Laut Tagesspiegel wies Gesundheitsminister Gröhe (CDU) 2017 intern das BfArM an, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zur Sterbehilfe nicht umzusetzen.
"Am Ende möchte ich selbst bestimmen"
Unheilbar Kranken muss der Staat in Ausnahmefällen den Zugang zu tödlichem Gift erlauben. So entschied es das Bundesverwaltungsgericht 2017. Aber das Gesundheitsministerium wies die zuständige Behörde intern an, das Urteil nicht umzusetzen. Den Betroffenen rennt die Zeit davon.
Hans-Jürgen Brennecke greift zur Gießkanne und taucht sie in die Regentonne, bis die Kanne vollgelaufen ist mit Wasser. Mit langsamen Schritten trägt er sie durch den Garten, macht eine kurze Pause, atmet durch. Unter dem Apfelbaum sitzen seine Tochter und seine Ex-Frau im Schatten.
Bald feiert Brennecke seinen 74. Geburtstag. Wenn vorher nicht der Krebs zurückkommt. Das kann jederzeit passieren, und für diesen Fall will er vorsorgen.
"Vom Antrag weißt du nichts? Doch!"
"Na, dass du da dran bist. Also ich würde es voll unterstützen. Da bin ich ganz auf Hans-Jürgens Seite."
Letzten Herbst hat Hans-Jürgen Brennecke einen Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM, gestellt. Darin bittet er um die Freigabe von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital – eine Dosis, die genügt, um sich damit das Leben zu nehmen.
Seine Tochter und seine Ex-Frau können verstehen, warum Brennecke einen Selbstmord in Betracht zieht, sollten seine Schmerzen unerträglich werden.
"Ich habe eine Weile im Hospiz mitgearbeitet und habe da einige Klienten gesehen, die dankbar gewesen wären, wenn es so einen Weg hier bei uns gegeben hätte."
Um die tödliche Dosis Betäubungsmittel zu erhalten, hat sich der 73-Jährige auf einen mühsamen und langwierigen Behördenweg eingelassen, der zudem kaum Erfolg verspricht. Seine Ex-Frau überrascht diese Entscheidung nicht.
"Nein, überhaupt nicht. Wir kennen uns ja seit 1977 und ich habe ihn immer als Kämpfer erlebt, egal in welcher Sparte. Ob beruflich oder privat: Es geht immer bis zum bitteren Ende. Deswegen hat es mich überhaupt nicht überrascht. Überrascht hat mich nur, dass nach der Krankheit, die er durchlebt hat, dass er noch die Kraft findet. Ich könnte es mir bei mir nicht vorstellen, weil es mich zu sehr nerven würde."
"Ich hatte tierische Schmerzen"
Vor zweieinhalb Jahren wurde bei Hans-Jürgen Brennecke durch Zufall ein Burkitt-Lymphom entdeckt – eine sehr aggressive Krebsart, die schnell zum Tod führt. Für die Chemotherapie musste er ein halbes Jahr ins Krankenhaus.
"Meine Kraft ist auf 20 Prozent zusammengeschrumpft, aber ich kann alles Einfache noch machen. Ich kann nicht mehr lange laufen oder eine Bierkiste hochheben, aber ich kann mich noch bewegen. Was ich als sehr kostbar empfinde."
Denn im Moment ruht der Tumor. Aber niemand kann sagen, ob Brennecke für immer geheilt ist.
"Ich hatte tierische Schmerzen. Ich war zum Glück alleine im Zimmer, weil ich nicht mal meinen Mund halten konnte, so schmerzhaft war das. Habe mich gekrümmt im Bett. Die Schwester sieht das, ruft einen Arzt an und der sagt: In einer Stunde komme ich. Schon das fand ich eine Frechheit. Wenn einer heftige Schmerzen hat, heißt es in den Sonntagsreden, muss das keiner ertragen in unserem Gesundheitssystem. Ja, Pustekuchen! Wenn ein Arzt nicht will, dann geht nichts. Ohne Begründung. Das sei nicht so schlimm. Und das geht auch bald vorbei. Und diese Erfahrung hat mich auch darin bestärkt zu sagen: Ich möchte am Ende selbst bestimmen, wie es abläuft, wenn es gar nicht mehr geht."
