Stille Sehnsucht, heimliche Trauer

Von Martina Seeber · 23.10.2012
Es ist vor allem die Widersprüchlichkeit der ersten Takte, die jeden Interpreten dieses späten, ersten Quartetts von Johannes Brahms vor grundlegende Fragen stellt. Ist es eine heroisch sich aufbäumende Violinmelodie, die von der Begleitung in die Höhe gestemmt wird, oder hebt hier – grundiert von rasendem Herzklopfen – der innig zögerliche Gesang eines Menschen an, der schon weiß, dass sein Behauptungsversuch gleich scheitern wird?
Brahms' Streichquartett in c-Moll lässt offenbar die unterschiedlichsten Interpretationen zu, wie auch sein gesamtes Schaffen nicht nur zu Lebzeiten immer neue, ebenso widersprüchliche wie ideologisierende Deutungen erfuhr. Die Konservativen feierten ihn als Beethovens würdigen Nachfolger und gaben sich alle Mühe, ihn möglichst weit entfernt vom Wagnerschen Fortschrittslager zu positionieren. Erst viel später gelang es dann Arnold Schönberg, ein anderes Licht auf Johannes Brahms zu werfen, der sich selbst nie an der verbalen Kriegsführung beteiligt hatte.

Vor allem in der Musik der ersten beiden Streichquartette opus 51 entdeckte Schönberg einen beispiellos fortschrittlichen Geist. Brahms habe versucht, eine "musikalische Prosa" zu schreiben, er überwinde das erstarrte Denken in Themen und Perioden. Tatsächlich weckt das ausschweifende Allegro weit mehr den Eindruck einer sehnsüchtigen Suche, als dass noch die Form des Sonatensatzes im Vordergrund stünde. Dieser erste, melancholische Satz erinnert in seinen unerwarteten Wendungen und Unregelmäßigkeiten an eine atemlose Erzählung, obgleich das Sonatenschema noch vorhanden ist.

Auch im zweiten Satz widersetzt sich Brahms den Regelmäßigkeiten. Indem er die Taktschwerpunkte verschleiert, verleiht er der Romanze eine Schwerelosigkeit, der metrische Gesetze scheinbar nichts mehr bedeuten.

Eine der erstaunlichsten Wendungen nimmt dieses Quartett in c-Moll aber im Trio des dritten Satzes. Wie aus einer anderen Welt klingt hier ein Tanz herüber, der eine konkrete, ausgesprochen intensive Erinnerung zu beschwören scheint. Wenn das Hauptthema des ersten Satzes dann im finalen Allegro wiederkehrt, wird einmal mehr deutlich, wie viel Brahms die inhaltliche, zyklische Geschlossenheit seines Quartett-Erstlings bedeutete, der durch eine vielschichtige, teils widersprüchliche Gefühlswelt führt, eine Mischung aus Sehnsucht, Freiheit und leiser Traurigkeit.

Den ungezügelten Ausbrüchen Beethovens und den extremen Leidenschaften Wagners stand Johannes Brahms ohnehin sehr distanziert gegenüber, er hielt sie sogar für pathologisch. "Ruhig in der Freude und ruhig im Schmerz und Kummer ist der schöne, wahrhafte Mensch", so schrieb er einmal tröstend an die verzweifelte Freundin Clara Schumann. "Leidenschaften müssen bald vergehen, oder man muss sie vertreiben."

Dass dieser Wunsch nach einer ruhigen Haltung die Emotionen weder leugnet noch erstarren lässt, hat auch Friedrich Nietzsche bewundert: "Brahms ist rührend, solange er heimlich schwärmt oder über sich trauert", getreu dem Motto, das er von seinem Freund Joseph Joachim übernahm - "frei aber einsam".