Stölzl: "Berlin ist kein normales Bundesland"

Moderation: Jürgen König |
Das Verfassungsgerichtsurteil zur Berliner Finanzklage ist nach Ansicht des ehemaligen Berliner Kultursenators, Christoph Stölzl, eine "falsche Antwort auf eine falsche Frage". Berlin sei zwar ein Stadtstaat, aber kein gewöhnliches Bundesland, sagte der CDU-Politiker. Die kulturelle und wissenschaftliche Infrastruktur sei durch die besondere historische Entwicklung Berlins gewachsen.
Jürgen König: Arm, aber sexy sei Berlin, sagt Klaus Wowereit. Sexy ja, aber nicht arm genug, sagt das Bundesverfassungsgericht. Und also wird es keine Bundeshilfen für die Hauptstadt geben, die auf einem Schuldenberg von 61 Milliarden Euro sitzt. Im Studio nun angekommen: Professor Christoph Stölzl, früher Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses, ganz früher Berliner Kultursenator, heute einer der Geschäftsführer, Mitglied der Geschäftsführung, so muss man sagen, des Auktionshauses Villa Grisebach in Berlin. Herr Stölzl, einen schönen guten Morgen.

Christoph Stölzl: Guten Morgen.

König: Arm, aber sexy. Arm, nicht genug, wenn auch sexy. Stimmen Sie Winfried Hassemer zu?

Stölzl: Also ich finde, das ist ja Wortgeklingel. Das war schon bei Herrn Wowereit ein Wortgeklingel, eigentlich ganz dumm. Berlin ist arm, selbstverständlich, strukturell arm. Berlin ist immer noch ein Abbild der deutschen Teilung und ihrer nur teilweisen Überwindung. Und Berlin braucht Solidarität - aber nicht nur, indem da irgendwelche Kredite oder Kassenbestände rüberwachsen, sondern Solidarität dergestalt, dass alle Beteiligten mal nachdenken, was Berlin überhaupt ist. Dass Berlin - das Karlsruher Urteil, finde ich, ist eine falsche Antwort auf eine falsche Frage. Denn Berlin ist zwar ein Stadtstaat, ein Bundesland, aber in Wahrheit ist es eine Lebenslüge gewesen. Jeder Historiker, der ein Buch aufschlägt, sieht, dass Berlin überhaupt nur das geworden ist, was es ist, weil es Hauptstadt des Königreiches Preußen war. Das ist untergegangen, auch als Reichsland 1946/47, nach dem Zweiten Weltkrieg. Daraus wurden lauter Provisorien. Die DDR war ein Provisorium, die dann 1989/90 unterging. Und die anderen Dinge sind auch Provisorium, obwohl niemand Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen auflösen will. Aber das Land Berlin, das so genannte Land Berlin, das eigentlich eine Stadt ist, sonst gar nichts, ist natürlich überhaupt kein normales Bundesland, das man mit einem anderen normalen Bundesland vergleichen kann.

König: Also der Vergleich, den das Bundesverfassungsgericht mit Hamburg zieht, sagen Sie, der kann so nicht gezogen werden?

Stölzl: Der ist falsch. Obwohl man sagen muss, anders geht es natürlich nicht. Die Systematik dieser Verfassungsklage kann gar nicht anders sein - leider -, als dass ein Land sagt: "Uns geht es schlechter als einem anderen Land und wir können unsere Landespflichten nicht erfüllen." Viel richtiger wäre es gewesen, wenn man zum richtigen Zeitpunkt, nämlich zum Zeitpunkt der deutschen Einigung, gesagt hätte: Wir schauen uns mal an, was liegt denn da herum? Das Königreich Bayern, jetzt Freistaat Bayern, von Napoleon zugeschnitten, das lebt ganz gut und das wird auch weiter ganz gut leben. Und so weiter und so weiter. Und man hätte manche Bestände gefunden, manche Länder, die eben nicht passen. Und Berlin passt überhaupt gar nicht. Und die Ausstattung Berlins, um die es jetzt geht, die strittige ist ja die Kulturausstattung, über die wir heute reden - dass Berlin Soziallasten schultern muss, die allgemeine Gesetze sind, darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Aber die Ausstattung an Wissenschaft und Kultur, übrigens auch an Infrastruktur, das ist eine riesige Stadt, die hat so viel Quadratkilometer wie das Ruhrgebiet, all dies ist ein Ergebnis dieser Rolle als preußische Zentralstadt für ein Reich, das von Aachen bis Königsberg reichte und zwei Drittel des Deutschen Reiches bedeckte - ich glaube, mehr Fläche als die heutige Bundesrepublik hat - und ist ein Ergebnis dann eines sehr ehrgeizigen Staates DDR - obwohl im mindesten, die zweiten Schöpfungen, Universitäten zum Beispiel, der deutschen Teilung. Also das heißt, wir haben einen Geschichtsfall, einen Geschichtsfall, auf den man als Geschichte antworten muss. Und eine Antwort hat man ja zum Beispiel 1957 gegeben: die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Aber wieso eine Stadt zwei Universitäten - oder drei mit der TU - betreibt, warum eine Stadt, eine ganz normale Stadt, drei Opern hat, kann man natürlich niemandem erklären, wenn man nicht einen Blick ins Geschichtsbuch tut.