Bundesärztekammer: Richterspruch sei unverantwortlich
Selbstmord zu begehen, ist in Deutschland nicht strafbar. Strafbar macht sich dagegen, wer sterbewilligen Menschen wiederholt dabei hilft, sich umzubringen. Das hatte der Bundestag im November 2015 in einem neuen Gesetz zur Sterbehilfe beschlossen. Illegal ist auch der Erwerb von Medikamenten, die zum Tod führen. Mit einer Ausnahme: Wer schwer und unheilbar krank ist und sich in einer extremen Notlage befindet, dem darf der Staat das Gift nicht verwehren – so hat das Bundesverwaltungsgericht im März 2017 geurteilt.
Vor Gericht verhandelt worden war der Fall von Bettina Koch. Nach einem Sturz war die ehemalige Ärztin vom Hals abwärts gelähmt und musste künstlich beatmet werden. Da sie ihre Schmerzen als unerträglich und entwürdigend empfand, beschloss sie, sich das Leben zu nehmen. Um auf legalem Weg in Deutschland an 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu gelangen, stellte sie im Jahr 2004 einen Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die Behörde kann Schwerstkranken in Ausnahmefällen erlauben, Betäubungsmittel in der Apotheke zu erhalten. Als diese den Antrag ablehnte, ließ sich Bettina Koch in die Schweiz fahren, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Nach ihrem Tod ging ihr Mann vor Gericht und kämpfte sich zwölf Jahre lang durch die Instanzen. Bis das Bundesverwaltungsgericht im März 2017 urteilte: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll."
Mit diesem Urteil habe das Bundesverwaltungsgericht Neuland betreten, meint Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Zumal es im Widerspruch stehe zum Sterbehilfegesetz, das der Bundestag erst anderthalb Jahre zuvor beschlossen hatte:
"Es hat Neuland betreten, weil es – anders als dieses Gesetz, das die geschäftsmäßigen Sterbehilfen verbietet und damit sagt, es sollen keine Einzelpersonen oder Organisationen die Möglichkeit bieten, dass der Suizid zu einer Normaloption des Lebens wird – hat hier das Gericht zwar nicht geschäftsmäßige Sterbehilfe untersagt, aber es verpflichtet eine Behörde, genau zu prüfen, ob in Einzelsituationen nicht Recht auf den Zugang zu einem todbringenden Medikament – entgegen dem Betäubungsmittelgesetz – doch gewährt werden muss."
Tatsächlich kam das Urteil für viele einem Tabubruch gleich. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, nannte den Richterspruch "unverantwortlich". Der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe, CDU, kündigte sogar an, das Urteil aushebeln zu wollen. "Eine staatliche Behörde darf niemals zum Handlanger einer Selbsttötung werden", so sein Fazit.
Wie lässt sich eine extreme Notlage belegen?
Seitdem ist der Streit um die Selbstbestimmung am Lebensende neu entfacht. Denn das Urteil steht ja nicht nur im Widerspruch zum Bundestagsbeschluss von 2015, der geschäftsmäßige – also wiederholte – Sterbehilfe untersagt. Es verpflichtet letztlich sogar eine Behörde, über Suizidwünsche zu entscheiden. 104 Anträge zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital sind beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seit März 2017 eingegangen. Doch was ist überhaupt eine extreme Notlage? Und wie lässt sie sich belegen?
