Straßenbahn in Kassel

Mit der Linie 1 zum Weltkulturerbe

Eine Niederflur-Straßenbahn fährt in Kassel die Wilhelmshöher Allee entlang.
Die Linie 1 verbindet die Kasseler Innenstadt mit dem UNESCO-Weltkulturerbe Wilhelmshöhe. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Ludger Fittkau  · 17.09.2018
Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in vielen Städten elektrische Straßenbahnen. Ihre Linienführungen wurden oft verändert. Die wahrscheinlich älteste noch erhaltende Strecke weltweit befindet sich in Kassel und führt zum Bergpark Wilhelmshöhe.
Mit Sirenengesängen des Elektrozeitalters begrüßt mich die Straßenbahn in Kassel. Ich stehe auf dem Vorplatz des Bahnhofs Wilhelmshöhe an der Haltestelle der Linie 1. Man hört die Bahn an den singenden Geräuschen der Schienen schon einige hundert Meter, bevor sie die Haltestelle erreicht.
Die Waggons sind tiefblau gestrichen, die großen Panoramafenster reichen ungefähr bis zur Kniehöhe hinunter. Ich steige ein. Etwa zehn Minuten wird die Fahrt bis zum Fuß des UNESCO-Weltkulturerbes Bergpark Wilhelmshöhe dauern.
Die Straßenbahn passiert das schön gelegene Kasseler Studio des Hessischen Rundfunks, das nicht weit vom Bergpark entfernt am Stadtrand liegt – von viel Grün umgeben. Hier ließe es sich gut arbeiten, denke ich im Vorbeifahren.
Ein paar Minuten später steige ich an der Endhaltestelle der Linie 1 aus. Dort bin ich mit drei freundlichen Menschen verabredet, die mich heute bei der Fahrt mit der Straßenbahn durch Kassel begleiten werden. Es sind Heide-Marie Hamdad, Pressesprecherin der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft – kurz KVG -, Annika Witte, künftige Studentin der Wirtschaftspädagogik an der Uni Kassel sowie Ulrich Fröhberg, Autor des Buches "Die Kasseler Straßenbahn" - 2013 im Sutton Verlag erschienen.
Unsere kleine Reisegruppe steigt in die nächste Bahn ein, die Richtung Innenstadt fährt. Ulrich Fröhberg weiß alles über die mehr als 100 Jahre alte Geschichte der Kasseler Straßenbahn:

"Die erste Strecke führte vom Königsplatz bis hier Wilhelmshöhe, wo wir gerade eingestiegen waren. Und ich behaupte immer wieder und ich denke, mit Fug und Recht: Die Strecke und die Linie ist die älteste noch funktionierende auf der ganzen Welt."

Mit der Straßenbahn an die frische Luft

Warum ausgerechnet Kassel so bedeutsam für die Geschichte der Straßenbahn ist, erklärt Ulrich Fröhberg, während die Linie 1 vom Bergpark Wilhelmshöhe in das Zentrum des alten Kurbades Bad Wilhelmshöhe fährt, das heute ein Stadtteil von Kassel ist:
"Der Bergpark Wilhelmshöhe hat immer schon eine große Anziehungskraft für die Menschen besessen. Sie müssen sich vorstellen, Kassel war damals unglaublich eng besiedelt, in der Altstadt, die ja 1943 bei mehreren Bombenangriffen zugrunde ging. Und die Menschen hatten also ein großes Bedürfnis, an Wochenenden ein bisschen frische Luft zu tanken. Es gibt ja auch noch den Auepark, aber Wilhelmshöhe hatte immer schon durch die Wasserspiele eine große Anziehungskraft für die Menschen. Und die haben dann auch gerne mal diese fünf Kilometer Fußmarsch in eine Richtung auf sich genommen."

Doch die Dampfmaschine sorgte schließlich dafür, dass die Wanderungen Richtung Bergpark im 19. Jahrhundert aus der Mode kamen. Busse mit Pferdebetrieb funktionierten allerdings auch nicht so gut, berichtet Ulrich Fröhberg:
"Das hat dann eine englische Gesellschaft erkannt, nachdem ein Omnibus-Betrieb keine guten Ergebnisse gebracht hat, der Pferde-Omnibusbetrieb wohlgemerkt. Das hat eine englische Firma erkannt und die haben also diesen Schritt gewagt und haben eine Dampfbahnlinie gebaut. Das hat sich dann als so erfolgreich erwiesen, dass die Firma Henschel dann eingestiegen ist und auch Lokomotiven und eine andere Kasseler Firma die Waggons dazu geliefert hat."
Blick auf die Straßenbahnlinie 1 in Kassel
Die Straßenbahnlinie 1 in Kassel führt direkt zum Weltkulturerbe Wilhelmshöhe.© imago/Werner Otto

