Strahlendes Vermächtnis

Von Michael Frantzen |
Die Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen - das bewegt in Europa wie wir wissen nicht nur die Finnen. Aber kaum eine andere Nation treibt deshalb die atomare Renaissance so forciert voran wie Finnland - Fukushima hin oder her. Nun wird hier ein gigantisches atomares Endlager geplant - in der 6000-Seelen-Gemeinde an der Südwestküste Finnlands.
Kurz nach drei - und fast schon dunkel draußen. Helena Karrelainen schaut hoch zur verchromten Digital-Uhr der Rezeption des Gesundheitszentrums der finnischen Gemeinde Eurajoki, das sich gut in jedem Ikea-Katalog, Sparte: Funktionsmöbel, machen würde: viel Farbe, viel Holz, viel warmes Licht.

Eine Stunde noch - dann hat die Chefärztin Feierabend. Eilig läuft die 39-Jährige über den langen Korridor. Ein kurzer Blick ins Wartezimmer: Ein Notfall ist gerade eingeliefert worden: Jemand mit gebrochenem Arm von der Baustelle "Olkiluoto 3", dem neuen Atommeiler ganz in der Nähe, der partout nicht fertig werden will. Business as usual. Meint die blasse Frau mit den schwarz gefärbten Haar - genau wie die Besprechung mit ihren drei Kollegen, von der sie gerade kommt.

Karrelainen: "Natürlich haben wir ein schönes, neues Gebäude. Wir bieten unseren Patienten einen wirklich guten Service: Einen Gerontologen für unsere Senioren, einen Kinderarzt, einen Psychiater. Das ist ziemlich ungewöhnlich für eine kleine Gemeinde wie unsere.

Aber wir können uns das leisten, weil die Atomkraftwerke so viel Gewerbesteuer zahlen. Das ist natürlich gut: Unsere Patienten müssen so nicht extra in die nächstgrößeren Städte fahren, nach Pori oder Rauma."

Auch er kann seine Physiotherapie im Gesundheitszentrum von Eurajoki machen: Simon Neilland. Der krankgeschriebene Sonderschullehrer sitzt leicht gekrümmt auf dem "Muskel-Expander" des Fitnessraums - und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der 57-Jährige hat es am Rücken. Zu viel Computerarbeit, zu wenig Bewegung.

Das kann auf Dauer nicht gut gehen, meint der Mann im blauen 90er-Jahre-Freizeitanzug und dem weißen XXL-T-Shirt lakonisch – bevor er sich einen roten Medizinball schnappt, um ihn vorsichtig über den Kopf zu heben.

Neilland: "Ich bin wirklich sehr, sehr zufrieden mit der Ausstattung hier. Wir in Eurajoki können so und so nicht klagen. Uns geht es wirtschaftlich blendend. Das verdanken wir den Atomkraftwerken hier. Man macht sich natürlich schon mal Gedanken, ob die Dinger auch hundert Prozent sicher sind. Aber: Wissen Sie: Die Vorteile überwiegen einfach! Die Arbeitsplätze! Gute Arbeitsplätze! Die gute wirtschaftliche Situation hier!"

"Finnlands elektrischste Gemeinde" - schon der Slogan auf dem Ortseingangsschild lässt keinen Zweifel daran, was einen im 6000-Seelen-Ort an der zerklüfteten Südwestküste erwartet. Helsinki liegt knapp 300 Kilometer südöstlich. Eurajoki lebt von und mit der Energie; der Atomenergie. 25 Prozent des finnischen Stroms werden in den gut zehn Kilometern entfernt auf einer Insel gelegenen Meilern "Olkiluoto 1 und 2" produziert. Der AKW-Konzern "TVO" ist größter Arbeitgeber vor Ort – und zusammen mit Tochterfirma "Posiva", dem Betreiber des zukünftigen Endlagers, auch größter Steuerzahler. Rund zehn Millionen Euro überweisen beide im Jahr auf das Gemeindekonto.

