Streit um Kassensitze

Ärger für angehende Psychotherapeuten

08:04 Minuten
Schild mit der Aufschrift "Wartezimmer" an einer Tür.
Besonders in Coronazeiten sind die Wartelisten für Psychotherapieplätze lang. © Imago / Shotshop
Von Benedict Weskott · 08.02.2021
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Viele Patienten warten Monate auf eine psychotherapeutische Behandlung. Dabei gibt es ausreichend junge, ausgebildete Therapeutinnen. Die können aber oft die Behandlung nicht übernehmen, wegen Vorgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen.
Seit etwas über einem Jahr ist Niklas Lottes ausgebildeter Psychotherapeut. Und schon jetzt müssen neue Patientinnen und Patienten über ein Jahr auf einen Termin bei dem 30-Jährigen warten. Seine Gemeinschaftspraxis liegt im Rhein-Erft-Kreis zwischen Köln und Mönchengladbach: ein Gebiet, das laut der offiziellen Statistik deutlich überversorgt ist.
Rund 100 Psychotherapeutinnen und -therapeuten praktizieren hier heute. Der festgelegte Bedarf wird damit um 64 Prozent übertroffen. Wie viele Psychotherapeutinnen welche Region braucht, das wurde vor gut 20 Jahren in der Bedarfsplanung für ganz Deutschland festgelegt und seitdem mit komplizierten Berechnungen anhand der aktuellen Bevölkerungszahlen weitergeschrieben. Aus Niklas Lottes' Sicht geht dieses Berechnungssystem der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) aber an der Realität vorbei.

"Das Problem ist sozusagen, dass der Bedarf einfach bei den Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen anders berechnet wird als bei den Therapeuten. Die Therapeuten gucken auf ihre Wartelisten und gucken, wie viele Patienten sie da haben. Die Kassen und die Kassenärztliche Vereinigungen gucken halt, was sie damals vereinbart haben."
"Kassensitz" lautet für Niklas Lottes das Stichwort. Denn darüber können Ärztinnen und Psychotherapeuten ihre Tätigkeit überhaupt erst mit den Krankenkassen abrechnen. Wer Therapeutinnen oder Therapeuten ohne Kassenzulassung besucht, muss selbst zahlen oder aufwendige Anträge bei der eigenen Krankenkasse stellen.

Nachfrage nach Kassensitzen ist hoch

Weil Deutschland laut der offiziellen Zahlen aber in nahezu allen Ecken überversorgt mit Psychotherapeutinnen ist, gibt es nur in einer Handvoll Landkreise noch freie Kassensitze. Anderswo können sie nur von Kolleginnen oder Kollegen, die in Rente gehen, übernommen werden – und zwar laut Niklas Lottes zu Preisen von bis zu 100.000 Euro für einen halben Kassensitz in Köln. Aus Sicht von Anke Schliwen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist das aber eher ein Problem der Nachfrage.
"Die Psychotherapeuten haben eine große Nachfrage nach Kassensitzen. Wir planen das, was sozusagen in der Versorgung benötigt wird. Wir planen aber nicht das, was ausgebildet wird. Das heißt, es gibt sehr viel mehr Psychotherapeuten, die aus dem System herauskommen, als letztendlich Kassenvertragssitze in der vertragsärztlichen Versorgung frei sind."

Viele Therapeutinnen, viele Patienten, keine Lösung

Diese Situation hält Niklas Lottes für paradox. In einer Petition fordert er mit drei weiteren, jungen Psychotherapeutinnen und -therapeuten ein faireres Vergabesystem. Ihren Forderungen zufolge soll der Preis für einen Kassensitz gedeckelt und nur noch ein Kassensitz pro Person erworben werden können. Derzeit haben schon 55.000 Menschen unterschrieben und berichten in den Kommentaren von ähnlichen Problemen.
"Es ist ja etwas absurd: Auf der einen Seite hat man ziemlich viele arbeitswillige Therapeuten, auf der anderen Seite hat man sehr viele Patienten, aber viele von diesen Therapeuten werden überhaupt nicht richtig rangelassen an die Patienten, weil sie eben diese Kassensitze nicht haben. Das ist eine sehr paradoxe Situation aus unserer Sicht."
Laut aktueller Bedarfsberechnung kommt Kassel mit 160 Therapeutinnen und Therapeuten auf eine Versorgung von fast 250 Prozent. München als Deutschlands drittgrößte Stadt deckt mit 1048 Kassensitzen ebenfalls mehr als das doppelte des Bedarfs und die Lausitz ist demnach mit 19 Psychotherapeutinnen genau richtig versorgt.

Wie viel Bedarf gibt es wirklich?

