Streit um Zugang zu Lebensmittel-Spenden

"Hartz-4-Sätze müssen dringend angepasst werden"

In der Ausgabestelle der Essener Tafel werden Lebensmittel einsortiert. Die Essener Tafel will keine nichtdeutschen Neukunden mehr aufnehmen.
In der Ausgabestelle der Essener Tafel werden Lebensmittel einsortiert. Die Essener Tafel will keine nichtdeutschen Neukunden mehr aufnehmen. © picture alliance / Roland Weihrauch/dpa
Ulrich Lilie im Gespräch mit Ute Welty · 24.02.2018
Ulrich Lilie fordert von der Bundespolitik einen "neuen Ansatz in der Armutsbekämpfung". Hilfsinitiativen wie die Tafel-Bewegung dürften nicht allein gelassen werden, sagte der Diakonie-Präsident anlässlich der Diskussion, ob eine Lebensmittel-Ausgabe nur an Bedürftige mit deutschem Pass berechtigt sei.
Nachdem die Essener Tafel einen Aufnahme-Stopp für Bedürftige ohne deutschen Pass verhängt hat, fordert der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, die Politik auf, die Hilfsorganisation mit dem Armutsproblem in Deutschland nicht allein zu lassen.
Im Deutschlandfunk Kultur sagte er: "Es ist einfach so, dass in vielen Städten, und gerade auch in den Regionen, Stadtteilen und Ballungsräumen, wo eben schon relativ viele bedürftige Menschen leben, jetzt noch zusätzlich Menschen kommen, die eben als geflüchtete Menschen, als Menschen mit anerkanntem Status weitere Bedarfe haben. Die treffen da jetzt alle aufeinander, und das erfordert dann eine gute Abstimmung miteinander."

"Ich hoffe, dass das jetzt auch mal ein Warnlicht war"

Die Tafeln nannte Lilie eine "wunderbare Bewegung", die an vielen Stellen Not lindere und etwa 1,5 Millionen Menschen versorge. "Aber die sind eben keine Antwort auf das strukturelle Armutsproblem in Deutschland."
Es gebe immer mehr Menschen in Deutschland, die "relativ arm" seien, also mit weniger als 900 Euro im Monat leben müssten. Um deren Situation zu verbessern, sei eine Anhebung der Hartz-4-Sätze unvermeidlich. "Die Regelsätze müssen dringend angepasst werden", forderte Lilie. Er hoffe, "dass das jetzt auch mal ein Warnlicht war". Die aus seiner Sicht unglückliche Entscheidung der Essener Tafel sei "ein klares Indiz für Versäumnisse in der Politik".
(huc)

Das Interview mit Ulrich Lilie im Wortlaut:

Ute Welty: Vor 25 Jahren wurde die erste Tafel in Berlin gegründet. Die in Essen steht jetzt im Zentrum einer hitzigen Diskussion. Dort hat man die Entscheidung getroffen, dass Neukunden nicht nur ihre Bedürftigkeit nachweisen müssen, sondern auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die deutschen Tafeln sind sehr unterschiedlich organisiert. Die in Essen beispielsweise ist ein eigenständiger Verein, andere Tafeln werden von der Caritas oder der Diakonie getragen. Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie, guten Morgen, Herr Lilie!
Ulrich Lilie: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie nehmen Sie die Diskussion wahr, die um die Essener Tafel entbrannt ist?
Lilie: Ja, die Diskussion ist notwendig und die Entscheidung war einfach sehr unglücklich. Ich hätte mir gewünscht, dass die Betroffenen, die sicherlich vor Ort auch eine sehr zugespitzte Situation haben – darüber sollten wir gleich reden –, sich Beratung geholt hätten, sich mit dem Sozialdezernenten der Stadt zusammengesetzt hätten und gesagt hätten, wir haben hier ein Problem, wir brauchen Unterstützung. Da wäre sicherlich eine gute und andere Lösung findbar gewesen. An den Tafeln geht es nach der Selbstverpflichtung der Tafeln um Bedürftigkeit und nicht um Pass, Ethnie. Man stelle sich einfach mal vor, man hätte gesagt, jetzt dürfen nur noch Frauen oder nur noch Männer kommen, dann sieht man, dass das als Entscheidung nicht funktioniert.
Welty: Wenn Sie von einer schwierigen Situation sprechen, wie erleben Sie das in Ihren Einrichtungen? Was ist noch zu schaffen und was übersteigt die Kräfte und die Ressourcen?