In spätestens zehn Jahren sollen die ersten von geschätzten 5500 finnischen Urantonnen ins Endlager gebracht werden. Die Betriebsgenehmigung steht noch aus, aber das – heißt es Allenthalben - sei reine Formsache. Bis auf 425 Meter Tiefe haben sich die Bohrer in den Granit der Atom-Insel schon vorgearbeitet.

Im deutschen Gorleben mögen Anwohner und Atom-Gegner gleichermaßen zu Zehntausenden aus Protest auf die Straße gehen: In Eurajoki haben sie sich vor elf Jahren für das drei Milliarden Euro teure unterirdische Atomklo beworben – und sich gegen drei Mitbewerber durchgesetzt. Mit der Kernenergie kam der Reichtum in das ehemals verschlafene Nest. Eines muss man daher in Eurajoki lange suchen: Offene Kritik an der Atomenergie. Im Gesundheitszentrum beispielsweise kann man ausführlich mit den Krankenschwestern reden, mit Patienten wie dem Sonderschullehrer: Letzten Endes landet man doch nur wieder im Sprechzimmer von Chefärztin Helena Karrelainen - und ihrem verblüfften Gesichtsausdruck: Kritik, Angst gar - so etwas ist ihr noch nicht unter gekommen.

Karrelainen: "Nicht bei uns. Nein: Nicht bei uns. Die Leute haben sich einfach an die Atomkraftwerke gewöhnt. Also mich hat noch kein Patient nach möglichen Gesundheitsgefahren gefragt. Wenn ich allerdings Kollegen bei Konferenzen erzähle, dass ich aus Eurajoki komme, fragen die schon mal: Und?! Habt ihr mehr Krebsfälle? Oder Leukämie? Ich kann das nicht bestätigen. Ich habe keine solchen Statistiken. Ich habe dafür keine Anhaltspunkte."

Druckst die Frau herum, vor deren Sprechzimmer ein weichgezeichnetes Poster eine Atommeiler-Idylle samt Ausflugsbooten im Sonnenschein beschwört – und die in den vier Jahren als Chefin des Gesundheitszentrums nicht mitbekommen haben will, dass Endlagerbetreiber "Posiva", wie allgemein bekannt, die Miete für das Zentrum gezahlt hat – für 40 Jahre im Voraus.

Karrelainen: "”Ok?! I haven’t heart that.”"

Luftlinie gut fünf Kilometer entfernt, auf halbem Weg zwischen Eurajoki und Olkiluoto, kann sich Timo Seppälä an diesem nebeligen Herbstmorgen keinen rechten Reim auf die Unwissenheit der Frau Doktor machen. Der aalglatte Mann mit der randlosen Brille und dem grauen Mantel eines italienischen Luxusschneiders, der es fertigbringt, seinen Gesprächspartner innerhalb von vierzig Minuten gefühlte vier Mal in die Augen zu schauen – Seppälä ist Pressesprecher von Posiva.

Als solcher empfängt er Besucher im historischen "Carl Axel"-Saal des Firmensitzes, des gediegenen Guts Vuojoki aus dem 19. Jahrhundert. Seppälä legt seinen Mantel ab – und nimmt sich eines der Lachshäppchen, die auf dem wuchtigen Tisch des Konferenzzimmers drapiert sind.

Seppälä: "Sie können doch nicht allen Ernstes erwarten, dass, wenn eine Gemeinde ein wie auch immer geartetes Endlager akzeptiert, sie das umsonst bekommen. Das wäre naiv. Wenn ihnen jemand vorschlagen würde, sein Schrottauto, sagen wir, in ihrem Garten zu lagern, dann würden sie doch auch erst einmal verhandeln: Also ich nehme dein Schrottauto nur unter den und den Bedingungen. Das ist doch nicht unethisch.

