Stimmt die Chemie?

Von Verena Kemna |
Einst war die Region um Bitterfeld die wohl am stärksten verschmutzte Landschaft in der ganzen DDR. Mit der Wende kam das Aus für die großen Chemie-Kombinate. Was auf der einen Seite zum Verlust von Zehntausenden von Arbeitsplätzen führte, bedeutete auf der anderen Seite ein Neuanfang für innovative Unternehmen und eine Chance für die geschundene Natur.
Ute Walter war zu DDR-Zeiten eine von Tausenden Chemiearbeitern in Bitterfeld. Noch heute hat sie den heißenden Geruch in der Nase, erinnert sich an die giftige Dunstglocke.

"Ich kann mich genau erinnern. Früher konnte man nur mit geschlitzten Augen hier rumlaufen, weil die Flugasche über der Region lag. Im ersten Winter nach der Wende blieb der Schnee weiß, der sonst immer schwarz war wie die Erde. Es sind ganz viele hübsche Orte entstanden, die man genauso sehen kann, wie wenn man in Westdeutschland irgendwo unterwegs ist."

Auch Thalheim, am Rande des Chemieparks Bitterfeld ist so ein Ort. Das Dorf mit 1600 Einwohnern hat eine Erfolgsgeschichte. Dort produziert Europas größte Solarzellenfabrik. Ein Unternehmen auf Expansionskurs. Inzwischen wird Q-Cells wird an der Börse gehandelt, jeden Tag werden wieder ein, zwei Mitarbeiter für die Produktion eingestellt. Wenn Bürgermeister Manfred Kressin von den vier Musketieren redet, dann meint er die Firmengründer von Q-Cells. Es ist fast acht Jahre her. Da hat Manfred Kressin den Herren aus Berlin gezeigt, dass Bitterfeld anders ist. Frische Luft und freies Bauland statt Gestank und verseuchte Erde. Und das hat er ihnen versprochen.

"Sie können sofort mit dem Bauen beginnen, wir haben Planungssicherheit. Es gibt eine hohe Industrieakzeptanz in der Bevölkerung, sie haben keine Lärm- oder Emissionsprobleme wie in anderen Regionen der Fall ist, wo Menschen es nicht so gewöhnt sind so nahe an der Industrie zu leben und bei Akten, die über die Verwaltung laufen sind wir nachweislich zu einer Einheit geworden, die schnell zu Realitäten kommt. Das wir innerhalb von fünf Monaten und darunter eine Ansiedlung realisieren können."

Der Bürgermeister hat sein Versprechen gehalten. Neun Monate vom Spatenstich bis zur ersten Produktion, das ist Rekord und eine Perspektive für die Region, in der noch immer jeder fünfte arbeitslos ist. Nicht so der gelernte Mechaniker Uwe Schmorl. Er war der erste, der vor sieben Jahren bei Q-Cells angefangen hat. Inzwischen ist er Produktionsleiter. Besonders sorgsam überwacht er das Beladen der so genannten Grafitboote. Die Siliziumscheiben werden vollautomatisch beschichtet. Sie sind dünn wie Papier und leicht zerbrechlich. Der Mann im weißen Schutzkittel hebt eine zerbrochene Scheibe vom Boden, dieser Produktionsschritt ist besonders heikel.

"Weil hier unsere Grafitboote beladen werden und zwar durch einen Roboter, der sich um sieben Achsen gleichzeitig dreht und die zwölf Zellen aufs Hundertstel genau in das Grafitboot schieben muss."

Mit dem Beschichten kennt er sich aus. Wie 15.000 andere hat er zu DDR-Zeiten in der ORWO-Filmfabrik gearbeitet. Nach der Wende ist gerade einmal jeder zehnte geblieben. Für Uwe Schmorl sind die hauchzarten Siliziumscheiben ein Traum, der sich jeden Tag wieder neu erfüllt.

