Streitfall Hartz-IV-Sanktionen

Das Existenzminimum ist nicht verhandelbar!

Illustration: Menschen stehen an, um mit einem Mann zu sprechen, der an einem Schreibtisch sitzt.
Eine kaltherzige und kostspielige Sozialpolitik des Mangels - so sieht der Ökonom und Philosoph Philip Kovce Hartz IV. © imago stock&people
Ein Standpunkt von Philip Kovce · 15.01.2019
Einmal mehr steht Hartz IV vor Gericht: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen und Kürzungen für den Fall, dass sich Hartz-IV-Empfänger einer Maßnahme verweigern. Höchste Zeit, Hartz IV ad acta zu legen, sagt Philip Kovce.
Wenn das Bundesverfassungsgericht dieser Tage über eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha verhandelt, dann steht in Karlsruhe mal wieder zur Debatte, was vor rund anderthalb Jahrzehnten in Berlin seinen unrühmlichen Ausgang nahm: nämlich das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, im Volksmund Hartz IV genannt.

In früheren Verfahren erklärten die Karlsruher Richter bereits die Struktur der Hartz IV administrierenden Jobcenter und die Hartz-IV-Regelsätze teilweise für verfassungswidrig. Zugleich bekräftigten sie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – und zwar mit Verweis auf die Menschenwürdegarantie des Artikel 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 des Grundgesetzes.

Existenzminimum wird Verhandlungssache

Und genau darum geht es diesmal: Es soll geklärt werden, ob Hartz IV das Grundrecht eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzt, wie es das Sozialgericht Gotha vermutet. Wer sich den oftmals zweifelhaften Vorgaben der Jobcenter widersetzt und beispielsweise ein unpassendes Arbeitsangebot ausschlägt oder eine unsinnige Weiterbildungsmaßnahme verweigert, dem drohen die ersatzlose Kürzung oder gar Streichung des Existenzminimums. Das gibt allemal Anlass zu der Vermutung, dass Hartz IV das Existenzminimum gerade nicht garantiert, sondern im Gegenteil zur Verhandlungssache degradiert.
Sollte das Bundesverfassungsgericht an seine bisherigen Hartz-IV-Urteile anknüpfen, so spricht vieles dafür, dass es mindestens große Vorbehalte gegen die Hartz-IV-Sanktionen äußert. Doch ganz unabhängig von dieser höchstrichterlichen Entscheidung ist es höchste Zeit, Hartz IV politisch ad acta zu legen.
Hartz IV steht keineswegs sinnbildlich für moderne Berufsberatung, Jobvermittlung und Existenzsicherung, die fördern und fordern. Es steht vielmehr für überholte Kontrollbürokratie, Arbeitszwang und Existenzangst, die lähmen und langweilen. Es ist ein milliardenverschlingendes Verwaltungsmonster, das einer Überflussgesellschaft entstammt, die es nicht lassen kann, eine kaltherzige und kostspielige Sozialpolitik des Mangels zu betreiben.

Der Sozialstaat als Besserungsanstalt

Wer angesichts von Digitalisierung und Individualisierung tatsächlich fördern und fordern will, der darf nicht überwachen und strafen. Er hat stattdessen dafür zu sorgen, dass das Existenzminimum jedes Einzelnen sanktionsfrei garantiert wird. Es gibt keinen besseren Weg, schlechte Arbeit zu verhindern und gute zu ermöglichen.
Wer das nicht zulassen und anderen weiterhin mit dem Entzug des Existenzminimums drohen will, der schwingt sich zum Scharfrichter über sie auf. Er missbraucht den Sozialstaat als Besserungsanstalt und verwechselt Grundrechte mit Gefälligkeiten. Er misstraut den anderen, die er pauschal als faulenzende, sozialschmarotzende Leistungsverweigerer abstempelt, und versteht nicht, dass sie ihm gerade dann am besten dienen können, wenn er sie freilässt.
Wer mit sich selbst und seiner Tätigkeit im Reinen ist, der muss sich von niemandem, der nicht arbeitet, ausgebeutet fühlen. Er kann die Freiheit der anderen gleichermaßen schätzen wie die eigene und wird deren Existenz nicht gefährden wollen. Solange wir hingegen die Existenz anderer aufs Spiel setzen, um deren Wohlverhalten zu erzwingen, sind wir im Grunde genommen von unserer eigenen Freiheit noch ebenso weit entfernt wie von einer freien Gesellschaft.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht am Basler Philosophicum sowie an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an und veröffentlichte gemeinsam mit Daniel Häni die Bücher "Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt" (2015) sowie "Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre? Manifest zum Grundeinkommen" (2017).

Philip Kovce - 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Kunst- und Literaturpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
© Ralph Boes
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