Streit um ein trockenes Thema

Von Almuth Knigge |
Die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern hat die "vermutlich radikalste Reform" ("FAZ") beschlossen. Aus zwölf Landkreisen und sechs kreisfreien Städten sollen nun fünf neue Kreise werden. Die Landes-CDU wehrt sich heftig dagegen, sieht die "Bürgernähe" gefährdet und auch eigene Wahlchancen.
Mecklenburg-Vorpommern - Naturparadies mit Ostseeküste, einsamen Sandstränden, unendlichen, goldleuchtenden Rapsfeldern und dunklen, verwunschenen Wäldern - beliebtes Urlaubsziel der Deutschen. Viel Platz, wenig Menschen, Ruhe pur. Außer wenn gerade Hochsaison ist. Oder wenn es um die Verwaltungsreform im Allgemeinen und die Kreisgebietsreform im Besonderen geht.

Merkel: "Mir muss mal einer erklären, warum ausgerechnet in dem dünnbesiedeltsten Land der Bundesrepublik Deutschland die größten Landkreise der Bundesrepublik Deutschland existieren müssen."

Die Kanzlerkandidatin der Union in ihrem Wahlkreis am Rande der Republik.

Prof. Helmut Seitz von der Technischen Universität Dresden, renommierter Verwaltungsexperte, der für die Landesregierung eine Studie über die ökonomischen und fiskalischen Aspekte der Reform erstellt hat. Er würde auf die Frage am liebsten keine Antwort geben.

Seitz: "Vielleicht erklärt es ihr jemand mal."

SPD-Innenminister Gottfried Timm zum Beispiel:

"Dieses Land lebt in seiner Verwaltung weit über seine Verhältnisse. Wir müssen, wenn sie dieses land zukunftssicher machen wollen, die Bürokratie deutlich entschlacken. Und dem dient auch die Reform der oberen Landesverwaltung. Wir werden mit einer Reform auch der Landkreise langfristig dieses Land in die Zukunft führen."

Die Verwaltungsmodernisierung ist radikal und umstritten, ihr Herzstück ist die Kreisgebietsreform. Aus jetzt noch zwölf Kreisen sollen fünf, im besten Fall aber vier Kreise werden; kreisfreie Städte soll es gar nicht mehr geben.

Zu viel Personal für zu wenige Menschen – eine Entwicklung, unter der ganz Deutschland leidet, aber der Osten ganz besonders. Die Strukturen, die nach der Wiedervereinigung 1990 eingesetzt wurden, waren ein paar Nummern zu groß, ist Prof. Seitz überzeugt.

Seitz: "Ich glaube ein Kernfehler war der folgende: Was man einfach in Ostdeutschland gemacht hat, man hat gesagt, komm, wir schauen uns die Strukturen an in den alten Ländern. Und dann gucken wir, wie wird das gemacht. Und so stricken wir das, weil man sonst keine anderen Ideen hatte. Und ich glaube, das war ein weiterer entscheidender Fehler: Man hat sich an bereits überkommenden Strukturen in den alten Ländern orientiert. Und deswegen fehlte der innere Mut mal neue, innovative Schritte zu gehen. Stattdessen hat man den alten Plunder genommen und auf Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen oder Sachsen-Anhalt übertragen."

Damals, also vor der Reform in Mecklenburg-Vorpommern. Beim Schulsystem hat sich das Land an Bayern orientiert, bei der Polizei an Niedersachsen, beim Aufbau der Kommunen an Schleswig-Holstein. Heute zeigt sich: Das alles hat nicht gepasst. Auf 1000 Bewohner kommen heute 25 Landesbedienstete, der bundesweite Durchschnitt liegt bei gut 19. Verschwenderischer Luxus im Armenhaus der Republik.

Keler: "Wir können uns solche hohen Personalüberhänge nicht mehr leisten, weil unsere Einnahmen in Zukunft aus dem Solidarpakt II ab 2009 zurückgehen. Und aufgrund der Bevölkerungsrückgänge verlieren wir auch im Länderfinanzausgleich deutlich an Einnahmen. Wir müssen uns bei unseren Ausgaben unseren Einnahmen anpassen. Wenn wir das nicht machen würden, dann sehe ich die Gefahr, dass wir ab 2015 keinerlei Handlungsspielräume mehr beim Haushalt hätten und die Eigenständigkeit des Landes wäre hochgradig gefährdet."

