Sterne statt Kreuze

07.05.2009
Mythen und Symbole spielen in einer Gesellschaft eine wichtige Rolle, denn aus ihnen speist sich der Zusammenhalt eines Gemeinwesens. Darum geht es auch in Herfried Münklers Buch "Die Deutschen und ihre Mythen". Sein Fazit: "Wer heute keinen in Literatur und Geschichte verankerten politischen Mythos hat, wird auch keinen mehr bekommen."
"Wir sind Papst" oder "Du bist Deutschland" so lauten heute Formeln, die Wir-Gefühl und emotionale Bindung suggerieren, die Begeisterung auslösen oder Orientierung anbieten. Für den Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler stellen sie ein Surrogat mythischer Erzählungen dar.

Bezeichnenderweise nicht von politischen oder intellektuellen Eliten des Landes geschaffen, sondern von Journalisten und Public-Relations-Spezialisten. Mit entsprechenden Folgen, warnt Münkler, der Mythen als "narrative Grundlage" eines politischen Gemeinwesens betrachtet. "Wer heute keinen in Literatur und Geschichte verankerten politischen Mythos hat, wird auch keinen mehr bekommen", lautet das Fazit seiner neuen Studie "Die Deutschen und ihre Mythen". Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, handelt der Autor darin detailreich, gut lesbar und gelehrt, Entstehung und Entwicklung deutscher Mythen ab. Und beklagt ihren Verlust.

Mit Mythen, "Ansammlungen symbolischen Kapitals", lebe es sich besser, vor allem in Zeiten der Krise, mutmaßt der Autor. Die Politik könne auf diese "kognitiven wie emotionalen Ressourcen" nicht verzichten, wenn sie Reformen nachhaltig durchsetzen oder die Bevölkerung ermutigen wolle. Mythos, das wird hier deutlich, ist Gebrauchsgegenstand. Deutschland steht, nach Münkler, mit leeren Händen da, seine Mythen liegen zerbrochen am Boden. Das Methorn ist zerplatzt, ins Proseccoglas lässt sich nur ein perlendes Tröpfchen füllen, berauschen kann man sich daran nicht.

Das gilt auch für die nationalen Großereignisse, an die in diesem Jahr feierlich erinnert wird: Die Schlacht des Cheruskerfürsten Arminius gegen die Römer unter Varus jährt sich ebenso wie Mauerfall und Wiedervereinigung. Münkler analysiert, warum die Varus-Schlacht nicht mehr, die friedliche Revolution noch nicht Mythos ist.

Anders als beispielsweise Frankreich, das stolz auf eine weltbewegende erfolgreiche Revolution zurückblicken und die Erinnerung an sie mühelos aktivieren kann, anders auch als die USA, für deren nationales Selbstverständnis die Werte ihres Unabhängigkeitskrieges bis heute grundlegend sind, stellt sich Deutschland in Münklers Sicht bedauerlicherweise als "mythenfreie Zone" dar.

Dass dem nicht immer so war, führt der Autor auf gut 600 Seiten aus. In fünf umfangreichen Kapiteln stellt er den üppigen Fundus deutscher Nationalmythen vor. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg seien diese allerdings verbraucht gewesen, resümiert Münkler. Preußen wurde abgeschafft, das Volk der Dichter und Denker hatte Kulturgüter in ganz Europa zerstört, das faustische deutsche Wesen sich in Auschwitz an Menschenversuchen delektiert. Der Umgang mit den Trümmern nationaler Mythen verlief nach Gründung zweier deutscher Staaten unterschiedlich. Antifaschismus wurde zum Gründungsmythos der DDR, die Bundesrepublik gab sich als Reaktion auf den von Mythen breit untermalten teutonischen Chauvinismus betont nüchtern. "Der Mercedesstern löste im Westen das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab", so spitzt der Autor zu. Gleichwohl ist sein Buch recht brav. Historisch fundiert, klug - ein bisschen zu vernünftig.

Der Zusammenhang von Mythos und Religion wäre stärker zu durchleuchten gewesen, der von Mythos und Heldentum. Die Frage nach der möglichen Erscheinungsform des Mythos in einer postheroischen, säkularen Konsumgesellschaft hätte - ggf. auch polemisch - vertieft werden dürfen. Als Handbuch für diesjährige Mythenfeiern kann Herfried Münklers Studie nicht taugen. Dafür denkt der Autor zu kritisch. Bei ihm steht die Betrachtung des Vergangenen im Mittelpunkt. Die Gegenwart lässt sich derzeit - trotz historischer Jubiläen - mythisch nicht aufladen.

Rezensiert von Carsten Hueck

Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen
Rowohlt Berlin 2009, 605 Seiten, 24,90 Euro