Nur am Niederrhein gibt es noch mehrere Landkreise mit Unterversorgung. Doch kann das sein? Die Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther von Bündnis 90/Die Grünen war selbst 25 Jahre Psychotherapeutin und glaubt nicht an diese Zahlen. Sie plädiert für eine neue Berechnungsgrundlage und verweist auf eine Studie zur Weiterentwicklung der Bedarfserhebung.
"Diese Studie hat von etwa 2000 zusätzlichen, notwendigen Psychotherapieplätzen gesprochen – und gekommen sind 776. Und da sieht man ja schon die Diskrepanz. Und es gibt andere Untersuchungen, die sprechen jetzt schon von einem Bedarf von zusätzlichen 3000 Plätzen."
Kappert-Gonther sagt einen weiter steigenden Bedarf voraus – durch die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und auch durch die Coronasituation, deren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sich möglicherweise erst verzögert zeigen.
Aus Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sollen psychotherapeutische Sprechstunden und Akutbehandlung Verbesserungen bringen – zwei neue Möglichkeiten vorzusprechen, die 2017 eingeführt wurden und laut Anke Schliwen die Wartelisten deutlich verkürzen werden.

"Es gibt sicherlich auch im Bereich der Psychotherapie eine gewisse angebotsinduzierte Nachfrage – und dann aber auch eine große Nachfrage gerade bei Jüngeren, wo manchmal die Unterscheidung, was ist tatsächlich therapeutischer Bedarf und was nicht, gar nicht so einfach ist. Und im Rahmen dieser psychotherapeutischen Sprechstunde klärt sich aber erst einmal: Ist es tatsächlich ein psychotherapeutischer Behandlungsbedarf oder ist die gegebenenfalls woanders besser aufgehoben und braucht gar nicht so unbedingt eine Richtlinientherapie?"
Ein überfüllter Vorlesungssaal.
Erstsemestereinführung in Köln: Psychologie ist als Studienfach deutschlandweit beliebt.© Picture Alliance / dpa / Rolf Vennenbernd

Vier Monate Wartezeit auf ambulante Behandlung

Momentan spricht Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen aber noch von durchschnittlich vier Monaten Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz. Wenn aber genug Menschen Psychologie studieren und viele Menschen auf eine Therapieplatz warten, wieso finden beide Seiten dann nicht zusammen? Für Niklas Lottes und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter entsteht die Versorgungslücke auch durch die hohen Preise für Kassensitze. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist diese Thematik bewusst.
"Die Vergabe von Kassenarztsitzen ist auch so ein System von Angebot und Nachfrage. Es ist marktwirtschaftlich, muss man ganz ehrlich sagen. Das heißt, dass ein junger Psychotherapeut, der gerade aus der Ausbildung kommt, sich gegebenenfalls mit einem nicht minder großen Kredit in eine Praxis einkaufen muss."
Niklas Lottes sieht hier eine systematische Benachteiligung von Berufseinsteigerinnen und -einsteigern, die zwischen Selbstständigkeit und Anstellung keine wirkliche Wahl hätten.
"Nach der Ausbildung, die ja schon Unmengen von Summen erst einmal verschlingt, kommt man da raus, hat die Möglichkeit sich anzustellen, hat natürlich oft den Wunsch, einen Sitz zu kaufen, hat das Geld aber dafür kaum – oder auch wenig Chancen, da einen zu bekommen im Endeffekt."

Wahlmöglichkeiten verbessern

Aus seiner Sicht könnten diese Bedingungen auch der Grund für den Trend zur Anstellung sein: Von den 25.000 Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Deutschland arbeiten mittlerweile gut sieben Prozent in Angestelltenverhältnissen, also in Gemeinschaftspraxen oder Medizinischen Versorgungszentren auf einem Kassensitz, der ihnen nicht selbst gehört. Dort profitieren sie von Urlaubszeiten, Krankenversicherung oder besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie, verdienen aber auch deutlich weniger Geld.
Um die Wahlmöglichkeit zu verbessern und die Kosten für Kassensitze zu senken, schlägt die grüne Bundestagsabgeordnete Kappert-Gonther eine deutliche Ausweitung der Zahl von Kassensitzen vor.
"Wenn man zusätzliche psychotherapeutische Plätze ausloben würde – und das würde ja dem Bedarf entsprechen –, dann hätten es die Kolleginnen und Kollegen leichter, auch an die entsprechenden Sitze zu kommen."
Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das kürzere Wartezeiten auf eine Behandlung und ein vielfältigeres Angebot an Therapieplätzen. Nach der Anhebung der Kassensitze vom letzten Jahr scheint es aber derzeit nicht so, als würde sich an der Kassensitzvergabe oder der Bedarfsberechnung grundsätzlich etwas ändern – vor allem solange Politik und Kassenärztlichen Vereinigungen von Corona in Atem gehalten werden. Niklas Lottes und seine drei Mitstreiterinnen und Mitstreiter wollen deshalb weiter das Gespräch suchen, um ihr Anliegen voranzubringen.
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