Finanzministerin Sigrid Keler muss mehr als ein Viertel des Haushalts für das Personal verwenden, statt das Geld für Infrastruktur und Wirtschaftsförderung freizugeben. Künftig werden die Kassen noch dürftiger gefüllt sein, weil der Solidarpakt II, der den Osten erblühen lassen soll, degressiv gestaltet ist. Deshalb bekommt Mecklenburg-Vorpommern aktuell noch 1,1 Milliarden Euro überwiesen, aber von 2008 an sinkt die Summe um 80 Millionen pro Jahr. Und einen zweiten Denkfehler machte man Anfang der 90er Jahre - man setzte auf Wachstum. Eine geradezu fatale Annahme.

Seitz: "Dieser Prozess der Kreisgebietsreform 1994, der ist ja zeitgleich in allen ostdeutschen Ländern gelaufen. Man darf nicht vergessen, wir hatten damals noch völlig aberwitzige Vorstellungen im Hinblick auf die ökonomische und demografische Entwicklung in Ostdeutschland. Ich glaube, es war im Jahr 1995, da hat Halle, das Wirtschaftsinstitut, noch steigende Bevölkerungszahlen für Ostdeutschland prognostiziert. Dass das ganz anders gekommen ist, wissen wir. Man ist von völlig falschen Annahmen ausgegangen im Hinblick auf Demografie und wirtschaftliche Entwicklung."

Denn heute regiert allerorten Schrumpfung. Das Heer, das die Länder verwaltet, zählt unter diesen Voraussetzungen zu viele Köpfe. Man spiele "Verwaltung verwalten", schimpfen der Ministerpräsident Harald Ringstorff und sein Innenminister Gottfried Timm. Und die Gehälter binden Mittel, die eigentlich die Wirtschaft anschubsen sollen. Kürzlich brachte die SPD/PDS-Regierung ihr Modell in den Landtag ein.

Timm: "Ich freue mich, ihnen heute den Gesetzentwurf zur Veraltungsmodernisierung vorstellen zu können."

Das Prinzip seiner Verwaltungsreform lautet: Das Land verlagert Aufgaben nach unten - an die Kreise, die wiederum Zuständigkeiten an Städte oder Gemeinden abgeben.

Timm: "Mit diesem Gesetz wollen wir dazu beitragen, dass unser Bundesland zukunftsfähig wird. Weniger Bürokratie, weniger Kosten in der Verwaltung, mehr Leistung, mehr Bürgernähe, bessere kommunale Selbstverwaltung."

Ein Plus an Handlungsspielraum soll das bringen - zum Beispiel bei Unternehmensansiedlungen, erklärt Verwaltungsexperte Seitz.

Seitz: "Und insbesondere ist ja auch sinnvollerweise vorgesehen, das die zukünftigeren größeren Kreise in MV auch mehr Funktionen übernehmen. Und das würde dann bedeuten, dass die Unternehmen mehr Services in einer Hand in ihrer Kreisverwaltung vorfinden würden. Und dann gebe es auch klarere Verantwortlichkeiten. So kann man immer wieder Verantwortungen hin- und herschieben - die Ansiedlung hat nicht geklappt, weil die oder jene untere Landesbehörde oder weil die oder jene Kreisabteilung geschludert hat. Jetzt sind die Verantwortungsstrukturen eigentlich völlig klar. Und solche Strukturen kann man eigentlich sinnvollerweise nur in größeren Kreisstrukturen schaffen."

Die Zahl der Landesbehörden sinkt von 195 auf 104. Die Kreise übernehmen in einem ersten Schritt unter anderem die Bereiche Umwelt, Landwirtschaft und Raumordnung; Landesämter wie die für Straßenbau und für Forsten fallen weg. Insgesamt sollen rund 10.000 Beamte und Angestellte - das ist gut ein Viertel - eingespart werden. Sozialverträglich, darauf legt die Landesregierung Wert. Auch vor ihr soll der Sparkurs nicht Halt machen – zwei Ministerien, das ist klar, sollen noch in diesem Jahr eingespart werden. 180 Millionen Euro pro Jahr soll das an Ersparnis bringen.