"Diese Antragstellung ist schon recht kompliziert. Man muss erstmal wissen, dass man überhaupt so einen Antrag stellen kann und aufgrund welcher Rechtsgrundlage das geschieht. Das ist das Eine. Das Zweite ist, dass die Begründung nicht ganz einfach ist, weil man diesen Ausnahmefall begründen muss. Man muss wissen, welche Unterlagen man beibringen muss, also welche Voraussetzungen man einhalten muss. All das ist eine relativ komplizierte Materie."
Robert Rossbruch ist Rechtsanwalt und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. Er hilft den Antragstellern ehrenamtlich dabei, die geforderten Atteste, Krankenakten und Beglaubigungen zusammenzustellen – und vor allem zu begründen, warum jemand das todbringende Medikament erhalten sollte. Im Fall von Hans-Jürgen Brennecke, erzählt Rossbruch, hatte er zunächst gezögert, ihn zu vertreten. Der stellte seinen Antrag also erstmal auf eigene Faust – und überzeugte damit den Anwalt.
"Ja, nun, ich bin quasi ein Grenzfall. Wenn die Krankheit zurückkommt, ist sie sehr schnell fortschreitend und eine zweites Mal, wird gesagt, hat man da auch keine Chance mehr, sie überhaupt zu bremsen. Und dann habe ich nicht Monate, sondern wahrscheinlich nur noch Wochen."
"Das ist der entscheidende Grund, weshalb ich ihn da auch unterstütze. Ursprünglich hatte ich mich dafür entschieden, das nicht zu machen. Er hat mich dann aber davon überzeugt, dass es nicht sein kann, dass man in der letzten Phase seines Lebens ist. Und in dieser letzten Phase, die dann sehr schnell sein kann und in seinem Fall sehr schmerzhaft, mit einem sehr hohen Leidensdruck, man zuwarten muss, bis man überhaupt dieses Mittel bekommt."
Monatelange keine Antwort auf Anträge
Im November 2017 ging der Antrag von Hans-Jürgen Brennecke beim BfArM ein, vier Monate später hatte er noch immer keine Antwort. Andere Patienten, die Rossbruch vertritt, warteten da bereits ein halbes oder ein dreiviertel Jahr auf eine Antwort. Daraufhin reichte der Anwalt eine Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Köln ein. Im April 2018 wurde die Behörde dann erstmals tätig: Sämtliche Antragsteller erhielten ein Musterschreiben, in dem ärztliche Gutachten zum Krankheitsverlauf, zu Symptomen und dem zu erwartenden Leidensdruck angefordert wurden. Alles Unterlagen, so der Anwalt Rossbruch, die der Behörde längst vorlägen.
"Alle Antragsteller, die ich vertrete, haben ihre gesamte Krankengeschichte, die ganzen aktuellen Attests, alle Krankenhausunterlagen mit dem Antrag zugeschickt – also die Anträge im Hinblick auf den Krankheitszustand und die Schwere der Erkrankung liegt denen seit März, April, Mai letzten Jahres vor."
Das bestätigt auch Krebspatient Brennecke:
"Ich habe 74 Seiten Arztbericht eingereicht. Das müsste eigentlich ausreichen. Aber das tut es angeblich nicht, sondern man soll weitere Berichte beibringen. Das Bizarrste finde ich: Ein Palliativmediziner soll bescheinigen, dass das, was schon palliativ versucht wurde, nicht ausreicht. Und das ist nun ganz bizarr. Denn wenn man soweit ist, dass man beim Palliativmediziner sich behandeln lässt, dann ist man kurz vorm Ende. Dann hat man keine Zeit mehr, einen Antrag zu stellen. Und der soll dann ein Gutachten schreiben, was er auch nicht an einem Tag macht. Und man ist drei Tage vor dem Ende vielleicht. Also diese Forderung ist nun ganz deplatziert."
