Störfall oder Glücksfall?

Das mehrsprachige Klassenzimmer

Rosemarie Tracy und Michael Wüstenberg im Gespräch mit Katrin Heise · 26.03.2014
Kinder in Deutschland sprechen heute viele unterschiedliche Sprachen - die Lehrer müssen sich pädagogisch darauf einlassen. Manchmal wird das zur Überforderung, sagt der Schulleiter eines Berliner Gymnasiums, Michael Wüstenberg. Der Erfolg fängt bei der Wertschätzung der Vielsprachigkeit an, betont die Linguistin Rosemarie Tracy.
Katrin Heise: Natürlich ist die Beherrschung von mehreren Sprachen in unserer globalisierten Welt wichtig und ein großer Vorteil, allerdings gilt das für die Beherrschung von bestimmten Sprachen. In Deutschland muss man natürlich Deutsch können, dann Englisch, dann ist wahrscheinlich immer noch Französisch sehr angesehen, Spanisch, folgt vielleicht Italienisch, irgendwann Russisch, zwischenzeitlich war auch Chinesisch mal sehr angesagt.
Aber wo bleiben Türkisch, Arabisch, Polnisch, Vietnamesisch und so weiter und so fort, also all die Sprachen, die in deutschen Klassenzimmern anwesend sind, anwesend, aber nicht gewertschätzt? Das Thema Mehrsprachigkeit, vom Störfall zum Glücksfall, das will ich jetzt diskutieren mit Rosemarie Tracy, Linguistikprofessorin, und Michael Wüstenberg, er ist Schulleiter in Berlin-Wedding. Schönen guten Tag!
Rosemarie Tracy: Ja, guten Tag, Frau Heise!
Michael Wüstenberg: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Sie, Frau Tracy, wollen die Wertediskussion, so verstehe ich das, ein bisschen umdrehen, Chancen der Mehrsprachigkeit betonen, statt dieses ewige Klagen über Nachteile der Halbsprachigkeit, oder?
Tracy: Ja, also, aus sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es eigentlich keine Halbsprachigkeit, es gibt keine halben Sprachen. Es gibt keine halben Sprachen, es gibt nur Sprachen, die mehr oder weniger differenziert erworben werden. Und wenn dieser Anreiz nicht vorhanden ist oder irgendwann also aufhört, dann hört natürlich auch der Lernprozess relativ schnell auf.
Heise: Herr Wüstenberg, Sie leiten ein Gymnasium in Berlin-Wedding mit Klassen, in denen 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht deutsche Wurzeln haben. Wie erleben Sie das in der Praxis? Also, Halbsprachigkeit will ich jetzt nicht mehr sagen, weil, das ist ja schon so eine Wertung, aber vielleicht nicht zu Ende gelernte Sprachen. Was erleben Sie da mehr, diesen Sprachenwirrwarr oder tatsächliche Vielsprachigkeit?
Wüstenberg: Ja, ich erlebe eher eine Vielsprachigkeit. Wobei die Beschäftigung mit der Mehrsprachigkeit hier zu meinem Unterrichtsalltag gehört. Und wir haben insgesamt 75 Prozent Kinder nicht deutscher Herkunft an unserer Schule, die erfassen wir so, dass diese Kinder zu Hause in ihren Familien nicht Deutsch sprechen. Wir haben aber auch noch Kinder, die zu Hause Deutsch sprechen, aber auch mehrsprachig aufgewachsen sind oder nicht deutsche Wurzeln haben. Wir haben auch Klassen, wo 90, 95 Prozent der Kinder nicht deutsche Wurzeln haben.
"Probleme haben wir in der Schriftsprache"
Das heißt, bei uns hier in Berlin-Wedding, an einem übernachgefragten Gymnasium – also, wir haben sehr großen Zulauf, sehr große Nachfrage – ist die Mehrsprachigkeit unserer Kinder der Normalfall. Die hat positive Auswirkung, auf mich persönlich oder auf das Handeln der Lehrkräfte, aber auch nachteilige. Und trotzdem beherrschen alle Kinder, die zu uns kommen, Deutsch so, dass sie in der Umgangssprache sicher sind und auch in einer Sprache, mit der sie aufs Gymnasium kommen, sich hier erst mal in den siebenten oder fünften Klassen, wenn sie bei uns anfangen, zurechtfinden. Das klappt gut. Probleme haben wir in der Schriftsprache.
Heise: Wollte ich gerade sagen, vielleicht auch noch mal ein Nachteil, weil, sonst hat man das Gefühl, wir sind gar nicht in der Wirklichkeit, die wir sonst immer in den Medien transportiert bekommen!
Wüstenberg: Ich habe gehofft, dass Sie deshalb mit mir sprechen, wegen der Wirklichkeit. Also, die Probleme, die wir haben, liegen in der Schriftsprache. Die Probleme, die wir haben, liegen in der Wissenschaftssprache, wo wir am Gymnasium irgendwann hinkommen wollen. Wenn ich in der Oberstufe in Philosophie-Kursen mich mit Kant-Texten beschäftige, dann komme ich, wenn ich eine Zusammensetzung in meinen Lerngruppen rein deutscher Herkunft habe, relativ zügig ins Philosophieren. Wenn man das mit Lerngruppen macht, wo 75 Prozent Kinder nicht deutscher Herkunft sind, dann muss ich erst mal mir den deutschen Text erschließen. Und das ist dann ein anderes Philosophieren.
