Stress bei Stadtbewohnern

Wie das Stadtleben die Psyche verändert

Dichter Verkehr auf dem Kaiserdamm in Berlin
Zu viel Verkehr, zu viel Hektik, zu viel Enge - welche Folgen hat das Leben in der Stadt für die physische und psychische Gesundheit? © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Mazda Adli im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.05.2017
Stadtbewohner leiden häufiger an psychischen Krankheiten als Landbewohner, so lautet eine Erkenntnis des neuen Buches des Psychiaters und Therapeuten Mazda Adli. Er stellt zugleich fest, dass das Leben in der Stadt den meisten Menschen trotzdem gut tut.
Bei Stadtbewohnern finde sich eine Häufung von Stressfolge-Erkrankungen, so stellt Mazda Adli im Deutschlandfunk Kultur eine Ergebnisse seines heute erscheinen Buches "Stress and the City" vor. Depression sei in der Stadt anderthalb Mal so hoch wie auf dem Land, Schizophrenie komme doppelt so häufig vor.
Wenn man in einer Stadt aufgewachsen sei, verfüge man außerdem über "sensiblere Stressantennen" als ein Landbewohner, so Adli:
"Genau das sieht man auch in bildgebenden Verfahren: Wenn man Versuchspersonen unter Stress setzt und dabei Städter und Landbewohner miteinander vergleicht, sieht man, dass die stressverarbeitenden oder emotionsverarbeitenden Areale aktiver sind bei den Stadtbewohnern im Vergleich zu Landmenschen. Das bedeutet noch nicht, dass sie krank sind, sondern nur, dass das Gehirn empfindlicher auf Stress reagiert."
Der Stress in der Stadt ist größer – und trotzdem tue dieses Leben den meisten Menschen – Risikogruppen ausgenommen – gut, hat Adli herausgefunden. Es gebe mehr Vorteile als Nachteile, etwa in Bezug auf Wohlstand, leichteren Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung sowie zu kultureller Vielfalt: "urban advantage" heißt es im Fachausdruck.

Extrovertierte Menschen leben gerne in Städten

Doch warum zieht es die einem Menschen in die Stadt und die anderen eher aufs Land? Das sei vor allem eine Mentalitätsfrage, sagt Adli:
"Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass eher extrovertierte Menschen in Städten und dann auch gerne im Zentrum von Städten wohnen. Menschen hingegen, die die Dinge sehr genau, sehr berechenbar haben – die bevorzugen eher Stadtrandlagen oder ländliche Umgebungen."

Präventionsmaßnahmen für die psychische Gesundheit von Stadtbewohnern

Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben, Millionenstädte verändern das Gesicht der Erde. Stadtplaner müssten sich den Herausforderungen einer sich rasant urbanisierenden Welt stellen, meint Adli. Notwendig seien Präventionsmaßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit von Stadtbewohnern:

"In meinem Buch erkläre ich auch, dass die Gesundheitsfolgen der Urbanisierung vergleichbar sein werden mit den Folgen des Klimawandels auf unsere Gesundheit – wenn wir nicht ausreichend dafür sorgen, dass die Städte unserer Gesundheit zuträglich sind."
Mazda Adli ist Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Berliner Charité und Chefarzt der Fliedner Klinik. Darüber hinaus ist der Psychiater und Therapeut einer der Initiatoren des Interdisziplinären Forums Neurourbanistik. (ue)

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Das Leben in der Stadt ist hektisch, stressig und eng, deshalb birgt es durchaus Risiken für unsere physische und psychische Gesundheit. Das beschreibt Mazda Adli ausführlich in seinem neuen Buch "Stress and the City", das heute erscheint, und er zieht dann trotzdem das Fazit, Städte sind generell gut für uns.
Er muss es wissen, denn Mazda Adli ist nicht nur Stadtbewohner aus Überzeugung, sondern er ist auch Psychiater und Therapeut, Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Berliner Charité und Chefarzt der Fliedner-Klinik, ebenfalls in Berlin, und einer der Initiatoren des Interdisziplinären Forums Neurourbanistik. Jetzt ist er bei uns im Studio – schönen guten Morgen, Professor Adli!
Mazda Adli: Guten Morgen!
Kassel: Um eine sehr grundsätzliche Frage zu stellen: Leiden Stadtbewohner tatsächlich nachweisbar häufiger unter psychischen Erkrankungen als Menschen, die auf dem Land leben?
Adli: Ja, in der Tat ist es so. Wir finden eine Häufung von Stressfolgeerkrankungen bei Stadtbewohnern. Dazu gehören zum Beispiel die Depressionen, anderthalb mal so häufig in der Stadt im Vergleich zum Land, oder auch die Schizophrenie, doppelt so häufig bei Stadtbewohnern.