"Da brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte"
Im April stellte die FDP im Bundestag eine Kleine Anfrage zum Thema und wollte wissen, welchen konkreten Handlungsbedarf die Bundesregierung sieht. In der Antwort heißt es dazu: "Die Beratungen sind noch nicht abgeschlossen." 20 der 104 Antragsteller waren da bereits verstorben. Vielleicht ist eine Behörde aber auch die falsche Adresse, um über Anträge von Schwerkranken zu entscheiden, die sich mit einem Betäubungsmittel das Leben nehmen wollen, meint der Anwalt Robert Rossbruch.
"Die Behörde, also hier die Mitarbeiter dieser Behörde sind aus meiner Sicht absolut überfordert. Insbesondere deshalb, weil das Gesundheitsministerium überhaupt keine Kriterien festlegt, wie das Bundesinstitut dann entscheiden soll. Denn das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist ja relativ allgemein gehalten, das kann auch nicht anders sein. Aber es ist ganz klar, dass das Gesundheitsministerium jetzt beauftragt ist, diese konkreten Kriterien zu entwickeln. Das hat das Bundesgesundheitsministerium bis dato nicht gemacht. Das heißt also, der Minister Spahn lässt sozusagen die Mitarbeiter des Bundesinstituts im luftleeren Raum. Und die sollen jetzt als normale Beamte über Leben und Tod entscheiden. Das kann nicht sein."
Auch der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, ist davon überzeugt, dass die Politik hier Klarheit schaffen und konkrete Vorgaben machen muss.
"Was heißt eigentlich extremer Ausnahmefall? Gibt es dafür objektive Kriterien? Ich glaube, da kann niemand sagen, dass es da objektive Kriterien gibt. Also wird das Ganze doch abhängig sein von der subjektiven Einschätzung. Da kann für den einen etwas eine extreme Ausnahmesituation sein, was es für den anderen noch längst nicht ist. Man wird also von daher auf die subjektive Wahrnehmung zurückgeworfen werden. Und dann hat man vom Rechtsstaat her eigentlich keine Möglichkeit, diesen jeweiligen Anspruch zu regulieren. Und ich befürchte ein bisschen, dass das Ganze ähnlich wie bei der Pränatal-Diagnostik vonstattengeht, wo wir am Anfang auch gesagt haben, das sind extreme Ausnahmesituationen, im Grunde ist es heute eine Regel geworden. Da brauchen wir auf jeden Fall noch eine gesellschaftliche Debatte und eine gesetzliche Regelung, die nicht einfach durch eine Behördenentscheidung getroffen werden kann."
Zumal die Beamten gegen das Sterbehilfegesetz von 2015 verstoßen würden, sich also strafbar machen könnten, wenn sie den Anträgen stattgäben. Bis zu drei Jahren Haft stehen auf die wiederholte Förderung der Selbsttötung.
"Klar ist, dass jetzt der deutsche Gesetzgeber mit dieser neuen Situation umgehen muss, dass er auf der einen Seite im privatrechtlichen Bereich die strikte Zurückweisung einer geschäftsmäßigen Suizidassistenz hat, dass er aber gleichzeitig erlaubt, dass Menschen sich töten dürfen. Und jetzt andererseits im staatlichen Bereich offensichtlich eine Behörde jedes Mal prüfen muss, ob ein solcher extremer Ausnahmefall vorliegt. Ich weiß gar nicht, wie eine Behörde das prüfen will."
Der Deutsche Ethikrat hält das Bundesverwaltungsgerichtsurteil vom März 2017 mehrheitlich für falsch. Peter Dabrock kritisiert, dass durch das Urteil persönliche Suizidwünsche staatlich bewertet und auf diese Weise legitimiert werden sollen. Also letztlich ein Anspruch bestehe auf eine staatliche Unterstützung beim Suizid.
"Es geht eben darum, ob hier der Staat ermöglichen muss, dass ein Patient einen Zugang zu einem todbringenden Betäubungsmittel erhält. Das ist, glaube ich, das Entscheidende."