Vor der Elektrifizierung fuhren Dampfloks

Bis 1898 lieferte die Kasseler Firma Henschel die Dampfloks - dann kam die Elektrifizierung; nicht zuletzt, weil parallel zur Dampfstraßenbahn immer noch viele Pferdefuhrwerke auf der Wilhelmshöher Allee zwischen dem heutigen UNESCO-Welterbe Bergpark und der Kasseler Innenstadt unterwegs waren:
"Bei innerstädtischen Dampfstraßenbahnen ist immer das Problem: Die Straßen mussten ja damals noch geteilt werden, mit Hunderten und Tausenden von Pferden. Und die Straßenbahn-Lokomotiven waren also verkleidet, so dass also das Pleuelwerk, das kennen wir ja von den Dampfloks, das musste also immer verkleidet werden, damit die Pferde nicht scheuten."

Nach gut 20 Minuten Fahrt erreicht die Linie 1 der Kasseler-Verkehrsgesellschaft die Innenstadt. Die Mitreisende Annika Witte, eine künftige Studentin der Wirtschaftspädagogik an der Uni Kassel, hat den Erzählungen über die alte Straßenbahnlinie bisher schweigend zugehört:
"Wenn man darüber nachdenkt, dass es sie schon über 100 Jahre gibt und immer noch – also es ist begeisternd, dass sie sich so lange gehalten hat."
Doch Annika Witte blickt nicht nur in die Vergangenheit der Kasseler Straßenbahn. Sie lebt etwa 50 Minuten von Kassel entfernt in ländlicher Umgebung und schätzt es sehr, dass die städtische Straßenbahn längst auch auf alten Bundesbahn-Strecken weit in die Region fährt. "Regiotram" nennt sich das Konzept - das rund um Kassel sehr gut ankommt:
"Die Bahn fährt ja auch in die umliegenden Gebiete. Es ist ja nicht nur die Kasseler Innenstadt, sondern auch Baunatal, Vellmar. Fährt sogar bis an den Edersee mit dem ÖPNV. Nicht von der KVG, aber auch hier aus dem Stadtgebiet, was ich natürlich ganz besonders finde."
Ulrich Fröhberg, Annika Witte und Heide-Marie Hamdad
Ulrich Fröhberg, Annika Witte und Heide-Marie Hamdad© Ludger Fittkau

Mit der Regiotram ins Umland

Denn wenn Annika Witte im Oktober ihr Studium in Kassel aufnimmt, wird sie zunächst weiter in ihrem Heimatdorf wohnen und mit dem ÖPNV pendeln:
"Obwohl auch viele, die von außerhalb kommen, hier nach Kassel in die Innenstadt ziehen, weil es hier viele Wohnungen gibt, die noch für Studenten bezahlbar sind."
Die Regiotram trägt womöglich dazu bei, dass sich die Dörfer in Nordhessen nicht entvölkern und auch in der Stadt die Mieten für Studentenbuden nicht unbezahlbar werden. - Heide-Marie Hamdad nickt zustimmend. Sie ist schon sehr lange Pressesprecherin der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft und hat den Wandel in der Stadt auch bei den Fahrgästen der Linie 1 hautnah erlebt:
"Die Linie 1 durchquert höchst unterschiedliche Stadtgebiete von Kassel. Sie beginnt hier oben am Bergpark Wilhelmshöhe, fährt durch Bad Wilhelmshöhe, diesen Stadtteil. Kommt dann hier runter in die Kasseler Innenstadt mit dem quirligen Geschäfts- und Kulturleben. Documenta-Publikum zu documenta-Zeiten. Durchquert die Innenstadt und kommt dann hier in die Kasseler Nordstadt, ein sehr multikulturelles Viertel."