Timm: "Mit einer Neuaufstellung der Verwaltung in MV, bei der weit über 120 Behörden aufgelöst werden, werden wir die Dynamik, die um uns herum für Entwicklung sorgt… "

Gemeint ist zum Beispiel der Ballungsraum Hamburg

"…auch langfristig für unser Land nutzbar machen."

Ein erster Schritt der Verwaltungsreform ist schon so gut wie abgeschlossen – die Ämterfusion. Zumeist haben sich bereits bestehende Ämter zu größeren Einheiten zusammengeschlossen. Künftig sollen nicht weniger als 8000 Menschen zu einem Amt gehören. Und nicht weniger als 5000 zu einer amtsfreien Gemeinde. Mittelfristig sollen durch die neuen Ämter zwölf Millionen Euro im Jahr eingespart werden, hofft der Innenminister.

Timm: "Bei der Kreisgebietsreform 1994 galt als ein wichtiger Maßstab, dass ein Landkreis in der Regel mehr als 100.000 Einwohner haben soll. Wenn wir uns heute die vorpommerschen Kreise anschauen, stellen wir eine dramatische Entwicklung fest."
Angesichts der demografischen Entwicklung mache es keinen Sinn, sagen Experten über ganz Ostdeutschland, dass zum Beispiel immer mehr Kindergartenplätze vorgehalten werden, die dann doch unbesetzt bleiben.

Timm: "Ich will ihnen das mal an den Zahlen erläutern, Nordvorpommern hatte 1994 mehr als 117.000 Einwohner, 2020 wird es etwa 89.000 haben…"
Manche Kreise verzeichnen in 30 Jahren einen Einwohnerverlust von mehr als 40 Prozent. In dieser Klemme ist Innenminister Timm vor zweieinhalb Jahren mit seiner Verwaltungsreform vorgeprescht. Das er das Modell über die "Schweriner Volkszeitung" in die Öffentlichkeit brachte, anstatt vorher alle beteiligten Gremien ins Boot zu holen, ist heute ein Grund dafür, dass die Fronten bei der Diskussion so verhärtet sind wie bei Oppositionsführer Eckart Rehberg.

Rehberg: "Das ist schon eine Politik nach Gutsherrenart, die nach meiner Auffassung auch an Rechtsbruch grenzt. Es gibt eine klare Definition, und deswegen kann man den Innenminister nur dringend auffordern, die Kirche im Dorf zu lassen."
Deshalb fühlte sich Ministerpräsident Harald Ringstorff im Landtag zu einem Appell bemüßigt.
Ringstorff: "Ich hoffe, dass es uns gelingt, noch mehr von der Notwendigkeit der Reform zu überzeugen. Natürlich ist Landrat zu sein eine schöne Aufgabe, die man nicht so gerne aufgibt. Aber ein Sachargument ist das nicht."

Ein Seitenhieb - denn die "Blockierer" sind recht deutlich auszumachen: der Landkreistag, allen voran sein Präsident. Die Haltung von Wolfgang Molkenthin ist in Stein gemeißelt.

Molkenthin: "Die im Augenblick im Gesetz stehenden fünf Landkreise sind ein Verlust an kommunaler Selbstverwaltung, das Ehrenamt wird stark beschädigt. Das sind alles Gründe, neben der nicht ausgeloteten finanziellen Ausstattung, dass wir sagen, dieses lehnen wir ab."

Eine Haltung, die der Innenminister nicht nachvollziehen kann.

Timm: "Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass der Landkreistag sagt, die Kreise sind in Ordnung und leistungsfähig und brauchen sich der Reform und damit der zukünftigen Herausforderungen nicht zu stellen Auch die Landkreise sind Teil der Verwaltung und müssen sich den Reformbemühungen, die wir hier betreiben, stellen."

Die Alternative bzw. die Kritik hat der Landkreistag just letzte Woche auf 310 Seiten dem Sonderausschuss für Verwaltungsreform übergeben. Hierin plädiert er, die vom Land beabsichtigte Aufgabenübertragung auf die Kreise zu beschleunigen – vom "Nein", was die Reduzierung der Kreise angeht, weicht er partout nicht ab.

Geschäftsführer Hubert Meyer: "Wird sind der Meinung, um das bewerkstelligen zu können, was das Land an Neuordnung von Aufgaben vorschlägt, bräuchte man überhaupt keine neuen Landkreise."

