Stimme der Stimmlosen

21.10.2011
Dieser Roman von 1958 gehört zu den Klassikern Lateinamerikas: In "Die tiefen Flüsse" erzählt Arguedas von einer Reise mit dem Vater durch die Anden. Der Wagenbach Verlag hat den in deutscher Sprache vergriffenen Text neu herausgebracht.
Als junger Mann, in den Sechzigern, reiste Mario Vargas Llosa ein paar Wochen durch den peruanischen Dschungel, ein weißer Städter in der Welt der Amazonas-Indianer. Quechua-Indios, die Bewohner der Berge, kannte er bereits aus Lima. Er hat später oft über die fremden Universen geschrieben, er ist als Romancier zu einer Institution geworden, 2010 bekam er den Nobelpreis. Im Schatten seines Ruhms verblasste die Leistung eines Landsmannes, dem Vargas Llosa viel zu verdanken hat. Dieser Mann war ein Wegbereiter moderner lateinamerikanischer Erzählkunst: José María Arguedas, geboren 1911 in einem Ort in den Anden.

Als Kind lebte Arguedas auf einer Hacienda unter Indios, er erlebte Demütigungen und archaische Feste und sprach Quechua als Muttersprache. Später reiste er mit dem Vater, einem politisch verfolgten Anwalt, quer durch die Berge, er wurde – das sagte er später – in dieser Zeit selbst zum Quechua. In Lima studierte Arguedas Anthropologie, ab 1957 war er Professor. Zerrissen zwischen zwei Kulturen fühlte der Moralist zeitlebens eine Mission: Stimme der Stimmlosen zu sein. Lange Jahre litt José María Arguedas an einer Depression; 1969 hat er sich erschossen.

Der Erzähler Arguedas schrieb zu Herzen gehende Prosa, Geschichten voller Zärtlichkeit, Trauer, Zorn und Verzweiflung, Texte, die emotional stärker wirken als etliche Romane des Nobelpreisträgers Vargas Llosa. Nach vier Büchern (das erste erschien 1935) publizierte der Anthropologe 1958 jenen Band, der ihn bekannt machte: "Die tiefen Flüsse". Hier erzählt Arguedas ein Stück der eigenen Geschichte - die eines Jungen namens Ernesto, der mit seinem Vater durch die Anden von Dorf zu Dorf reist. Der Junge lernt die rauhe Natur Perus respektieren, die Berge, Wüsten, Flüsse, und mit Ehrfurcht erkundet er die Überbleibsel der Inka-Kultur – Cuscos Mauern und die Mythen der Quechua.

Als Zögling einer katholischen Internatsschule im Städtchen Abancay spürt Ernesto dann die ewige Feindschaft zwischen Braun und Weiß. Ja, dies ist ein krankes System, doch eines Tages, so fantasiert der Autor, wird es zumindest in Abancay davongespült – von einem wilden Fluß oder von einem Strom aus Menschen, einer unüberschaubaren Menge pestkranker Indios aus den Haciendas der Region.

Bereits 1965 erschien der Roman auf Deutsch, übersetzt von Suzanne Heintz, er erlebte in Deutschland West und Ost mehrere Ausgaben. Der Wagenbach Verlag bringt das Buch nun ein weiteres Mal, in derselben Übersetzung. Warum? Weil es seit bald 20 Jahren vergriffen ist. Und weil das Werk zu den Klassikern Lateinamerikas gehört, ein kanonischer Text.

Mario Vargas Llosa hat dem Kollegen einmal einen einfühlsamen Essay gewidmet. Der Anthropologe Arguedas, so schreibt er darin überraschend, spiegelte in seinen Texten keineswegs die andine Realität: "Sein Werk stellt eine radikale Negation der Welt dar, die ihm das Vorbild liefert: eine schöne Lüge." Und wenn schon: José Maria Arguedas habe der Welt etwas geschenkt, "das nicht existierte, bevor er es erfand". Was ließe sich Schöneres sagen über die schöne Literatur.

Besprochen von Uwe Stolzmann

José María Arguedas: Die tiefen Flüsse
Aus dem Spanischen von Suzanne Heintz
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011
288 Seiten, 12,90 Euro
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