Stiftung Wissenschaft und Politik fordert von Türkei mehr Orientierung am Westen

Moderation: Birgit Kolkmann |
Die Türkei muss sich aus Sicht der Stiftung Wissenschaft und Politik wieder stärker an der Europäische Union ausrichten. Die EU sollte das Land nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Regierungspartei AKP "klar mahnen", weniger eine "konservativ-religiöse Agenda" zu verfolgen, sagte der Türkei-Experte der Stiftung, Heinz Kramer.
Birgit Kolkmann: Um ein Haar wäre der Regierungschef in die Wüste geschickt worden. Die Entscheidung der türkischen Verfassungsrichter im AKP-Verbotsprozess war mit großer Spannung erwartet worden, und sie kam dann gestern am späten Nachmittag. Die Regierungspartei AKP wird nicht verboten und ihr Führungspersonal darf sich weiter politisch betätigen. Das Verbotsverfahren gegen die Partei von Re-gierungschef Erdogan, der Machtkampf zwischen islamischen und kemalistischen Kräften in der Türkei war von der EU gerade im Hinblick auf eine künftige Mitglied-schaft der Türkei in der Union äußerst kritisch beurteilt worden. Heinz Kramer ist Tür-keiexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen. Schönen guten Morgen.

Heinz Kramer: Guten Morgen.

Kolkmann: Herr Kramer, ist die Türkei nun auf dem Weg in die nach-kemalistische Republik?

Kramer: Das kann man sicherlich so sagen. Es ist jedenfalls in den letzten Jahren erkennbar geworden, dass die kemalistische Ideologie einen großen Teil der türkischen Bevölkerung nicht mehr erreicht oder überhaupt nicht erreicht hat und dass die Kräfte, die dieser strikten kemalistischen Ideologie skeptisch gegenüberstehen, politisch zunehmend an Einfluss gewinnen. Gleichzeitig modernisiert sich die ganze Gesellschaft. Die Türkei hat einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung genommen, das heißt, die Staatswirtschaft ist zurückgedrängt worden, eine freie Marktwirtschaft setzt sich immer stärker durch. Das heißt, Zeichen des Kemalismus, wie er in klassischer Form über die letzten 60, 70 Jahre der Republik bekannt gewesen ist, verschwinden immer stärker aus dem Leben der Türkei.

Kolkmann: Ist also dieser Machtkampf eine große Chance für die Türkei?

Kramer: Es ist sicherlich eine große Chance für die Türkei wenn es gelingt, dass die Türkei aus diesem Machtkampf als westlich-liberale Demokratie hervorgeht und nicht sozusagen eine eher autoritär-orientierte Staatsform, nämlich die kemalistische, durch eine sehr traditionell-konservative, religiös-geprägte Form des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, nämlich eine eher streng islamisch-orientierte AKP-Kernideologie, ersetzt wird. Das muss nicht so sein. In der AKP gibt es genug Kräfte, die für eine Liberalisierung der Türkei eintreten, das hat auch gerade die Regierung Erdogan in den letzten Jahren mit ihrer Reformpolitik gezeigt, sodass man durchaus sagen könnte: Wenn das in die richtige Richtung weitergeht - und das ist eine sehr wichtige Voraussetzung -, dann ist das für die Türkei sehr vorteilhaft.

Kolkmann: Die richtige Richtung wird definiert im Westen, bei der Europäischen Union auch. Was glauben Sie, wie sollte sie jetzt reagieren?

Kramer: Die Europäische Union sollte sich zunächst einmal, und das hat ja gestern Abend auch das Kommissionsmitglied Rehn schon getan, befriedigt darüber zeigen, dass die AKP nicht verboten ist, dass ihr weiterhin die Chance eingeräumt wird, ihren Reformkurs wieder verstärkt aufzugreifen und fortzusetzen. Und hier, glaube ich, ist es sinnvoll, wenn seitens der EU auch eine klare Mahnung an die AKP erfolgt, ihre politische Agenda und die Politik der nächsten Jahre wieder sehr stark auf die EU und die Notwendigkeiten des EU-Beitritts zu orientieren und weniger eine konservati-ve, religiöse Agenda zu verfolgen, wie es ansatzweise in den letzten Monaten der Fall gewesen ist.

Kolkmann: Glauben Sie, dass Erdogan diese Botschaft des Diskussionsprozesses rund um den Verbotsprozess verstanden hat?

Kramer: Er hat zumindest in einem Interview in der letzten Woche Töne anklingen lassen, die das andeuten. Es ist sehr schwer zu sagen, welche Schlüsse Erdogan aus diesem ganzen Vorgang zieht. Er wäre klug beraten, wenn er das Urteil nicht als Freispruch für eine Islamisierung, sondern als einen ernsten Warnschuss vor den Bug versteht und in der Tat zu einer Politik stärker wieder zurückkehrt, wie er sie zwischen 2002 und 2005 betrieben hat.

Kolkmann: Die Türkei also als ein Staat, der eine Brückenfunktion hat zwischen dem Westen und dem Osten?

Kramer: Das auch, aber sehr viel stärker die Türkei wirklich zu einem Staat zu ma-chen, der in einer absehbaren Zeit ein ganz normales EU-Mitglied werden kann inso-fern, als dass politische Strukturen, politische Wertegrundlagen des Landes dem Mainstream der EU entsprechen. Ob das dann auch noch dazu führt, dass es eine Brückenfunktion gibt, ist unter dem Gesichtspunkt des EU-Beitrittes eher sekundär. Für die EU-Mitgliedschaft ist entscheidend, dass die Staaten sich soweit wie möglich EU-kompatibel zeigen.

Kolkmann: Vielen Dank, Heinz Kramer, er ist Türkeiexperte bei der Stiftung Wis-senschaft und Politik in Berlin. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kramer!

Kramer: Bitte schön.