?

Merkel: Dieser Fall liegt doch etwas anders. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz lässt allerdings schon in seinem bürokratischen Duktus nichts besonders Gutes erwarten. Es zeigt so etwas schon wie die Differenz in der Sprache der Bürger und in der Sprache der Bürokraten der Politik. Misst man dann – wir wissen ja, was bisher beschlossen worden ist – den Inhalt des Gesetzes an den großen Wahlversprechungen, die ich für sehr problematisch halte, massive Steuerentlastungen zugunsten der Bürger durchzusetzen, wird eigentlich diese schon bürokratische Begriffskomik zu so etwas wie einem klientelistischen Ärgernis. Da wird auf Druck der CSU die Mehrwertsteuer für das Hotelgewerbe heruntergesetzt, es werden nicht nur Neffen etwa bei Erbschaften begünstigt. Ich würde sagen, es ist kein gebrochenes Wahlversprechen, auch nicht zunächst von dem sehr allgemein formulierten der Haushaltskonsolidierung, sondern scheint mir so etwas wie ein Beruhigungspflaster zu sein für die später dann doch nicht eintretenden drastischen Reduzierungen der Steuerbelastungen, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass sie tatsächlich von einigermaßen verantwortungsvollen Politikern tatsächlich durchgesetzt werden können. Und wenn wir genau dem Finanzminister dieser Tage zuhören, macht Herr Schäuble auch schon deutlich, dass das mit ihm kaum zu machen sein wird. Also wir müssten uns gewissermaßen in der Zukunft auf ein gebrochenes Wahlversprechen doch einstellen.

Ricke: Was halten Sie von dieser schönen Argumentation: Ich würde ja gerne, ich kann aber nicht, weil mich die anderen nicht lassen? So kann man doch eigentlich jedes Versprechen bis zum Sankt Nimmerleinstag aufschieben.

Merkel: Ich glaube nicht, dass das wiederum funktioniert in der Demokratie. Die Bürger haben zwar durchaus kein ganz langes Gedächtnis, wie die Serie von nicht bestraften, gekündigten Wahlversprechungen zeigen. Allerdings dürfen Politiker es nicht zu dreist treiben und wir wissen aus der Wahlforschung, dass insbesondere gebrochene Wahlversprechungen, die relativ nahe am Wahltermin sich vollziehen, tatsächlich vom Bürger bestraft werden. Erinnern Sie sich etwa an den Fall von Ypsilanti in Hessen, wo das sehr dreist geschehen ist in einem sehr, sehr kurzen Zeitraum. Das hat der Bundes-SPD sehr stark geschadet. Ich würde sagen, Politiker dürfen das nicht immer mit den Wahlzwängen begründen, weil die Bürger dann zurückfragen: Das hättet ihr uns vorher als kompetente Politiker schon längst erläutern und erklären können. Jetzt kann dies nicht immer als eine Dauerentschuldigung für nicht eingelöste Versprechen gelten.

Ricke: Der Politikprofessor Wolfgang Merkel. Vielen Dank, Herr Merkel.

Merkel: Ich danke Ihnen auch!