Stoff für drei Romane schlecht erzählt

Rezensiert von Gregor Ziolkowski |
Wer den Spuren Sabina Spielreins (1885-1942) folgt, bekommt es mit dem Stoff gleich mehrerer Romane zu tun: Das Leben der Jüdin aus der russischen Provinz (Rostow am Don), die 1904 als Patientin nach Zürich kam, um vom "Secundararzt" C. G. Jung wegen ihrer seelischen Störungen behandelt zu werden, die dann dort Medizin studierte und zu einer der Pionierinnen der Psychoanalyse wurde, die im angespannten Verhältnis zwischen Jung und Sigmund Freud zu vermitteln suchte, die ihr Leben zwischen der Schweiz, Deutschland und Österreich verbrachte, bevor sie 1923 in die Sowjetunion zurückkehrte und dort von deutschen Soldaten 1942 erschossen wurde, bietet derart viele Schichten, dass sie in einem Buch nur schwer zu bündeln sein dürften.
Da wäre der historische Roman, der von zwei bzw. drei russischen Revolutionen (1905, 1917) und deren Folgen handeln müsste, vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg, von kommunistischer Utopie und ihrem Menschenbild. Da wäre aber auch ein komplizierter Liebesroman zu erzählen, der von der Affäre zwischen Carl Gustav Jung und seiner Patientin erzählt, einer letztlich enttäuschten Liebe (der Frau zum Mann), über die sich der wissenschaftlich-weltanschauliche Streit zwischen Jung und Freud lagerte. Die "Fallgeschichte" der Sabina Spielrein müsste dort ebenso vertreten sein wie das biographisch-professionelle Porträt einer Frau, die sich in einer männlich dominierten Umgebung durch ihre wissenschaftliche Arbeit Respekt verschaffte. Und schließlich wäre da der Roman einer Näherung, einer Spurensuche und einer Wiederentdeckung, der das Interesse an dieser lange im Vergessen eingeschlossenen Person der Zeitgeschichte plausibel macht.

Die in Berlin und Kiel lebende Autorin Bärbel Reetz hat sich bemüht, alle diese Romane in einem zu schreiben. Gestützt auf das - offenbar nur bedingt auskunftsfreudige oder zitierfähige - Tagebuch Sabina Spielreins und Briefe von ihr, Materialien, die 1977 gefunden wurden, versucht sie eine Rekonstruktion dieses Lebens vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte. Und hier liegt das Problem dieses Romans. All die Facetten, die in ihm eine Rolle spielen sollen oder müssen, sind vorhanden, ergeben am Ende aber keinen Roman, sondern eine Art Materialsammlung. Die ist ohne jeden Zweifel hochinteressant, aber eben kein Roman, jedenfalls kein gelungener.

Am problematischsten sind die Tagebuchnotizen, die die Ich-Erzählerin über ihre Recherchen einstreut. Sie wimmeln von beobachteten oder erlebten Banalitäten wie den langen Beinen junger Mädchen, detaillierten Bestellungen in Cafés und Restaurants oder müßigen Spekulationen darüber, was Sabina Spielrein, die an jenen Orten gewesen sein könnte, wohl bestellt haben mochte. Auch die aktuellen tagespolitischen Notizen (Putin trifft sich mit Schröder) oder die geradezu touristisch aufbereiteten Beschreibungen ihrer Russland-Reisen (mit Abflug- und Ankunftszeiten) sind letztlich völlig überflüssige Informationen. Wo es um die eigentlichen Recherchen geht, notiert sie vorzugsweise die Mühseligkeiten und Ablehnungen, die sie auf der Suche nach Dokumenten oder Zeitzeugenaussagen hinnehmen muss. Erst die Danksagung der Autorin im Anhang des Buches macht deutlich, dass es in dieser Hinsicht offenbar auch viel Entgegenkommen gegeben hat, selbst in Rostow am Don, wo ihr ein Wissenschaftler "großzügig" seine biographische Arbeit über Sabina Spielrein überlassen hat.

Die "Fallgeschichte" Sabina Spielreins wird detailliert in den Symptomen beschrieben (Grimassen, Zucken der Beine, Rucken des Kopfes, Zunge herausstrecken, zwanghaftes Masturbieren), benannt werden auch die wahrscheinlichen Ursachen - das frühe Sterben einer Schwester, die Gewalttätigkeiten des Vaters -, aber dennoch bleibt diese Fallgeschichte blass, wohl, weil sie sich sogleich mit der Liebesgeschichte zum behandelnden C. G. Jung mischt und von hier aus die Rivalität zwischen Jung und Freud eingeblendet wird. Es macht die Sache nicht übersichtlicher, dass die Erzählerin sehr häufig die Ebenen wechselt: Das Tatsächliche mischt sich mit notierten oder möglichen Träumen, häufige Zeitsprünge und die damit verbundenen Ortswechsel (Zürich, München, Wien, Berlin, Genf, Lausanne) erzeugen mehrfach einen Eindruck von Konfusion.

Der zeitgeschichtliche Rahmen kommt über weite Strecken wie ein Sachbuch daher, zum Ende hin, wo die Sowjet-Verhältnisse kurz vor der Rückkehr Sabina Spielreins nach Moskau und Rostow beschrieben werden, gekleidet in vornehmliche Briefe des Bruders. Der Ton entspricht in diesen Passagen im Bemühen, möglichst viel Informationen zu liefern, dennoch eher einem Aufsatz als einem Roman. Insbesondere hier wird ein entscheidender Mangel offenbar: Nie wagt sich die Erzählerin nah genug an ihre Figur heran (oder - wenn auch spekulativ - in sie hinein), um deren eigene Stimme hörbar zu machen. Die Briefe des Bruders drängen die Spielrein zur Rückkehr nach Russland, weil dort die "Psychotechnik" eine große Zukunft habe, wirklich plastisch wird der innere Wunsch der Analytikerin nach Rückkehr aber nicht.

Seine besten Momente hat der Roman, wenn der Stoff selbst "lebendig" wird, etwa wenn es um die Rivalität zwischen Freud und seinen Schülern geht. Aber auch hier ist es die Spannung eines beschreibenden Sachbuches, die sich mitteilt, weniger die eines Romans, in dessen Zentrum eine außergewöhnliche und komplizierte Frau steht.


Bärbel Reetz: Die russische Patientin
Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2006
330 Seiten, 19,80 Euro.