Stimmgewaltige Senioren auf Tour

Von Tourneestress keine Spur - und das, obwohl das jüngste Mitglied 74 Jahre alt ist. Der Chor "Young at Heart" gastiert derzeit mit seinem Programm "Road to Nowhere" in Berlin. Die rüstigen Rentner aus den USA genießen ihre Auftritte und fühlen sich dabei wie Rockstars.
Sie sitzen mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne, auf akkurat ausgerichteten Stuhlreihen mit Blick auf eine leuchtende Kinoleinwand: Man erkennt die Umrisse von 22 Gestalten, einige gebeugt und zusammengesunken, andere kerzengerade, aufrecht, sich bequem fläzend die nächsten, Damen und Herren durcheinander, eine zierliche Greisin kauert in einem Rollstuhl – und alle werden durch einen senkrecht von oben einfallenden Lichtstrahl beschienen, der im Dunkel des Raums die grau-weißen Schöpfe hell schimmern lässt. Und dann fangen sie an.

Immer noch abgewandt singen sie die ersten Zeilen, Verse aus einem Hit der Rockband "Talking Heads", gleichzeitig der Titel des Programms: "Road to Nowhere".

Als sich die Truppe dann stöhnend von den Sitzen erhebt, greift man sich grimassierend in die Seite, tastet haltsuchend nach Stuhllehnen, stützt ächzend den gebeugten Rumpf mit beiden Händen auf den Oberschenkeln ab - nur um kurz darauf diese Darbietung physischer Hinfälligkeit mit fulminanten Chor-Einsatz als Jux, als selbstironische Inszenierung zu veralbern.

Das ist kein geriatrisches Kunst-Therapie-Experiment, sondern eine genau inszenierte Rockshow – was in dieser Probe spätestens dann klar wird, als beim zweiten Durchlauf alle Gesten, alle Bewegungen identisch wiederholt werden – hier sind Profis am Werk, die selbst im Test das finale Pathos ihrer Darbietung souverän auszureizen wissen.

Der Witz dabei: der amerikanische Seniorenchor "Young at Heart" spielt nicht bloß mit greiser Hinfälligkeit, viele von ihnen sind genau das: gebrechlich - was sie aber nicht daran hindert, munter in der Welt herumzureisen und Konzerte zu geben.
Weltstars auf Tournee, und das heißt auch: Termine abarbeiten - in diesem Falle: abends Anreise, am folgenden Tag 12.00 Uhr öffentliche Probe, 13.30 Uhr: Berlin-Rundfahrt mit Pressebegleitung – was aber eigentlich niemanden zu stören scheint, die Stimmung ist bestens - ein Seniorenclub auf Vergnügungsreise.

Außerdem: die machen das nicht zum ersten Mal, die haben Tour-Routine:

"... jaa, keine große Sache!"
... wie Rockstars!"
"Ja, wir sind Rockstars"

Wo sie überall waren?

"” ...weiß nicht, in wie vielen Städten, in Deutschland waren wir hier und in München, wir waren außerdem in den Niederlanden, in verschiedenen Städten, in Belgien, Wales, Norwegen.""

Und von Tourneestress keine Spur:

"”Es macht einen Riesenspaß, wie eine große Party, wir haben eine gut e Zeit!""

Die zu garantieren auch des Stadtführers höchster Ehrgeiz zu sein scheint - und darum fügt er den üblichen Ortsmarken...

#’Der Kurfürsten-Damm, die Siegessäule, Kanzleramt …""

... ein paar Spezial-Interest-Infos bei :

"”Haben sie links das Ritz Carlton Hotel gesehen? Gerade vor einigen Wochen wohnten dort Kollegen von Ihnen – die Rolling Stones!""

Kollegen? Das passt nicht wirklich, diese Herrschaften sind stolz auf ihr Alter.

#"Wir sind zischen 74 und 94, der jüngste ist 74, ich bin 82.""

Dagegen sind die Herren Jagger und Kollegen Grünschnäbel. Nach einer halben Stunde Stadtrundfahrt, der erste große Stop, am Pariser Platz, vorm Brandenburger Tor.

Das Brandenburger Tor interessiert allerdings niemanden von den amerikanischen Gästen. Im Zentrum lebhaftesten Interesses steht einer von diesen Straßenkünstlern in der Uniform eines Sowjetsoldaten, vollständig silberfarben angesprüht, nahezu reglos in der Pose eines Kriegerdenkmals verharrend– eine Attraktion.