"Ich hätte nicht gedacht, dass die sich so weit vorwagen"
Ende Juni hat das Gesundheitsministerium nun gehandelt. In einem Schreiben mit rechtsverbindlichem Charakter wird das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgefordert, alle Anträge von Sterbewilligen abzulehnen. Es könne nicht Aufgabe des Staates sein, heißt es: "Selbsttötungshandlungen durch die behördliche, verwaltungsaktmäßige Erteilung von Erlaubnissen zum Erwerb des konkreten Suizidmittels aktiv zu unterstützen". Der Anwalt Robert Rossbruch hält die Formulierung des Gesundheitsministeriums für irreführend.
"Der Staat wird nicht verpflichtet, den Suizid zu unterstützen. Sondern er wird nur verpflichtet, diese Möglichkeit zuzulassen. Das ist ein ganz, ganz großer Unterschied."
Der Staat solle ja keine Suizide fördern, sondern schlicht das Verbot eines Betäubungsmittels lockern. Und das auch nur in extremen Ausnahmefällen. Hans-Jürgen Brennecke wird richtig wütend, als er die Begründung hört.
"Die pusten alle in dasselbe Horn: Der Staat darf nicht zur aktiven Sterbehilfe genötigt werden. Alles so dumme Sätze, um die es überhaupt nicht geht. Und das finde ich das Hinterfotzige. Die sind ja auch nicht blöd, die Leute. Die wissen genau, was sie machen. Sie reden so, dass das Volk sofort zustimmt – einschließlich mir. Alles richtig die Sätze, aber darum geht es gar nicht."
Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Behörde seinem Antrag tatsächlich stattgeben würde – obwohl das Recht eigentlich auf seiner Seite ist. Aber die Direktive aus dem Gesundheitsministerium hat ihn dann doch überrascht.
"Ich hätte nicht gedacht, dass die sich so weit vorwagen, dass sie das auch noch schwarz auf weiß machen. Jeder hat vermutet, da gibt es einen mündlichen Befehl, weil das alles so eindeutig war. Aber das gab es noch nie, dass ein Minister die Dreistigkeit hatte zu sagen: Das befolgen wir nicht. Es gibt im Steuerrecht Anweisungen, dass die Finanzämter irgendwas nicht befolgen sollen, aber das ist dann eine technische Feinheit sozusagen. Das hat mit diesem Thema gar nichts zu tun. Minister sagen im höchsten Fall mal: Das Urteil entspricht nicht meiner Meinung. Dass sie sagen, das interessiert mich nicht, das gab es noch nicht."
Zumal das Gesundheitsministerium die Beamten des BfArM in eine Zwickmühle bringt: Folgen sie der Anweisung, wozu sie gegenüber einer vorgesetzten Dienststelle eigentlich verpflichtet sind, ignorieren sie ein rechtskräftiges Urteil. Niemand weiß, wie es jetzt weitergeht.
"Ich denke, da sind auch alle im Moment ein bisschen ratlos, weil diese schriftliche Anordnung hat dann schon auch erstaunt. Damit hat wohl keiner gerechnet, dass man so weit geht, vom Bundesgesundheitsminister her. Ich denke auch, Herr Rossbruch, der das hauptsächlich betreibt, ist selbst noch am Überlegen, was er jetzt macht."
Rechtliche Lage zur Sterbehilfe ist unüberschaubar
Die Situation ist festgefahren, die rechtliche Lage zur Sterbehilfe mittlerweile komplett unüberschaubar. Ärzte und Palliativmediziner fordern von der Politik, das Sterbehilfegesetz von 2015 nochmal zu überarbeiten. Viele sind verunsichert, wie weit sie ihren schwerkranken Patienten am Lebensende helfen dürfen, ohne sich selbst strafbar zu machen. Bis März 2018 stand ein Berliner Hausarzt vor Gericht, der seiner unheilbar kranken Patientin ein starkes Schlafmittel verschrieben und ihr so beim Suizid geholfen hatte. Da sie die tödliche Dosis alleine eingenommen hatte, entschied das Berliner Landgericht, ihn freizusprechen. Doch die Staatsanwaltschaft hat inzwischen angekündigt, Revision gegen das Urteil beim Bundesgerichtshof einzulegen.
