Streben nach gutem Handeln

Rezensiert von Georg Gruber · 22.05.2006
Die Welt wird immer unübersichtlicher, komplexer - und für den Einzelnen wird es immer schwieriger, Entscheidungen zu treffen, gerade in moralischen Konfliktsituationen. Die Ethik beschäftigt sich als philosophische Disziplin seit der Antike mit der Frage des guten Lebens. Gut bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie sinnvoll, richtig, erfüllend. Wilhelm Vossenkuhl ist Philosoph und lehrt an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, sein neuestes Buch heißt: "Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert."
Ethik ist für Wilhelm Vossenkuhl alles andere als eine akademische Fingerübung, Ethik sei, so schreibt er, eine Wissenschaft, der es um "Wahrheit" geht:

"Um die Wahrheit bei der Begründung von Forderungen, Geboten und Verboten. Wir können die Ethik 'Wissenschaft vom Guten und Schlechten' oder auch 'praktische Wissenschaft' nennen, denn es geht ihr um das, was 'gutes Handeln' bedeutet, und um die Frage, unter welchen Bedingungen es wahr ist, dass eine Handlung als gut oder schlecht beurteilt wird."

Wilhelm Vossenkuhl lehrt Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er gehört zu den Professoren, die sich nicht im Elfenbeinturm verkriechen. Zuletzt erschien von ihm ein schmaler Band "Philosophie für die Westentasche", gut zu lesen, ohne flach zu sein. Sein neues Buch, "Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert" passt in keine Westentasche: Rund 470 Seiten, die sich auch nicht so leicht erschließen, komplexe Gedankengänge, die sich, so wie sie formuliert sind, eher an ein akademisches Publikum richten – auch wenn Ethik, von ihrem Selbstverständnis als praktische Wissenschaft eigentlich für alle relevant sein sollte, die sich über Entscheidungen – welcher Art auch immer - den Kopf zerbrechen.

"Der Zahl und der Schwierigkeit nach nehmen normative Probleme, vor allem in Gestalt moralischer Konflikte, zu. Die Ethik, die sich mit ihnen auseinandersetzt, wird zu einer Konfliktwissenschaft."

Wilhlem Vossenkuhl versucht nun herauszuarbeiten, was eine solche Konfliktwissenschaft leisten kann, scheut sich nicht aktuelle und umstrittene Themen anzugehen, wie Pränataldiagnostik oder Sterbehilfe:

"Die Erlaubnis zu töten, also aktive Sterbehilfe, ist ethisch nicht objektiv begründbar, weil der Patient allein durch seine Willenserklärung nicht die Verantwortung für seinen Tod übernehmen kann."

Dem Philosophen geht es letztlich darum, wie in dieser immer komplexeren Welt ein "gutes Leben" möglich ist, eines, das auch die Gemeinschaft als Ganzes im Blick hat und nicht nur egoistischen Einzelinteressen folgt.

Der Einzelne und die Gemeinschaft: Vorraussetzung für ein "gutes Leben" ist für Vossenkuhl ein Staat, der demokratisch und nach rechtstaatlichen Prinzipien organisiert ist. In einem korrupten Unrechtsstaat ist kein gutes Leben möglich.
Aber: Was "das Gute" letztlich ist, lässt sich nicht so leicht bestimmen. Was heute gut erscheint, kann morgen schon unerwartete negative Konsequenzen nach sich ziehen.

"Genau genommen ist das gute Leben nur als Mischung unterschiedlicher heterogener Arten von Gütern zu denken. Ethisch Gutes wie die Gerechtigkeit und sittlich Gutes wie Familie und Partnerschaft lassen sich von materiellen Gütern wie dem Einkommen nicht völlig trennen. … Die Einheit dieser Vielfalt stiftet die Leitidee des Guten."

Vossenkuhl zieht auch die großen philosophischen Denker in seine Analyse mit ein, Aristoteles, immer wieder Kant und den amerikanischen Philosophen John Rawls. Und er grenzt sich ab, von Rawls etwa, der von einem hypothetischen Urzustand ausging und so versuchte, Regeln für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu finden. Vossenkuhl hingegen meint:

"Die Frage, wie das gute Leben möglich ist, muss mitten im wirklichen Leben gestellt werden."

Vossenkuhl formuliert Maxime, Grundsätze, nach denen eine Gesellschaft auch in Zeiten organisiert werden kann, in denen es weniger zu verteilen gibt, wenn Einschnitte nötig sind, so wie heute: Wenn darüber diskutiert wird, wie die knappen Gelder am sinnvollsten ausgegeben werden können, wie viel etwa für Bildung und wie viel für Langzeitarbeitslose. Eine seiner Leit-Maxime lautet:

"Normative Ansprüche und Güterverteilungen können nur verändert werden, wenn damit weder absolut unverzichtbare Güter noch das Wertgefüge der Güter insgesamt gefährdet werden."

Vossenkuhl weiß allerdings, dass sich Konflikte zwischen legitimen Ansprüchen auch so kaum aus der Welt schaffen lassen. Er empfiehlt "Serien von Verteilungsverfahren", in denen die Ergebnisse mit jedem Durchgang besser und gerechter werden. Eine Patentlösung ist das nicht, kann und will es auch nicht sein. Und da ist man in Erwartung einer Ethik für die weitreichenden Probleme des 21. Jahrhunderts doch etwas enttäuscht. Als Einzelner bleibt man auf sich selbst zurück geworfen: Vossenkuhl fordert zu mehr Eigenverantwortung auf, zum selber denken und "Standhalten" auch in schwierigen Situationen.

"Ohne die Hilfe und den Rat von anderen wird (die Person) vielleicht selten – vielleicht aber auch häufig – auskommen; es kommt ganz auf ihre Lebenserfahrung und Unabhängigkeit an. Entscheiden, was für sie und diejenigen, für die sie Sorge trägt, gut sein wird, muss sie sich aber immer allein und in eigener Verantwortung. Dann darf sie auf ein gutes Leben hoffen."

Eine Garantie gibt es nicht.

Wilhelm Vossenkuhl: Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert
C.H. Beck
472 Seiten, 29,90 Euro