Der Stadtbewohner entwickelt "sensiblere Stressantennen"

Kassel: Man kann das ja auch mit Hirntests, mit Scans wirklich nachweisen, dass die stressempfindlicher sind. Was mich ein bisschen überrascht hat beim Lesen des Buches, weil ich als Laie hätte gedacht, ja, die Stadt ist hektisch, sie ist eng, sie ist manchmal auch aggressiv, aber Menschen, die da leben, sind doch eigentlich auch daran gewöhnt.
Adli: Die meisten von uns sind daran gewöhnt, und wir haben alle auch sensiblere Stressantennen, wenn wir in der Stadt groß geworden sind. Genau das sieht man eben auch in bildgebenden Verfahren, wenn man Versuchspersonen unter Stress setzt und dabei Städter und Landbewohner miteinander vergleicht, sieht man, dass die stressverarbeitenden oder emotionsverarbeitenden Areale aktiver sind bei den Stadtbewohnern im Vergleich zu Landmenschen. Das bedeutet noch nicht, dass sie krank sind, sondern nur, dass das Gehirn empfindlicher auf Stress reagiert.
Kassel: Das ist ja ein scheinbarer Widerspruch, wenn Sie, und das tun Sie in Ihrem Buch, erklären, ja, psychische Erkrankungen sind häufiger, der Druck in vielerlei Hinsicht, der Stress ist größer. Und trotzdem sage ich als Fachmann – sagen Sie –, Städte sind gut für uns, das Leben dort tut uns eigentlich gut. Das ist ja eigentlich ein Widerspruch.
Adli: Das erscheint zunächst mal wie ein Widerspruch, es ist aber in der Tat so, dass für die meisten von uns die Stadt viel mehr Vorteile hat als Nachteile. Für die meisten von uns ist die Stadt gut. Es gibt mehr Wohlstand, es gibt viel leichteren Zugang zu Bildung und Förderung. Es gibt eine bessere Gesundheitsversorgung, der nächste Arzt, die nächste Apotheke oder das nächste Krankenhaus sind näher zu erreichen, es gibt eine größere kulturelle Vielfalt. All das fasst man zusammen unter dem englischen Begriff Urban Advantage, also Stadtvorteil. Die meisten Menschen, Bewohner der Stadt haben auch ausreichend Zugang dazu, aber es gibt Risikopopulationen. Es gibt Menschengruppen, die sind von diesem Urban Advantage eher ausgeschlossen, und um die müssen wir uns kümmern.

Suche nach Oasen des Stadtlebens

Kassel: Was mich überrascht hat in Ihrem Buch: Es ist eine Mischung aus Wissenschaft, verständlicher, aber harter Wissenschaft, und vielen persönlichen Eindrücken auch von Ihnen. Sie haben selbst in verschiedenen Städten gelebt, Wien, Paris, Berlin unter anderem, um die, glaube ich, wichtigsten in Ihrem Leben mal zu nennen, und auch von einigen Gesprächspartnern. Das Buch besteht zu einem gewissen Teil auch aus Interviews, die Sie geführt haben. Und wann immer die Frage auftaucht, was ist der jeweilige Lieblingsort Ihrer Gesprächspartner und von Ihnen in den Städten – na ja, nicht immer, aber ganz oft werden doch eher ruhige Orte genannt, Parks, Museen, also mehr so diese Orte, die man als Oasen im Stadtleben bezeichnen könnte. Das heißt, der geschickte Stadtbewohner sucht doch dann ein bisschen das Landleben in der Stadt, um gesund zu bleiben?
Adli: In der Tat tun uns natürlich Ruhepunkte in der Stadt gut. Grünflächen, Parks, kleine Stadtbrachen, die wir irgendwie selbst auch gestalten können. All das tut uns gut. Das heißt aber keineswegs, dass eine Grünfläche in der Stadt nun das Dörfliche in der Stadt darstellt, sondern es ist eine Erholung und ein Ruhepunkt zwischen der städtischen Betriebsamkeit, und natürlich tut uns das gut. Grünflächen sind gut für unsere Konzentration. Schulkinder, die eine Grünfläche in der Nähe haben, haben im Durchschnitt bessere Schulleistungen, und wir werden weniger depressiv, wenn sich ein Park in erreichbarer Nähe befindet. All das ist gezeigt.