Die Folge: Niemand kann mehr sagen, was am Lebensende erlaubt ist oder unter Strafe steht. Damit herrscht hierzulande Rechtsunsicherheit für einen der existenziellsten und verwundbarsten Lebensbereiche. Momentan haben Betroffene nur die Wahl, einen sogenannten "harten Suizid" zu begehen oder ins Ausland zu fahren. So oder so, meint der Anwalt Robert Rossbruch, muss die Politik nochmal ran.
"Um wirklich Rechtssicherheit zu bekommen, brauchen wir ein Sterbehilfegesetz. Um diese Grauzonen wegzubekommen. Um diesen Sterbetourismus wegzubekommen. Das müsste eigentlich nur vorgeben, dass der ärztlich assistierte Suizid zulässig ist unter ganz bestimmten rechtlichen Voraussetzungen. Diese rechtlichen Voraussetzungen müssen ganz eindeutig festgeschrieben sein, sehr konkret und eindeutig sein, und sie müssen kontrollierbar sein."
Auch der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, glaubt, dass sich der Bundestagsbeschluss von 2015 angesichts der jetzigen Rechtslage nicht wird halten lassen.
"Das Problem ist, dass die Gesetzgebung von 2015 sich alleine auf den privatrechtlichen Bereich bezog. Deswegen wird sich der Gesetzgeber überlegen müssen, ob er an der Stelle die Einheitlichkeit der Rechtsordnung wahren will. Und ich glaube, dass es für unseren Rechtsstaat nicht gut ansteht, wenn wir eine so wichtige Entscheidung, die jeden Einzelnen betreffen kann, dass man das nicht alleine abhängig machen darf von einem einzelnen Gerichtsurteil und einer Behördenentscheidung."
Überarbeitung der Sterbehilfe-Paragrafen nicht geplant
Momentan sieht jedoch nichts danach aus, dass sich die Regierung nochmal mit der Frage beschäftigt oder gar plant, den Paragrafen zu überarbeiten. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP heißt es dazu: "Paragraf 217 Strafgesetzbuch wurde aus der Mitte des Deutschen Bundestages heraus initiiert. Planungen für eine Überarbeitung sind nicht bekannt." Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lehnte eine Interviewanfrage von Deutschlandfunk Kultur zum Thema ab.
In den Fraktionen werden allerdings vermehrt Stimmen laut, im Bundestag nochmal über die umstrittene Rechtslage in Bezug auf die Sterbehilfe zu debattieren. Michael Brand, CDU, hält die Anforderungen des Leipziger Urteils grundsätzlich für nicht umsetzbar. Der Gesetzgeber könne nicht verpflichtet werden, sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen. Selbst in Ausnahmefällen nicht. Er wirft den Richtern vor, ihre Entscheidung laufe allen Anstrengungen des Staats zur Suizidprävention entgegen. Im Sterbehilfegesetz von 2015, das Brand mitformuliert hatte, wurde beschlossen, Hospize und Palliativmedizin stärker zu fördern. In der Hoffnung, dass sich niemand mehr das Leben nehmen will. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, hält das BfArM dagegen für verpflichtet, sich an das Grundsatzurteil der Leipziger Richter zu halten. Wem das Urteil nicht gefalle, sagte er, der müsse keine Gutachten in Auftrag geben, sondern beim Bundesverfassungsgericht dagegen klagen. Das hat das Gesundheitsministerium jedoch bislang nicht getan.