König: Nun sagt aber das Bundesverfassungsgericht aber der Haushaltsnotstand, den die Stadt anmahnt, der existiere gar nicht. Möglicherweise auch, weil die Haushaltsnotstände in anderen Bundesländern so viel kleiner nicht sind. Es gäbe auf jeden Fall nicht diese existenzielle Bedrohung. Haben sie damit nicht Recht?

Stölzl: Also, je nachdem, wie man das rauf- und runterrechnet. Solange Staaten nicht bankrottgehen können und nicht der Gerichtsvollzieher kommt und die Uni zusperrt, sondern eben unbegrenzt Kredite aufgenommen werden, bis man am Schluss nur noch Zinsen zahlt und sonst nichts mehr tut, haben die natürlich Recht. Was ein Notstand, wie ein Familienvater, der seinen Eisschrank, seinen Fernseher, sein Auto abgeben muss, wenn er Konkurs gemacht hat, der kann natürlich bei einem Staat, auch bei einem Stadtstaat wie Berlin, gar nicht stattfinden. Aber ein Notstand ist es natürlich schon, wenn ich die notwendigen Dinge gar nicht mehr tun kann. Ich kann Opern, Theater, Museen, Universitäten nicht beliebig runterfahren, wie man so sagt, weil wir ein Sozialstaat sind, wo Menschen nach Tarifen bezahlt werden und Rechte haben. Ich kann nicht "Hire" und "Fire" machen wie in Amerika. Ich kann nicht sagen: Die Deutsche Oper sperren wir jetzt zu von Dezember bis Januar und dann machen wir sie wieder auf wie so ein Saisonbetrieb, wie so ein Kurhaus und dann geht das schon irgendwie.

König: Zumal das Schließen einer Oper 30 Millionen Euro sparen wird, bei 61 Milliarden ...

Stölzl: Das, das geht eben nicht. Ich finde, dass - ich finde auch die Errungenschaft, dass wir bei uns sozusagen in Normen, in Gesetzen, auch in sozialen Sicherheiten unser gesamtes Leben führen, darunter auch Kultur und Wissenschaft, da finde ich, sollte man nicht daran kratzen. Wiewohl man sagen kann: Vereinbarungen kann man machen. Weimar hat zum Beispiel am Weimarer Theater ein Modell gemacht vor ein paar Jahren, wo eben die Angestellten auf bestimmte Rechte auch verzichtet haben - so ähnlich wie bei VW: 4-Tage-Woche, statt 5-Tage-Woche. Also darüber kann man reden, ob die Beschäftigten sozusagen Einschnitte hinzunehmen bereit sind, damit die Institutionen weiterleben. Aber insgesamt finde ich schon, sagt das Urteil vielleicht für Finanztechniker das Richtige, aber etwas anderes ist natürlich falsch. Es ist ja keine Böswilligkeit, dass Berlin diesen wahnsinnigen Schuldenstand angehäuft hat. Berlin muss auch davon runterkommen. Und natürlich wäre es besser gewesen, man hätte mal durchgeatmet und gesagt: "Hier ist ein Geschichtsfall, auf den antworten wir." Nur, mein Eindruck ist ja, dass vielleicht - früher hätte man gesagt: in Bonn, ich muss mich immer umgewöhnen, dass es "in Berlin" heißt ...

König: Das ist schon ein bisschen her ...

Stölzl: Also die Bundesregierung in Gestalt des Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann, hat ja heute früh erklärt: "Wir bleiben solidarisch." Das ist ...

König: Ja, das habe ich auch mit Interesse gelesen.

Stölzl: Ja, ja. Das ist sozusagen eine allgemeine Formel, aber so was sagt ein Minister ja nicht ohne Hintergedanken. Und was jetzt fällig ist, ist, finde ich, die Flurbereinigung.

König: Entschuldigung: Welche Hintergedanken unterstellen Sie ihm da?

