Stoff für zehn Bücher

In diesem "Roman in zehn Bildern" wird das Leben Josef Kramers aufgefächert. Was zunächst wirkt wie ein klassischer Bildungsroman, wird schnell auch ein Panorama des Terrors des 20. Jahrhunderts, denn das achte Bild zeigt Josef als Zwangsarbeiter und das neunte als KZ-Insasse. Eine Wiederveröffentlichung zum 100. Geburtstag H.G. Adlers und zugleich eine Wiederentdeckung eines der letzten Romane der Prager Schule.
Zu Beginn des Romans "Panorama" von H. G. Adler besucht Josef Kramer mit der Großmutter eben diese Vergnügungseinrichtung, in der stereoskopische Aufnahmen gezeigt werden. Nach diesem "Vorbild" genannten Prolog schildert der "Roman in zehn Bildern" Josefs Leben: Er feiert seinen achten Geburtstag im Kreis der Familie während des Ersten Weltkriegs, lebt als Pflegesohn bei Händlern und Bauern in Böhmen, besucht ein militärisch geführtes, deutsches Internat, ist Mitglied einer jugendbewegten Wandergruppe, verbringt als Suchender einen Abend bei einem Mystiker, lebt als Privatlehrer bei einer vermögenden Bürgersfamilie und wird Angestellter in einem Kulturhaus.

Ein ungewöhnlich erzählter Bildungsroman also? Nein, denn schon im Prolog merkt der Erzähler (ein wenig überraschend über Großmutter und Kind hinweg) an, dass die Bilder den Betrachtern fremd blieben und Teil eines regelmäßig wechselnden Programms seien: "So gibt es kein Ganzes, nur einzelne Stücke ohne Ende." Die Bilder aus Josefs Leben zeigen also nicht klassisch-romantisch die Vollendung seiner Humanität, sondern deren fortwährende Missachtung: Im achten Bild ist Josef Zwangsarbeiter beim Bau einer Eisenbahn, im neunten ein "Verlorener" in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald. Im zehnten Bild unterzieht er sich und das Panorama der ihm zugestoßenen Lebensbilder einer umfassenden Kritik. "Panorama", 1948 entstanden, ist die frühe Auseinandersetzung eines Überlebenden mit dem Holocaust.

Das Buch ist, so sah es auch schon Adlers Freund Elias Canetti, grandios, nur zu reichhaltig. Es enthält eigentlich mehrere Bücher: Internat und Wanderjugend erinnern an Prosa aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts, ohne jedoch die Schärfe des Musilschen "Törless" zu erreichen. Zu großer Form läuft Adler in den Bildern über mystische Sehnsüchte, die hysterisch-moderne Bürgerfamilie und das im Chaos aus Korruption, Unfähigkeit und Geschwafel untergehende Kulturhaus auf: Sein bissiger, schmissiger, unablässig Pointen produzierender Witz wirkt, als hätten sich Yvan Goll, Walter Serner und Drehbuchautoren der Fernsehserie "Klimbim" die Bälle zugespielt.

Zwangsarbeit und Konzentrationslager schildert er äußerst beklemmend, und am Ende steht eine philosophisch-religiöse Reflexion in England, in der Josef zu einer Philosophie der Gnade und der Dankbarkeit findet, das Panorama hinter sich lässt und frei wird.

Alle Bilder sind in einer stark rhythmisierten, vorwärtsdrängenden Sprache durchweg im Präsens verfasst. Kurze Sätze reihen sich oft atemlos aneinander und bilden die einem Bild eigene Simultaneität der Ereignisse nach. Die Situationen besitzen große Eindrücklichkeit und Unmittelbarkeit; Landschaftsbeschreibungen lassen an Stifter denken; Verknappungen und ungewöhnliche Wendungen erinnern, wie Adlers Sohn Jeremy im instruktiven Nachwort bemerkt, an die Prager Schule um Max Brod.

H. G. Adler, der 1947 aus der Tschechoslowakei vor den Kommunisten nach England floh war, konnte "Panorama" 1948 nicht veröffentlichen. Als der Roman 1968 erschien, waren die Umstände ungünstig: Man schätzte die dokumentarische Literatur. Adler gilt daher bis heute als Verfasser der wissenschaftlichen Standardwerke "Theresienstadt 1941 - 1945" und "Der verwaltete Mensch". Der wortgewaltige Schriftsteller ist noch immer zu entdecken.

Besprochen von Jörg Plath

H. G. Adler: Panorama. Roman in zehn Bildern
Mit einem Nachwort von Jeremy Adler
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010
623 Seiten, 27,90 EUR