So oder so muss Karlsruhe jetzt das Patt beenden. Das Bundesverfassungsgericht hat gleich elf Beschwerden gegen das Sterbehilfegesetz von 2015 zugelassen. Das ist ungewöhnlich – ebenso wie die Tatsache, dass sich die Richter drei Jahre Zeit genommen haben. Beides legt die Vermutung nahe, dass das Bundesverfassungsgericht dem Thema ein großes Gewicht beimisst. Noch in diesem Jahr wollen die Richter ein Urteil fällen. Es kann gut sein, dass sie die Politik auffordern, die Gesetzgebung nochmal zu überarbeiten.
Der Anwalt Robert Rossbruch hatte vor drei Jahren in Karlsruhe die Klage eines krebskranken Ehepaars eingereicht, das sich gemeinsam, schmerzfrei und mit ärztlicher Hilfe in Deutschland das Leben nehmen wollte. Im November aber starb die Ehefrau.
"Beim Ehemann, den hat es sehr hart getroffen, der Tod seiner Frau. Obwohl beide sich damit auseinandergesetzt und beide das erwartet haben, sind beide noch der Hoffnung gewesen, dass sie einen humanen Suizid begehen können in einer Phase, wo sie noch einigermaßen die Fäden in der Hand haben, entscheidungsfähig sind. Die Ehefrau, die dann verstorben ist, war auch in den letzten Wochen nicht mehr ansprechbar. Also, es war ein sehr dramatischer und schmerzhafter Tod. Und darunter leidet der Ehemann immer noch – vor allen Dingen, wie sie gestorben ist. Davon sind beide nicht ausgegangen, so zu sterben."
Verfassungsklage gegen das neue Gesetz haben aber nicht nur Betroffene selbst eingereicht, sondern auch Ärzte und Palliativmediziner, die sich in ihrer Arbeit beeinträchtigt sehen. Sie argumentieren, die Neuregelung erschwere die Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden. Überdies gibt es – neben den Beschwerden von Sterbehilfeorganisationen – offenbar noch Privatpersonen, die Klage in Karlsruhe eingereicht haben. So vertritt der Anwalt Robert Rossbruch auch sich selbst. Er klagt gegen das Sterbehilfeverbot, weil er sich in seiner Gewissensfreiheit beeinträchtigt sieht.
"Bevor der Paragraf 217 in Kraft trat, habe ich in Einzelfällen Menschen, die schwersterkrankt und am Lebensende waren, aber keine Möglichkeit hatten, sich über öffentliche Verkehrsmittel oder über Angehörige in die Schweiz bringen zu lassen, um dort einen ärztlich assistierten Suizid vorzunehmen, mit meinem PKW in die Schweiz begleitet. Dies kann ich natürlich heute nicht mehr machen, weil das eine Förderung zum Suizid ist und damit strafbar ist im Sinne des Paragraf 217. Deswegen bin ich direkt Betroffener als jemand, der dort geholfen hat – und damit auch Beschwerdeführer."
"Die meisten Krebsformen haben ein sehr bitteres Ende"
Hans-Jürgen Brennecke hat keine Angst vor dem Tod, vor den Schmerzen dagegen schon. Ein halbes Jahr musste er für seine Chemotherapie in eine Spezialklinik und hat dort viel Leid gesehen.
"Die meisten Krebsformen haben ein sehr bitteres Ende, also dass man große Schmerzen hat. Ehrliche Palliativmediziner sagen auch: Wir können die Schmerzen mindern, wir können aber nicht garantieren, dass es keine gibt. Und das ist ja schon eine deutliche Aussage. Und manch einer kann auch die verminderten Schmerzen nicht mehr ertragen."
Brennecke ist froh, dass seine Kinder ihn bei dem Antrag unterstützen und dass sie seine Entscheidung respektieren – auch, wenn sie sie nicht gut finden. Was sind denn die Alternativen, bitte, wenn der Krebs zurückkommt?, fragt er. Eine rhetorische Frage. Der 73-Jährige will bei klarem Verstand sterben, deshalb lehnt er eine palliativmedizinische Behandlung mit starken Schmerzmitteln ab. Ins Ausland zu fahren und dort um Sterbehilfe zu bitten, widerspricht seinen Grundsätzen. Und ein harter Suizid kommt für ihn erst recht nicht in Frage – aus Rücksicht auf seine Kinder.