Heise: Frau Tracy, wie kommt man da hin, dass man …
Tracy: Darf ich dazu kurz was sagen …
Heise: Genau, wie kommt man da hin, dass man gleich auf einem Niveau gemeinsam einsteigen kann, wo man also nicht immer wieder an die Basis gehen muss?
Tracy: Ja, das geht eigentlich nur dann, wenn man praktisch an der Basis, in der Kindheit anfängt mit der Sprachförderung. Also, wenn die Kinder beispielsweise möglichst früh in der Kita das sprachliche Angebot auf Deutsch erhalten, das sie brauchen, und dann eben möglichst viel Zeit haben vor Schulbeginn, um sich diese Ressourcen anzueignen, die sie benötigen.
Heise: Eine kurze Nachfrage! Also, Kinder, die in Familien beispielsweise mit der rein türkischen Sprache aufwachsen, haben die trotzdem eine realistische Chance, das Deutsche perfekt zu lernen?
Tracy: Ja, natürlich, selbstverständlich! Ja, was heißt eigentlich perfekt? Ich meine, wenn Sie in die deutsche Dialektlandschaft schauen, sehen Sie auch da, dass sich unsere Dialekte unterscheiden.
Heise: "Das mehrstimmige Klassenzimmer", dieser Ausdruck stammt von der Linguistin Rosemarie Tracy. Sie und den Schulleiter Michael Wüstenberg hören Sie hier im "Radiofeuilleton". Herr Wüstenberg, Sie haben auch von sich selber gesprochen, der Sie profitieren von den vielen Sprachen, die gesprochen werden in Ihren Klassenzimmern. Wie sprachkompetent muss die Lehrkraft eigentlich sein, wie wünschen Sie sich das?
Wüstenberg: Erst mal müssen die Lehrkräfte alle in ihrem Fach kompetent sein und dann erwarte ich von denen – und das ist, glaube ich, ein Unterschied in der Herangehensweise –, man muss sich darauf einlassen, dass man Kinder hat, die mehrsprachig sind. Und in der Regel sind die Lehrkräfte bisher in ihrer deutschen Sprache aufgewachsen, die kommen in der Regel aus rein deutschen Familien, die unterrichten aber in der Breite, in den Innenstadtbezirken, in den Großstädten Kinder nicht deutscher Herkunft.
Und was die Pädagogik angeht und die Methodik, erwarte ich von den Kolleginnen und Kollegen – und das leben wir hier auch so am Lessing-Gymnasium, dass sie sich auf diese Mehrsprachigkeit einlassen. Also, wir müssen Hilfestellung geben, wir müssen aber auch aushalten, wir müssen auch geduldig sein, wir müssen Sprechanlässe bieten, wir müssen Schreibanlässe bieten, wir müssen immer wieder auch lesen mit den Kindern. Und das ist ein anderer Unterricht. Und das ist auch von der Mentalität, von der Einstellung her, von der Zuwendung her ein anderer Unterricht.
Heise: Bekommen Sie das eigentlich auch hin, dass Sie die Mutter- oder Vatersprachen, die zu Hause gesprochenen Sprachen der Schüler im Unterricht wertschätzen können?
Wüstenberg: Das funktioniert bei den Sprachen, die wir vorhin schon gehört haben, Französisch, Englisch oder so, leichter. Wir haben ein Problem in der Wertschätzung des Türkischen und Arabischen, weil wir da keine Schnittmengen in der Regel dazu haben. Es gibt ganz wenig Lehrkräfte, die diesen Sprachen auch kennen. Dann ist da die andere Religion im Hintergrund, auch eine andere Kultur, manchmal auch eine Bildungsferne.
Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass, selbst wenn ich zwei arabische Kinder in der Klasse habe, dass die gar nicht miteinander Arabisch sprechen, weil die sich nicht verstehen. Die sprechen unterschiedliche Dialekte. Für uns hier am Lessing-Gymnasium ist Deutsch die Verkehrssprache. Wenn dann mal drei, vier Menschen einer Sprache zusammenstehen, dann gestatten wir denen auch, in ihrer Sprache zu sprechen, aber wenn dann jemand dabei ist, der diese Sprache nicht versteht, dann erwarten alle, Schüler, Eltern und Lehrkräfte, dass man dann ins Deutsche wechselt.
Heise: Frau Tracy, wie könnte eine Wertschätzung von Sprachen, die im Hintergrund da sind, also von Sprachkompetenz im Unterricht aussehen, wenn eben außer einer Person keiner Vietnamesisch im Raum spricht? Wie könnte aber trotzdem das anerkannt werden, dass da jemand eben diese Sprache spricht?