"Das ist neben meiner Frau der größte Glücksfall in meinem Leben. Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Es ist eine neue Technik, es sind ganz andere Größenordnungen, ganz andere Strukturen. Also sowohl in der Technik als auch menschlich eine unwahrscheinliche Herausforderung gewesen am Anfang. Ist es immer noch, weil Q-Cells wächst ja weiter."

Viele, die dort arbeiten wohnen auch in Thalheim. Dort sind alle Straßen und Wege neu gepflastert, da gibt es keine matschigen Feldwege mehr. Wenn Bürgermeister Manfred Kressin durch den Ort spaziert, ist er stolz. Da stehen neue Einfamilienhäuser mit Vorgarten und Autostellplatz. Am Ortsrand bleibt er stehen und zeigt in Richtung Sun Valley. Dort entsteht gerade der neue Micro-Tech Park. Die Hauptstraße ist fertig, aber noch endet die neue Sonnenallee auf dem freien Feld. Im nächsten Jahr werden zwei neue Fabriken der australischen Pacific Solar-AG und der amerikanische Evergreen mit der Produktion von Solarzellen beginnen. Das bedeutet insgesamt 5000 Arbeitsplätze. Für Thalheim ist die Bilanz schon jetzt exzellent. 500 neue Einwohner seit der Wende, dazu die Steuereinnahmen. Das ist einzigartig in der Region.

"Wir haben bis 2010 den Investitionsplan festgeschrieben und dann ist Thalheim ringsum mit neuen Straßen versehen. Die Infrastruktur hat dann einen Status, was wahrscheinlich seinesgleichen sucht in anderen Orten mit ähnlicher Größe."

Manfred Kressin ist nicht nur ehrenamtlicher Bürgermeister. Er ist auch Chef im Technologie- und Gründerzentrum vor Ort und ein Mann mit Visionen. Solar- und Chemieindustrie sind das eine sagt er, aber eben nicht alles.

"Ich sehe, dass wir diese Region mit Alleinstellungsmerkmalen entwickeln können, ähnlich wie Wolfsburg, aber das werden wir nicht ganz schaffen, Wolfsburg ist zu stark. Aber ähnlich wie die Entwicklung in Wolfsburg werden wir hier einen Entwicklungsprozess nehmen, der dazu führt, dass die Menschen sehnsüchtig hierher gucken sicherlich auch neidvoll, das ist gut, Neid muss man sich erkämpfen, andererseits auch gerne die Region besuchen wollen."

Wenn er Besuch bekommt, zeigt er zuerst die Sonnenallee im MicroTech Park und dann die Goitzsche. Im stillgelegten Braunkohletagebau ist eine künstliche Seenlandschaft entstanden. Eine Pilgerstätte für die Bitterfelder, ein Symbol für den Wandel der Region. Auf der ehemaligen Abraumhalde hat sich die Landschaft verändert. Zu DDR-Zeiten standen dort verkrüppelte Bäume. Inzwischen sind sie zu einem dichten Laubwald gewachsen. Seit kurzem steht auf der Bergkuppe ein Kunstwerk aus grauem Stahl. Der Bitterfelder Bogen sieht aus wie eine Brücke, eine Aussichtsplattform mitten im Wald. Für die Bitterfelder eine Attraktion.

"Einen ganz herrlichen Blick über unsere Goitzschelandschaft, auf die ich eigentlich sehr stolz bin, dass Bitterfeld so schön geworden ist. Einen herrlichen Blick über das Grün der Stadt Bitterfeld. Also ich würde sagen, für die Region ist das so der letzte I-Tupf."