Die Gemeinde war nur unter der Bedingung bereit, ja zum Atomendlager zu sagen, wenn wir die Miete für das Gesundheitszentrum übernehmen und Vuojoki erst renovieren und dann von der Gemeinde anmieten. Das haben wir dann auch gemacht. Wir haben offen darüber verhandelt, es war ein offener, transparenter Entscheidungsprozess."

Auf publikumswirksame Transparenz setzt auch Posiva-Mutter TVO, die in Sichtweite des Endlagers das neue Atomkraftwerk "Olkiluoto 3", kurz OL3, baut. 19 Hektar groß ist die Baustelle Orwellscher Dimension, auf der Trupps in weißen Schutzanzügen wie ferngesteuerte Wesen von einem anderen Stern herumschwirren.

Die sollten eigentlich längst verschwunden sein, doch der neue Druckwasserreaktor hat sich zu einem Fass ohne Boden entwickelt: Die ursprünglich kalkulierten Baukosten von drei Milliarden Euro – haben sich mittlerweile schon verdoppelt. Seit Baubeginn vor sechs Jahren musste die Inbetriebnahme immer wieder nach hinten verschoben werden. Jetzt soll OL3 frühestens 2014 ans Netz gehen. Der heilen Welt des werkseigenen Informationszentrums tut das keinen Abbruch.

20.000 Touristen sind letztes Jahr durch das Besucherzentrum geschleust worden. Auf einem Riesen-Bildschirm des roten Flachbaus sieht man, wie ernst blickende Wissenschaftler im Kontrollzentrum der Atommeiler stoisch ihre Arbeit verrichten. Dazu jede Menge interaktive Spielereien; und als besonderen Gag: Albert Einstein.

Albert Einstein als Schaubuden-Figur – das ist ganz nach dem Geschmack von Harri Hiitiö. Immer mal wieder leistet sich Eurajokis Bürgermeister das Vergnügen, ein paar Besucher persönlich durch das Informationszentrum zu führen.

Hiitiö: "”Olkiluoto gives impact and influence of everything that we do here in Eurajoki.""

Das AKW Olkiluoto und das benachbarte Eurajoki – für den unscheinbaren Verwaltungsmann ist das ein und dasselbe. Geht es Olkiluoto gut, geht es seiner Gemeinde gut - lautet seine Rechnung. Hiitiö blickt kurz auf zwei eng beschriebene DIN-A4-Blätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch seines Dienstzimmers im Rathaus von Eurajoki ausgebreitet sind – und zupft an seiner grau melierten Krawatte. Er ist gewappnet.

Hiitiö: "”Wir entscheiden ganz pragmatisch: Wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, nicht nur in Eurajoki, sondern in ganz Finnland, brauchen wir Energie. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Unsere eigene Nuklearenergie. Oder Energie-Importe aus Russland. Und wir wollen nicht, dass die Russen über unseren Lebensstandard entscheiden können. So einfach ist das. Es ist doch glasklar. Wirklich glasklar.""

Dem Bürgermeister huscht ein Lächeln über die Lippen. Alles im grünen Bereich – in Eurajoki, der Atomgemeinde. Daran hat auch Fukushima nichts geändert. Einmal sei eine Handvoll Aktivisten von Greenpeace aus Helsinki da gewesen, erinnert sich der passionierte Jäger und Eishockeyspieler, aber die seien nach drei Tagen wieder verschwunden.

Hiitiö: "Wir Finnen vertrauen traditionellerweise unseren Behörden. Wenn die Behörde für Strahlenschutz und atomare Sicherheit sagt: Es ist sicher, dann glauben wir das. Wenn man Entscheidungen trifft, muss man abwägen, welche Informationen zuverlässig sind. Wir Finnen verlassen uns auf unsere Beamten, nicht auf Greenpeace."

Die Autoritätsgläubigkeit ihrer Landsleute – darüber hat sich Pirjo Jaakola auch schon häufiger mit den Besuchern aus Eurajokis ostfriesischer Partnergemeinde Weener unterhalten. Die quirlige Kultur- und Tourismusdezernentin, eine Frau mit wachen Augen und verschmitztem Lächeln, hält es nur schwer auf dem Stuhl ihres mit Büchern und Fotos übersäten Büros im Stadtmuseum.