Aber während sich die meisten um den vermeintlichen Blech-Soldaten im Getümmel drängeln, steht, etwas abseits, ein älterer Herr von distinguiertem Äußeren - zum Anzug passende Fliege, gestärktes Hemd, das weiße Haar penibel frisiert, vor einer Litfasssäule auf dem Pariser Platz, und übersetzt vernehmlich Plakatinschriften – Brock Lynch ist einer der Veteranen des Chors - und er kann Deutsch – ein wenig:

"”Ich habe mir das Buch ‚Deutsch in30 Tagen’ gekauft – vor vier Jahren! - ich lerne immer noch!""

Dann könnten Sie ja auch auf Deutsch singen?

"”Wir singen ab und zu Deutsch. Zum Beispiel 99 Luftballons – oder der Fahrstuhl nach oben ist besetzt. Kennen sie die noch?""

Aber Brock Lynchs Sprachkenntnisse hatten nichts mit der Auswahl der deutschen Schlager zu tun:

"”Wenn du einen Song magst, sag’s nicht, dann mögen die ihn nicht – wir sind nicht demokratisch – es gibt diesen Film ‚Halt die Klappe und sing’ – das sagen die uns auch!""

Aber mögen Sie das Repertoire von "Young at Heart"? Mochten Sie schon früher Rock ’n’ Roll?

"”Überhaupt nicht, wir haben den Kindern gesagt, dreht es aus. Aber wir haben hier gelernt, wie man es genießbar und präsentabel machen kann.""
"Ich weiß auch nicht, ob ich ein konvertierter Rock ‚n’ Roller bin, aber ich mag’s."

... meint auch Stan Goldman, einer der Solisten des Chors. Goldman hat nur noch ein paar spärliche Flusen auf dem Kopf, ist krumm wie eine Trauerweide, ein Auge ist entzündet zugeschwollen, aber er trägt ein weithin leuchtendes Supermann-Shirt – nicht ohne Grund:

#’”Ich bin halt ein Supertyp, ich nenne mich ‚den Geist von 76’, weil ich 1930 geboren bin – ich bin nie warm geworden mit Rock ‚n’ Roll, komme aus’m Jazz, Mozart ist mein Lieblingskomponist – Kennen Sie ‚Le Nozze di Figaro?""

Roy Faudree, einer der beiden Produzenten von Young-at-Heart-Production "Road to Nowhere" hält dieses gespaltene Verhältnis zur jüngeren Popmusik gerade für das Ausschlaggebende:

#”Das Interessante ist die Art Kulturaustausch, den Young at Hearts macht – junge Leute denken manchmal, dass diese Musik ihnen gehört, aber oft haben sie überhört, was der Text eigentlich transportiert. Es kommen Leute zu uns, die sagen: Ich kenne diesen Song mein Leben lang, und habe erst jetzt verstanden, was eigentlich drinsteckt!""
Dann steigen alle wieder in den Bus, die Fahrt geht weiter, unter den Linden entlang, vorbei an den preußischen Prachtbauten, für die niemand ein Auge hat, weil Chorleiter Bob Cilman versucht, seine Sänger während der Rundfahrt symbolträchtig zu einer a Capella-Version "Road to Nowhere" zu animieren.

Was aber ohne Bass, Gitarre und Schlagzeug nicht funktioniert, "Young at Heart" ist kein Kirchenchor, die können nicht ohne Band!

"”Aufhören, es ist grauenhaft""

Der letzte Zwischenstop, ein Phototermin vorm Berliner Dom. Die Idee: alle Chormitglieder sollen sich auf der Freitreppe vorm großen Domportal aufstellen, um ein Erinnerungsphoto zu schießen. Eine Gruppe von 20 teilweise von der Last der Jahre schwer gedrückten Personen, wartend auf einer Treppe vor dem wuchtigen Portal eines finster drohenden Sakral-Monuments, die ganze Szene ins tristes November-Grau getaucht – dass könnte schnell ins Morbide abgleiten – stattdessen stehen Sänger und Sängerinnen, paarweise fest umschlungen, mit geschlossenen Augen lächelnd, scherzend und locker verteilt auf der steinernen Stiege, das könnte vielleicht das Photo zum nächsten Programm werden: Wie wär’s mit "Stairway to Heaven"?