Wenn 2050 zwei Drittel der Menschheit in Städten leben

Kassel: Immer mehr Menschen werden ja in Zukunft in Städten leben. Dieser Trend ist wahrscheinlich unumkehrbar, was aber bedeutet, wenn man sich die Fläche der Welt mal anguckt, dass bald die Hälfte, zwei Drittel oder noch mehr die Menschen auf ungefähr zwei Prozent der Fläche dieser Welt leben werden. Wie müssen wir in Zukunft das mitdenken? Muss Stadtplanung quasi auch Gesundheit, die körperliche und die geistige, mitdenken in Zukunft?
Adli: Davon bin ich überzeugt. Wir leben in einer sich rasant urbanisierenden Welt, die Zahlen haben Sie gerade schon genannt. In meinem Buch erkläre ich auch, dass die Gesundheitsfolgen der Urbanisierung vergleichbar sein werden wie die Folgen des Klimawandels auf unsere Gesundheit, wenn wir nicht ausreichend dafür sorgen, dass die Städte unserer Gesundheit zuträglich sind. Wenn es stimmt, dass im Jahr 2050 zwei Drittel der Menschheit in Städten leben, und wenn es stimmt, dass Stadtbewohner ein doppelt so hohes Schizophrenie-Risiko haben im Vergleich zu Landbewohnern, dann ist es dringend an der Zeit herauszufinden, wo da genau der Zusammenhang besteht und wie wir zu einer Prävention und zu einem Schutz der psychischen Gesundheit von Stadtbewohnern beitragen können.

Zum Beispiel: Hongkong

Kassel: Ist das auch eine Mentalitätsfrage? Sie haben ja auch das Beispiel Hongkong in Ihrem Buch, wo Menschen zum Teil in fast schon Käfigen wohnen, sehr beengt. Sie beschreiben da eine alte Fabrikanlage, und Sie sagen auch, das ist nicht schön. So sollte man Städte zwar nicht planen, aber das halten die noch aus, Europäer kriegen das Grausen. Ist das nur Gewohnheitssache, oder ist es eine Mentalitätsfrage, weil man ja – gut, in Asien ist es enger, schon seit Jahrzehnten.
Adli: Dichte kann durchaus zu einem sozialen Stress werden, der uns zu schaffen macht. Allerdings kommt es vor allem darauf an, wie viel Dichte jemand toleriert. Da gibt es durchaus kulturelle Unterschiede. Bewohner Hongkongs haben im Durchschnitt 13 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, und viele kommen damit gut zurecht, weil sie sich nicht ausgeliefert fühlen, weil es keine unkontrollierbare Situation ist, und weil die Stadt viele andere Vorteile bietet.
Nichtsdestotrotz wissen wir aber auch gleichzeitig, dass es um die psychische Gesundheit der Bewohner Hongkongs nicht gut bestellt ist, ganz im Gegensatz zur körperlichen Gesundheit der Bewohner dieser Stadt, die eigentlich relativ gute Ergebnisse zeigt. Auch die Lebenserwartung in Hongkong ist gut. Aber die psychische Gesundheit der Hongkonger ist nicht gut. Es gibt relativ hohe Suizidraten, und das zeigt schon auch, dass hier die Schere zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit weit aufgeht und dass das durchaus was mit Stadtstressoren zu tun hat.

"Mentalität spielt eine ganz große Rolle"

Kassel: Es gibt noch viele Aspekte, die in Ihrem Buch auch eine Rolle spielen: Verkehr, Kriminalität, kurzum auch die Frage, positiver Stress, negativer, für die wir jetzt leider keine Zeit mehr haben, aber eine Frage, finde ich, kann man nicht weglassen, ohne diese Frage lasse ich Sie jetzt nicht gehen. Es wird Menschen geben, die uns hören und die sagen, das überzeugt mich alles nicht, ich lebe trotzdem lieber auf dem flachen Land. Ist es angeboren? Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse zu der Frage, ob es tatsächlich den Typus Stadtmensch und den Typus Landmensch grundsätzlich gibt?
Adli: Ich bin überzeugt davon, dass es das gibt. Und es gibt zumindest Untersuchungen, die zeigen, dass eher extrovertierte Menschen in Städten, und dann auch gern im Zentrum von Städten wohnen, wohingegen Menschen, die eher die Dinge sehr genau, sehr berechenbar haben, dass die eher Stadtrandlagen oder dann vielleicht auch eher eine ländliche Umgebung bevorzugen. Natürlich gibt es da Mentalitätsunterschiede, Mentalität spielt da eine ganz große Rolle.
Kassel: Mazda Adli. Er ist Psychiater, Psychotherapeut in Berlin, und er ist Autor des Buches "Stress and the City", das heute im C.-Bertelsmann-Verlag erscheint. Herr Adli, ich wünsche Ihnen viel Spaß in der Stadt und, wie man auch in Ihrem Buch lernt, ab und zu als Abwechslung gern auch mal auf dem flachen Land. Ich danke Ihnen, dass Sie bei uns waren!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Mazda Adli: Stress and the City. Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind
C. Bertelsmann, München 2017
384 Seiten, 19,99 Euro