Stölzl: Der Hintergedanke ist, dass man doch noch mal diesen Preußen-Fall angeht, die Preußen-Frage. 1990 wurde die nicht gestellt, interessanterweise, sondern man sagte: "Sitzland" ist das Land, wo eine Institution darauf sitzt - so als säße die Humboldt-Universität sitzt in Berlin, die Oper sitzt da dort. Das ist ein ganz merkwürdiger Begriff aus dem Kulturfeudalismus, Sitzland. Und das ist natürlich unsinnig. Sitzland ist Preußen und Preußen gibt es nicht mehr. Und das Erbe, die Erben Preußens können nur die Mitglieder der deutschen Nation im Ganzen sein, finde ich. Und ich habe damals in meiner Zeit als Kultursenator - sehr unterstützt von Michael Naumann, der auch historisch dachte - gesagt: Wir müssen eigentlich so viel wie möglich von diesen alten preußischen Institutionen oder denen, die sinngemäß eben nicht Berliner Lokalinstitutionen sind - wie das Jüdische Museum zum Beispiel, natürlich eine Angelegenheit der Nation und nicht der Stadt Berlin ...

König: Wobei ...

Stölzl:... die müssen wir rüberziehen in Bundeshut, denn da gehören sie hin.

König: Und das ist ja auch in vielen Fällen geschehen, der Bund hat ja viel Verantwortung in Berlin übernommen.

Stölzl: Und er muss eben mehr übernehmen. Das muss ich auch sagen. Es ist völlig richtig, dass er die so genannte Akademie der Künste übernommen hat. Eigentlich muss ich sagen: Es hat im deutschen Föderalismus nur mal Frankfurt gegeben, die hatten ihre Universität in den 50er Jahren selber, bis sie Hessische Landesuniversität wurde. Aber es ist nicht einzusehen, warum also die großen wissenschaftlichen Institutionen städtischer Besitz sind. Ich finde, da muss man auch mal den Kopf schütteln, den Kopf frei machen und sagen: Was ist hier eigentlich: Ist es eine Stadt oder ist es ein Land?

König: Was sollte Berlin jetzt machen? Wenn Sie Kultursenator wären, noch, was würden Sie tun?

Stölzl: Ich glaube, man muss jetzt zunächst mal - so komisch das klingt - erst die Gedanken ordnen und dann folgen den Gedanken die Taten. Die Gedanken ...

König: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Stölzl: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Kongress, Symposium, historische Beweisführung - nicht als juristisches Einklagen: "Ihr müsst uns dies und das geben", sondern anschauen: Was ist dieses Phänomen Berlin? Das ist nicht so, dass man 1990 beschlossen hat: Wir gehen in ein beliebiges Bundesland - Oh, wie schön, da gibt es ja auch eine Oper, prima da können wir hingehen. Also das ist doch nicht so, dass irgendjemand jemals beschlossen hätte, dies alles zu erfinden. Man hat doch nicht beschlossen: "Wir wollen die Komische Oper", sondern die DDR, diese Diktatur, hat sich eben ausstaffiert mit einem wunderbaren Avantgarde-Institut. Und man wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, das nun zuzusperren. Also: Was ist da? Warum ist es da? Und brauchen wir es? Das ist schon eine entscheidende Frage.

König: Die Universitäten?

Stölzl: Und wenn wir sagen, wir steuern auf einen Wissensgesellschaft zu, auf eine Kulturgesellschaft - eine Kulturgesellschaft deswegen, weil wir in einem globalen Ringen um Identitäten und Überleben, ich meine, wir leben doch nicht in einer Schönwetterlage, die europäische Kultur ist doch nicht ein Schnörkel, den man so abends zum Tee nimmt, nach getaner Arbeit und nach gerauchten Schornsteinen, sondern die europäische Kultur ist bedroht, jeder weiß es, in der Konkurrenz, aber attackiert, und tut gut daran, dringend, sozusagen zu blühen, zu gedeihen, möglichst viele Menschen mit sich selbst in Einklang zu bringen. Und eine Wissensgesellschaft lebt davon, dass wir nicht Kohle und Stahl aus dem Boden kratzen, sondern unsere Köpfe bewegen. Insofern wäre man blöd, hier was zuzusperren.

König: Also das Fazit, auch dieses Gesprächs, ist: Berlin sollte sich jetzt auf seine Geschichte besinnen und punktuell Unterstützung des Bundes einfordern?

Stölzl: Und, ich muss sagen: Den Konsens mit der Nation finden über dieses Phänomen Berlin. Warum ist es so? Warum brauchen wir es so? Und warum machen wir es so? Und zwar nicht, weil wir uns vergleichen mit Saarbrücken, Stuttgart oder Hamburg, sondern weil wir uns vergleichen mit einer langen, vielhundertjährigen Geschichte.

König: Berlin möge sich auf seine Geschichte besinnen, sagt Professor Christoph Stölzl vom Auktionshaus Villa Grisebach in Berlin, früher Vizepräsident des Abgeordnetenhauses in Berlin und noch früher Berliner Kultursenator. Vielen Dank.