"Wir brauchen einen neuen Ansatz in der Armutsbekämpfung"

Lilie: Ja, es ist einfach so, dass in vielen Städten und gerade auch in den Regionen, Stadtteilen und Ballungsräumen, wo eben schon relativ viele bedürftige Menschen leben, jetzt noch zusätzlich Menschen kommen, die eben als geflüchtete Menschen, als Menschen mit anerkanntem Status weitere Bedarfe haben. Die treffen da jetzt alle aufeinander und das erfordert dann eine gute Abstimmung miteinander. Und ich glaube, das ist ein Integrationsproblem, das ist ein Problem aber auch der Armutsbekämpfung in Deutschland, und dazu brauchen wir eben kommunale runde Tische, da müssen alle, die sich um Hilfe, und zwar strukturell, politisch verantwortlich, ehrenamtlich …, an einen Tisch setzen. Da, wo das passiert, gibt es meistens im Vorfeld sehr gute Abstimmungen und sehr viel weniger Probleme, aber das brauchen wir. Und wir brauchen wirklich noch mal einen neuen Ansatz in der Armutsbekämpfung in Deutschland.
Welty: Aber das heißt doch erst mal im Klartext, dass Hilfe budgetiert werden muss, dass Hilfe verteilt werden muss. Nach welchen Kriterien soll das denn passieren?
Lilie: Also nicht budgetiert werden muss, man muss gucken …
Welty: Na doch, es gibt ja immer nur einen bestimmten Bestandteil von Hilfe oder von … ja, von Lebensmitteln beispielsweise auch, die zur Verfügung stehen.

"Keine Antwort auf das strukturelle Armutsproblem"

Lilie: Ja, also das können die Tafeln eben nicht alleine regeln, das muss man einfach sagen. Die Tafeln sind ja eine ganz wunderbare Bewegung, die hier an vielen Stellen Not lindern, 1,5 Millionen Menschen werden da versorgt, da engagieren sich 50.000 bis 60.000 Ehrenamtliche im Jahr, das ist ja erst mal eine ganz wunderbare Initiative.
Aber sie sind eben keine Antwort auf das strukturelle Armutsproblem in Deutschland. Wir haben eben immer mehr Menschen, die relativ arm sind. Wir reden hier von relativer Armut, in einem reichen Land, aber immerhin, das sind Leute, die mit weniger als 900 Euro im Monat leben müssen, sonst kriegen sie gar keinen Schein. Und da müssen wir politisch dran, da müssen wir sagen, was tun wir gemeinsam in der Politik? Und das darf man nicht den Tafeln alleine überlassen.
Welty: Welche Hilfestellung wünschen Sie sich konkret von der Politik?
Lilie: Ja, wir müssen zumindest in den Regionen, in den Kommunen, wo wir wissen, dass es so viele Menschen gibt, die hilfsbedürftig sind, eben dann auch strukturell mehr tun. Das heißt, da braucht man dann in der Tat mehr Mittel, da braucht man aber vor allen Dingen auch bessere Abstimmung, damit man solche Dinge im Vorfeld vernünftig plant, und dass es da nicht zu solchen Unfällen kommt wie in Essen.
Welty: Haben Sie denn eine alternative Idee für eine Situation wie die in Essen? Also die politische Lösung ist ja immer eine, ich sage mal, längerfristige, wenn nicht langfristige. Und dieses Problem muss ja jetzt sofort eigentlich gelöst werden.

"Ein klares Indiz für Versäumnisse in der Politik"

Lilie: Ja, ich glaube, das sollten die Leute vor Ort klären. Ich will da von außen keine Ratschläge geben, aber ich könnte mir eben vorstellen, dass man sagt, man hat unterschiedliche Sprechzeiten, man hat Möglichkeiten, wie man die Menschen noch mal darauf hinweist, wie man sich da anstellt, was man wirklich auch verlangt von denen, die sich da anstellen. Also das kann man zum Teil durch Kodizes, aber einfach auch durch eine gute Strukturierung lösen. Noch mal, ich glaube, das ist eben auch ein Hinweis darauf, dass vor Ort in Essen ein hoher Abstimmungsbedarf auch mit der Politik besteht.
Welty: Ist zu befürchten, dass Konflikte dieser Art noch zunehmen werden?
Lilie: Ich hoffe, nicht. Ich hoffe, dass das jetzt auch mal ein Warnlicht war, auch für die politisch Verantwortlichen in den unterschiedlichen Teilen in Deutschland, wo diese Fragen sich stellen, aber eben auch in der Bundespolitik. Wir müssen darüber reden, wie wir mit Armut strukturell umgehen wollen, wie wir die Hartz-IV-Sätze besser machen, das ist eine Forderung, die wir mit vielen anderen Wohlfahrtsverbänden und anderen seit Langem stellen, die Regelsätze müssen dringend angepasst werden. Da sagen die Koalitionäre hoffentlich von morgen, dass sie sich darum kümmern wollen, das müssen sie nun dringend tun. Also noch mal, das ist auch ein klares Indiz für Versäumnisse in der Politik.
Welty: Sie hoffen es nicht, aber befürchten Sie es?
Lilie: Ich … Also die Hoffnung stirbt zuletzt und … Also wir sind da immer auch mit Hoffnung unterwegs, sind auch in konstruktiven Gesprächen, auch mit der Politik. Also ich glaube, dass man mit Plänen in die eine oder andere Richtung da nicht weiterkommt, sondern da ist Handlungsbedarf und da müssen alle Beteiligten Verantwortung übernehmen.
Welty: Da spricht der Optimist Ulrich Lilie. Wie viel Hilfe für wen – eine Frage, die ihn auch beschäftigt als Präsident der Diakonie. Herr Lilie, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!
Lilie: Ja, sehr gerne, Wiedersehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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