"Wenn ich mir vorstelle, mein Vater hat sich aufgehängt, dieses Bild ist ja, selbst, wenn ich es nicht gesehen habe, für immer in meinem Kopf. Was das für eine Belastung ist, so überflüssig, wenn es auch andere Wege gibt. Das möchte ich keinem zumuten. Also alle brutalen Methoden, auch Erschießen oder Pulsadern aufschneiden, finde ich alles grausam als Vorstellung für die Hinterbliebenen."
"Pharmaindustrie macht gigantische Gewinne"
Hans-Jürgen Brennecke hofft jetzt auf das Bundesverfassungsgericht. Der Politik traut er nicht mehr recht. Zuviel Lobbyarbeit und Interessen, findet er, die nicht offen thematisiert würden.
"Also man weiß einfach, dass die Pharmaindustrie am Ende des Lebens gigantische Gewinne macht. Da möchte man natürlich drauf verzichten. Ich verstehe auch, wenn Krankenhäuser sagen, wir möchten unsere Sterbenden so lange wie möglich behalten. Wir möchten das nicht abkürzen. Da entgeht uns Geld."
Ein massiver Vorwurf.
"Aber gut begründet. Sie kennen wahrscheinlich solche Statistiken, oder man kann sie zumindest nachlesen, dass in den letzten Lebensjahren der Menschen am meisten Geld umgesetzt wird im Gesundheitswesen. Und je weiter es dem Ende entgegengeht, umso höhere Summen. Dass oft am Ende noch Operationen und Untersuchungen gemacht werden, die alle reichlich überflüssig sind. Und alles kostet furchtbar viel Geld."
Auch die Kirchen schließt der Krebspatient Brennecke aus seiner Kritik nicht aus.
"Ja, zum Beispiel haben die viele Krankenhäuser und Altersheime – und da muss man sich vorstellen, dass heute – ich weiß nicht – 5000 oder 10.000 Menschen im Koma liegen oder kurz vor dem Ende. Und die freuen sich über jeden Tag, die sie da noch liegen. Die Kirche ist letztlich auch, wie letztlich jede größere Organisation im Land, ein ökonomischer Betrieb."
Hans-Jürgen Brennecke winkt ab, steht auf und bringt das Kaffeegeschirr in die Küche. Solange der Tumor ruht, will er die Zeit nutzen. In seinem Heimatort hilft er bei der Integration von Flüchtlingen und setzt sich für die Aufarbeitung der Nazizeit ein. Auf eine Antwort des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte wartet er nicht mehr. Obwohl…
"Ich denke, das BfArM könnte sich über so einen Wunsch auch hinwegsetzen. Ich bin kein Jurist, ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich weiß, dass man Anweisungen einer vorgesetzten Dienststelle nicht unbedingt ausführen muss. Das gibt dann Sanktionen, im schlimmsten Fall riskiert man seinen Arbeitsplatz, aber niemand muss in unserem Land Befehle ausführen, wo er für sich gute Gründe hat, sie nicht auszuführen."
Seine Ex-Frau nickt zustimmend.
"Die Chance, dass er da gewinnt, ist ja nicht so groß. Der ganze Prozess läuft ja schon über Jahre. Ich wünsche mir es, weil: Ich kenne einige im Bekanntenkreis, die gesagt haben: Sagst du mir dann aber Bescheid, wenn er Erfolg hat, ich hänge mich gleich dran. Schade, dass sich bei uns die Politiker nicht dafür einsetzen. Und ich denke, es sind die Menschen, wie soll ich das sagen, die wahrscheinlich so was noch nie am eigenen Leib erlebt haben. Am Schreibtisch kann man gut über andere urteilen."