Sie springt spontan auf und greift nach einer bunten Hochglanz-Broschüre für die große Tourismusbörse in Helsinki im Januar. Da wird, auch auf Deutsch, unter "einzigartigen Sehenswürdigkeiten" das Atom-Besucherzentrum beworben, als "ausgezeichneten Ort, sich mit der Kernenergie auseinanderzusetzen." Das kommt nicht von ungefähr. Jaakola wird sich nämlich nicht alleine auf den Weg nach Helsinki machen. Wie schon in den Jahren zuvor wird sie von sogenannten "Tourismus-Botschaftern" der AKW-Konzerne Posiva und TVO begleitet. Druck – nein, den spüre sie nicht. Die sonst so fröhliche Frau verzieht unmerklich das Gesicht. Nicht wirklich.

Pirjo Jaakola: "”Ich arbeite nun mal für die Stadt. Es ist mein Job. Ich bin jetzt 59, ich habe noch vier Jahre vor mir, bis ich pensioniert werde. Natürlich habe ich meine Bedenken. Aber: Uns geht es gut. Wegen Olkiluoto. Ohne das Atom-Geld würde es meinen Job vielleicht gar nicht geben. Da kann ich doch nicht mit meiner kritischen Meinung hausieren gehen.

Da würde ich ja quasi gegen meine eigene Arbeit zu Felde ziehen. Sie dürfen auch nicht vergessen: Für uns gehört die Atomkraft zum Alltag. Wir haben uns längst an sie gewöhnt. Sie schmecken nichts, sie riechen nichts, fast jeder von uns hat Verwandte, die in den Atomkraftwerken arbeiten.""

Dass Pirjo Jaakola so vorsichtig ist, hat noch einen weiteren Grund. Der Grund trägt Jeans, kurzes schwarzes Haar – und durchpflügt heute Nachmittag mit seinem Traktor ein letztes Mal in diesem Jahr den pechschwarzen Boden. Pirjo Jaakolas Mann ist Bauer – und in Eurajoki bekannt als "der Rebell", spätestens seit er als Gemeinderatsvorsitzender vor elf Jahren bei der entscheidenden Abstimmung gegen das Endlager stimmte.

Vor drei Jahren hat Juha Jaakola das Handtuch geworfen: Rücktritt. Die Pro-Atom-Politik der Mehrheit zu vertreten und umzusetzen – irgendwann konnte der Landwirt das nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Juha Jaakola steigt vom Traktor und stapft zum blau gestrichenen Wohnhaus. Er zieht die matschigen Gummistiefel aus.

Dann geht er, vorbei an unzähligen Fotos seiner fünf Kinder, zu seinem ganzen Stolz: Der neuen Veranda. Hat er selbst gebaut. Mollig warm ist es hier – dank Fußbodenheizung! Heizen tut er mit dem Holz aus dem eigenen Wald. Zumindest er, meint der Mann lächelnd, dem man seine Anfang 60 nicht ansieht, habe der Atomwirtschaft den Stecker rausgezogen.

Juha Jaakola: "Klar fließt durch Olkiluoto und das Endlager viel Geld in die Gemeindekasse. Aber wir müssen doch auch an die zukünftigen Generationen denken. An unsere Enkel und Urenkel. Es gibt so viele Unwägbarkeiten. Die Erde hier an der Küste hebt sich langsam. Wer sagt uns, wie sich das Meer und die Küste über die Jahrhunderte verhalten werden? Wer sagt uns, dass das Endlager wirklich tief genug sein wird? Ich saß bei zig Präsentationen von Posiva und TVO. Immer das Gleiche. Sie haben gesagt: Wir denken, es wird sicher sein. Denken! Nicht wissen."