Wir steigen in der Kasseler Nordstadt an der Haltestelle Halitplatz aus. Nur wenige Meter entfernt liegt ein Friedhof. Am Eingang steht ein rund ein Meter hoher Gedenkstein, auf dem eine kleine Metallplatte angebracht ist. Der Stein ist erst gut zehn Jahre alt und die Haltestelle hieß noch vor einigen Jahren auch noch anders, erklärt Ulrich Fröhberg:
"Die hieß früher Mombachstraße und heißt jetzt Halitplatz in Erinnerung an den türkischen Mitbürger Halit Yozgat, der vom Nationalsozialistischen Untergrund ermordet wurde. Nicht weit von hier."
Kassel Wilhelmshöhe um 1935
Seit dem Bau ist der Verlauf der Linie 1 unverändert. Hier eine Aufnahme aus den 1930er-Jahren.© imago/Arkivi

Eine Haltestelle erinnert an einen NSU-Mord

Das Internet-Café, in dem Halit Yozgat am 6. April 2006 vom NSU ermordet wurde, liegt unmittelbar an der Strecke der Linie 1 in der Holländischen Straße:
"Und immer, wenn hier der Jahrestag des Mordes ist, findet dann hier eine Kundgebung statt. Ja, es gibt ja Bestrebungen, dass die Holländische Straße mal Halitstraße heißen soll, aber das ist bisher nicht von Erfolg gekrönt gewesen.
Reporter: "Während der documenta war die Straße mal umbenannt worden als Kunstaktion, aber jetzt heißt sie wieder Holländische Straße."
Fröhberg: "Ja, da war also der offizielle documenta-Stadtplan, den jeder Besucher sich abholen konnte, beim Kauf einer Eintrittskarte, da war die Holländische Straße in Klammern gesetzt und die Straße hieß Halitstraße."
Reporter: "Das hat den Hintergrund, dass die Familie Yozgat das immer auch gefordert hat und noch fordert."
Fröhberg: "Ja, besonders der Vater ist da sehr aktiv und man muss sehen, wie es weitergeht."
Reporter: "Aber sie haben noch was historisch interessantes, wir stehen hier am Friedhofseingang. Der Friedhof - wie heißt der genau?"
Fröhberg: "Das ist der Hauptfriedhof, Kassels größter Friedhof. Und wenn wir diese Allee, vor deren Eingang wir jetzt stehen, weitergingen, 300 Meter ungefähr, dann kämen wir zum Ehrengrab der Stadt Kassel von Phillip Scheidemann. Der war jahrelang Kasseler Oberbürgermeister, SPD-Angehöriger und hat 1918 von einem Balkon des Reichstagsgebäudes in Berlin die deutsche Republik ausgerufen.
Hier ist sein Grab. Ein ganz schlichter Sarkophag mit seiner Unterschrift in Bronze gegossen und ich habe es eigentlich noch nie erlebt, dass da keine Blumen vor liegen. Denn ich weiß das genau – meine Eltern liegen nicht weit davon."

Gebrauchte Waggons kommen aus Rostock

Ein Mechaniker arbeitet mit dem Akkuschrauber am Gehäuse einer blauen Straßenbahn, die in der Werkstatt gelandet ist. An der Linie 1 liegt auch der Betriebshof Wilhelmshöhe, der schon zu Zeiten der Dampfstraßenbahn eingerichtet wurde. Heute werden dort alte Bahnwaggons aus Rostock modernisiert, die die Stadt Kassel günstig erworben hat.

Heide-Marie Hamdad erklärt beim Gang durch die weitläufigen Werkstätten, dass es sich um sogenannte Niederflur-Beiwagen handelt. Diese haben selbst keinen Antrieb, man kann sie hinter die eigentliche Bahn mit der Fahrerkabine hängen. Niederflur-Wagen sind wegen der tiefer liegenden Böden Barriere-ärmer als sogenannte Hochflur-Bahnen:
"Wir waren damals sehr intensiv auf der Suche nach gebrauchten Beiwagen. Das war gar nicht so einfach, welche zu finden, denn andere Städte hatten Hochflur-Beiwagen. Die hätten dann natürlich nicht zu unserem Niederflur-System gepasst. Und glücklicherweise hatte Rostock welche, Niederflur-Beiwagen, und wollte die auch verkaufen, und wir haben dann natürlich gleich zugegriffen."
Die Fahrt mit der Linie 1 endet zwei Stationen weiter wieder am Ausgangspunkt – dem Bergpark Wilhelmshöhe. Eine größere Touristengruppe steigt aus - in einer halben Stunde beginnen die barocken Wasserspiele. Die Fahrt auf der vielleicht ältesten noch original erhaltenden Straßenbahnlinie der Welt war auch für mich eine besondere Annäherung an das Weltkulturerbe.
Betriebshof Wilhelmshöhe - hier werden Straßenbahnen aus Rostock für den Einsatz in Kassel umgerüstet.
Betriebshof Wilhelmshöhe - hier werden Straßenbahnen aus Rostock für den Einsatz in Kassel umgerüstet.© Ludger Fittkau
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