Tracy: Also, nach dem, was Herr Wüstenberg eben gesagt hat, klingt es für mich schon so, dass in einer Schule, wie er sie da jetzt leitet, auch die hervorragenden Bedingungen dafür da sind. Das heißt, dass die Lehrer an sich schon einmal das Potenzial sehen, was in den Schülern vorhanden ist, die Mehrsprachigkeit positiv sehen. Und für Lehrer mit dieser Einstellung haben wir dieses Buch ja auch verfasst, diese Idee, dieses "mehrsprachige Klassenzimmer", das am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft … Die Idee ist da entstanden. Man stellt jetzt etwas zusammen, was für Lehrer, die jetzt sich dafür interessieren, wie die Erstsprachen ihrer Schüler aussehen …
Heise: Kann man das auch Lehrern hilfreich in die Hand geben, die jetzt nicht an einem Gymnasium unterrichten, sondern …
Auch bei Mathe-Aufgaben die deutsche Sprache üben
Tracy: Ja, natürlich, es ist für alle Leute, also nicht nur Lehrer, sondern für alle, die sich für Unterschiede zwischen Sprachen interessieren. Und wir haben jetzt den Schritt getan mit diesem Buch, uns auch zu überlegen, wo liegen denn besondere Lernhürden. Die Lehrer können natürlich, wenn sie wissen, dass sie Schüler vor sich haben, deren Sprachen keinen Artikel haben, wie das Russische oder wie das Türkische, und sie sollen mit denen deutsche Texte lesen, dann würden Lehrer ganz besonders auf diesen Bereich achten und würden die Aufmerksamkeit der Schüler darauf richten, dass im Deutschen eben vor diesen Nomina ein Artikel stehen muss. Und sie würden auch, wenn sie eine Mathematikaufgabe haben, wo ein Artikel manchmal fehlt, weil er fehlen darf, dass man lieber noch mal einen Artikel hineintut, damit die Schüler klarer sehen, eigentlich sollte da ein Artikel stehen.
Heise: Ist so etwas realistisch, Herr Wüstenberg?
Tracy: Ja, da wollte ich wirklich auch gerade etwas zu sagen: Wenn wir an unsere Lerngruppen denken von 30 bis 32 Kindern am Gymnasium unterschiedlichster Herkunft und wir erwarten von unserer einen Lehrkraft, die vor der Klasse steht, dass sie Sprachbildung konsequent umsetzt, dann ist sie vielleicht geschult in Bezug auf die Mathematik zu differenzieren, aber sie bleibt überfordert, wenn er versucht, auf seine sechs, sieben, acht Sprachherkünfte zu differenzieren. Und dann soll sie noch die Ergebnisse in der Mathematik selber bringen. Das ist eine Anforderung, da kann man noch so viel Fortbildung machen, es bleibt aus meiner Sicht eine Überforderung. Also, ich freue mich, dass so ein Buch entstanden ist, aber der Lehrer ist in seinen Lerngruppen vor den Klassen alleine gelassen.
Und jetzt wird es schwierig: Wir haben hier am Lessing-Gymnasium einen Riesenpool an Sprachmaterialien, also an Mathematikmaterialien, die sprachrelevant aufbereitet sind zum Beispiel. Da muss er aber diese Sachen zusammensuchen für seine Klasse, er muss am Ende der Stunde im Prinzip mit einem Ergebnis irgendwo ankommen, wo er allen Kindern gerecht geworden ist, und er muss dann da weitermachen.
Heise: Und es muss außerdem noch Mathematik sein.
Tracy: Aber darf ich zu dem, was Herr Wüstenberg eben ganz richtig sagte, zu dieser Überforderung was sagen? Es ist klar, der Mathematiklehrer, die Mathematiklehrerin kann jetzt nicht binnen-differenziert auf die Sprachprobleme der einzelnen Herkunftssprachen eingehen, aber er oder sie kann wissen, dass die Kinder in der Regel nicht am Rechnen scheitern, das weiß er oder sie sowieso, sondern an ganz bestimmten sprachlichen Fallen, die in den deutschen Texten stecken. Und wenn man darüber was weiß und den Text dahingehend mit den Kindern vor dem Lösen der Aufgabe diskutiert, egal ob das arabische Sprecher sind oder englischsprachige Zweitsprachlerner, die Probleme sind auf einer bestimmten Ebene auch wieder ganz ähnlich. Und wenn wir es schaffen als Sprachwissenschaftler, da ein bisschen Hilfestellung zu geben, dann sind wir, glaube ich, alle ein kleines Stück weiter.
Heise: Anregungen und Hilfestellungen also auf jeden Fall gewünscht und notwendig, denn eins ist uns sicherlich im Gespräch jetzt eben klargeworden: Dass die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit schon mal ein großer Anfang ist! Ich danke Ihnen ganz herzlich, Rosemarie Tracy, Linguistikprofessorin, und Michael Wüstenberg, Schulleiter des Lessing-Gymnasiums in Berlin-Wedding. Danke Ihnen beiden!
Tracy: Ja, vielen Dank, Frau Heise! Wiederhören!
Wüstenberg: Wiedersehen!
Heise: Und das Buch von Rosemarie Lessing, "Das mehrsprachige Klassenzimmer", ist gerade im Springer-Verlag erschienen. Heute Abend wird darüber diskutiert, um 18:30 Uhr in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.