Konvexe und konkave Formen der Stahlskulptur stehen für Bergbaugeschichte. Für das Ausgraben der Löcher, für das Aufschütten der Halde zu einem 50 Meter hohen Berg. Eine meterbreite Rampe aus gelochtem Metall führt im Zickzackkurs ganz allmählich dreißig Meter nach oben. Nur sechs Prozent Steigung sagt Armin Schenk. Er atmet tief die frische klare Luft und zeigt in die offene Landschaft. Armin Schenk ist in Bitterfeld für Wirtschaftsförderung zuständig, immer auf der Suche nach Investoren. Armin Schenk sehnt den Tag herbei, an dem er nicht mehr gegen das schlechte Image der Region ankämpfen muss. Für den Wirtschaftsmann ist das Kunstwerk ein Wahrzeichen für die Zukunft.

"Also hier sieht man erstmal Wald, das ist klar. Und je höher man kommt, sieht man auf der einen Seite die Goitzsche, auf der anderen Seite die Stadt Bitterfeld. Den Blick in den Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, bis zur Stadt Wolfen, bis zu den Produktionsstätten in Thalheim, bis nach Leipzig."
In einer Ecke, vor dem Stativ mit aufgebautem Fotoapparat steht der Künstler. Claus Bury aus Frankfurt am Main hat in den vergangenen Jahren Bitterfeld für sich entdeckt.

"Auch gestern kamen viele Leute aus Magdeburg und Halle und die kommen alle strahlend zurück. Was Schöneres gibt's nicht. Auch die Bitterfelder sind begeistert, das wird für die Zukunft ein Erlebnis werden und dann kommen die Radfahrer und dann noch die Goitzsche und alle sind begeistert von dem neuen Kulturstandort Bitterfeld-Wolfen."

Am Steg schaukeln Segelboote. Kleine Wellen klatschen auf den Strand. Am Ufer der Goitzsche liegt feinster weißer Ostseesand. Da stecken Sonnenschirme aus getrocknetem Schilfgras. Dahinter ein italienisches Restaurant mit Terrasse und Seeblick. Das alles ist für Lutz Bernhard erst der Anfang.

"Sie sehen doch jetzt eigentlich Strand. Einen Strand, wenn sie ein bisschen näher ran gehen von dem Pächter so gemacht, als wenn sie in Italien wären. Der Sand ist von der Ostsee, also nicht aus Italien, aber sonst soll hier also praktisch italienisches Flair entstehen."

Er handelt im Auftrag der Kommune. Lutz Bernhard verpachtet und verkauft Grundstücke mit Seeblick, italienisches Lebensgefühl inklusive oder auch dänisch? Er dreht sich um und zeigt auf zehn Ferienhäuser, rot gestrichene Holzhäuser mit eingezäunter Rasenfläche. Zwanzig sollen es werden.

"Das sind Häuser in fünf verschiedenen Größen und von außen müssen die sich an den Stil halten, den wir wollten. Aber wenn jetzt jemand kommt und sagt, Herr Bernhard, ich möchte von ihnen 2000 Quadratmeter haben, dann werden wir ihm keine Vorschriften machen. Doch, wenn er ein Hochhaus bauen will, dann würden wir nicht sagen, dass sie bauen dürfen.""

Klaus Bernhard ist Herr über 500 Hektar Wald und 25 Kilometer Uferfläche. Wenn er zehn Prozent vermarktet, ist er zufrieden. Nur der Zugang zum See muss für die Bitterfelder offen bleiben. Ein Seeadler hat die Goitzsche als Jagdrevier auserkoren. Sein Nistplatz bleibt Geheimnis. Der Greifvogel von der roten Liste ist ein gutes Zeichen, sagt Lutz Bernhard. Jetzt fehlen nur noch die Touristen.

"Unser Ziel ist, dass wir Kurzreisen anbieten, wo praktisch ne Erholung stattfindet, so wie am Bitterfelder See, wo wir italienisches Flair haben. Und tagsüber fahren sie nach Wittenberg und gucken mal, was hat denn der Luther da gemacht an der Kirche. Oder sie fahren ins Dessau-Wörlitzer Gartenreich und sehen, was hat Fürst Franz da gemacht. Das sind ja alles Weltkulturerbestätten, die von uns aus einen Steinwurf entfernt sind."