Timm: "Ich sag aber noch einmal ganz klar: Auch die Landkreise müssen sich einbeziehen lassen in die Entbürokratisierung und den Abbau der Verwaltungsstrukturen. Ohne Kreisgebietsrefom wird es nicht gehen."
Doch die Frage bleibt im Raum:
Merkel: "Mir muss mal einer erklären, warum ausgerechnet in dem dünnbesiedeltsten Land der Bundesrepublik Deutschland die größten Landkreise der Bundesrepublik Deutschland existieren müssen."

Der kommunalpolitische Sprecher der SPD, Heinz Müller, dreht die Frage um:

Müller: "Wir müssen uns doch als Erstes mal fragen, inwieweit sind das denn die größten Landkreise? Von der Einwohnerzahl sind das durchaus nicht die Größten, da gibt es bereits jetzt größere. Und es werden in anderen Bundesländern ja bereits Überlegungen angestellt, an der Struktur der Landkreise etwas zu ändern. Was die Fläche angeht, wären wir in der Tat die größten Landkreise in Deutschland, aber die Frage ist, ob dieses denn wirklich ein unüberbrückbares Problem darstellt."

Die Gegner der Reform - und die sind zahlreich und mächtig - sagen "ja". Die PDS, seit sieben Jahren Juniorpartnerin in der Regierung, fürchtet um ihre starke Stellung in den Kommunen. Ebenso die CDU: Sie ist die stärkste Kommunalpartei in Mecklenburg-Vorpommern und gewann bei den zurückliegenden Landratswahlen einen Kreis nach dem anderen hinzu. Offiziell sind die Timm-Gegner "für die Verlagerung von Aufgaben, aber gegen die Kreisreform". Eine Angst eint die Kritiker: Dass die neue Struktur Bürgerfeme statt Bürgernähe schafft. Und das Besitzstände wegfallen. Beides lässt Prof. Seitz nicht gelten:

"Wir kümmern uns um die Bürger und nicht um die Lokalfürsten."

Der stärkste Gegenwind kommt also aus den Kommunen. Mehrere Kreise und Städte haben angekündigt, gegen das Reformgesetz vor das Verfassungsgericht zu ziehen – unter anderem eben wegen mangelnder Bürgernähe.

Seitz: "Ich denke, die Bürgernähe ist doch primär eine Angelegenheit, die den Kontakt des Bürgers mit seiner örtlichen Verwaltung in der Wohnortgemeinde anbelangt. Wenn wir alle mal vernünftig sind und darüber nachdenken, wie oft wir im Jahr eine Kreisverwaltung kontaktieren, dann werden wir ehrlicherweise feststellen, dass wir kaum über einen Faktor von 0,5 oder 0,8 hinauskommen."

Außerdem sei ja gerade das Ziel der Reform, dass die Verwaltungen näher an die Bürger kommen. Alle Behörden sollen künftig miteinander vernetzt werden, so dass der Bürger nur noch eine einzige Anlaufstelle kennt - das Rathaus. "E-Government" heißt ein Modewort hierfür, "Deregulierung" ein anderes.

Die Frage der Kanzlerkandidatin:

Merkel: "Mir muss mal einer erklären, warum ausgerechnet in dem dünnbesiedeltsten Land der Bundesrepublik Deutschland die größten Landkreise der Bundesrepublik Deutschland existieren müssen."

Die Frage stellen sich, allerdings etwas anders, auch die verantwortlichen Landesregierungen in Magdeburg und Dresden. Dort liegen die Konzepte schon im Landtag. Auch Thüringen und Brandenburg denken über einen Umbau der Strukturen nach … und haben auch schon ab und zu mal Späher in den Nordosten geschickt, um zu schauen, wie die Mecklenburger mit ihrer Reform vorankommen.

Seitz: "Mittlerweile sind wir in der Denke doch soweit, dass wir sehen, wir haben in Ostdeutschland andere Probleme, wir haben größere Herausforderungen und wir brauchen in Ostdeutschland viel mehr Mut für Reformen und Innovation als in den alten Ländern, wir sollten Vorzeigeregion für Deutschland werden. Und vielleicht werden wir das ja auch mal."

Timm: "Ich hoffe, dass wir in MV Schrittmacher sind und das das Wort von Bismarck, dass hier alles 50 Jahre später eintritt, auch gerade bei diesem Thema ad absurdum geführt werden kann."