Stereotypes Afrika-Bild in der Coronakrise

Afrikanische Intellektuelle fordern radikale Veränderungen

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In der kenianischen Hauptstadt Nairobi läuft eine Frau an einem bunten Graffito mit Corona-Verhaltensregeln auf einer Hauswand vorbei.
Vom Westen übergestülpt: Die Corona-Regeln der WHO würden die Realität und Erfahrungen Afrikas nicht miteinbeziehen, bemängeln afrikanische Wissenschaftler. © Dennis Sigwe - www.imago-images.de
Von Leonie March · 28.04.2020
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Afrikanische Intellektuelle kritisieren, dass Afrika von westlichen Experten in der Coronakrise als hilfloser Kontinent dargestellt werde. Dies verfestige ungleiche Strukturen. Vielmehr müsse die Krise Chance für einen radikalen globalen Wandel sein.
Ausgangssperren, wohin man schaut: Auch überall auf dem afrikanischen Kontinent sind Bürger gezwungen, zuhause zu bleiben - so wie es international empfohlen wird. Es ist ein Modell für alle, ob es passt oder nicht. Im Norden erdacht, dem Süden übergestülpt, kritisiert Amy Niang, Dozentin für internationale Beziehungen an der Johannesburger Witwatersrand-Universität:

Kein Raum für afrikanische Krisenlösungen

"Afrikanischen Staaten wurde keine Möglichkeit eingeräumt, einen eigenen Weg im Umgang mit der Pandemie zu entwickeln. Stattdessen gibt die WHO Anweisungen und damit indirekt die Länder des Nordens. Obwohl diese Maßnahmen in unserer gesellschaftlichen Realität ans Absurde grenzen: Die Mehrheit der Bevölkerung muss raus, um Geld zu verdienen. Viele sind es auch gewohnt, in Krisenzeiten zu arbeiten. Auch mit Epidemien haben sie Erfahrung. Wenn es Raum für andere Ideen gegeben hätte, hätte man vielleicht eine andere Lösung gefunden. Aber die globale Marschrichtung ist vorgegeben und alle müssen sich daran halten. Das ist aus meiner Sicht ein Problem."
Und symptomatisch für das globale Kräfteverhältnis. Die Zeit sei reif für einen radikalen Wandel, lautet die zentrale Botschaft ihres offenen Briefes. Amy Niang hat ihn gemeinsam mit dem senegalesischen Ökonomen Ndongo Sambal Sylla und Lionel Zevounou verfasst, der in Paris Jura lehrt. Über einhundert afrikanische Intellektuelle vom Kontinent und aus der Diaspora haben diesen Appell mittlerweile unterschrieben. Darunter auch die Chemie-Professorin Karine Ndjoko Ioset, deren Leben sich zwischen der Schweiz, der Universität in Würzburg und der Demokratischen Republik Kongo abspielt, wo sie ein Stipendienprogramm leitet.
"Die politische Führung in Afrika ist komplett von dem abgekoppelt, was an der Basis geschieht, von der Bevölkerung und ihren Prioritäten. Wenn sie krank werden, fliegen sie zur Behandlung ins Ausland, dort studieren auch ihre Kinder. Aber jetzt stecken sie selbst fest, jedes Land ist auf seine eigene Infrastruktur angewiesen und die Probleme sind unübersehbar. Nicht nur was die Infrastruktur, sondern auch die Bildung angeht. Es gibt Expertise und Erfahrungswerte auf dem Kontinent, aber sie werden nicht gebündelt. Darüber sollten wir nachdenken und zwar auf panafrikanischer Ebene."

Panafrikanischer Austausch zur Stärkung des Kontinents

Diese Forderung wird auch im zweiten Brief afrikanischer Intellektueller laut, den auch die in Europa bekannten Vordenker in der Dekolonisierungs-Debatte Achille Mbembe und Felwine Sarr unterzeichnet haben. Afrika müsse sich auf seine eigenen Stärken besinnen, Netzwerke bilden, Wissen austauschen, die vorhandenen Ressourcen und Kreativität nutzen. Es sei an Afrika, sich selbst neu zu erfinden. Erste Ansätze dafür sieht Karine Ndjoko Ioset bereits.
"Afrika braucht Führungspersönlichkeiten, die sich nicht nur für den Reichtum an Bodenschätzen interessieren, sondern die Empathie für ihre Bevölkerung haben und deren Würde ihnen am Herzen liegt. Bislang haben die Kongolesen nach einem starken Mann gesucht, der das Land führt. Nun aber beginnt sie Personen wie den Virologen Jean-Jaques Muyembe zu schätzen, der schon im Kampf gegen Ebola unverzichtbar war. Ein kompetenter, mitfühlender Mann, der die Alltagssorgen der Bürger ernst nimmt. Insofern ändert sich die Sicht ein wenig, vor allem in der jungen Generation."
Doch ein Mentalitätswechsel allein und auch das überall sichtbare Engagement der Zivilgesellschaft werde nicht ausreichen, entgegnet Amy Niang, solange der Kontinent als reiner Rohstofflieferant ohne Mitspracherecht behandelt werde:

Weg vom Rohstofflieferanten ohne Mitspracherecht

"Die globalen Regierungsstrukturen sind von Natur aus zutiefst ungerecht und zerstörerisch für afrikanische Ökonomien. Afrika exportiert Rohstoffe zu Preisen, die es selbst nicht kontrolliert. Die meisten afrikanischen Staaten geben einen Großteil ihrer Budgets zur Schuldentilgung aus. Auf Kosten eigener Infrastruktur. Maschinen und Fachleute kommen oft aus dem Ausland und müssen mit Devisen bezahlt werden. Es muss also eine Reform auf globaler Ebene geben. Denn selbst dem durchsetzungsfähigsten afrikanischen Präsidenten wird es nicht gelingen, die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank zu ändern. Ich spreche also von einer tektonischen Veränderung."
Eine neue Weltordnung, über die auch Intellektuelle auf anderen Kontinenten momentan debattieren. Ein entscheidendes Kapitel in der Dekolonisierung. Doch Amy Niang bleibt skeptisch: "Ich bin mir nicht sicher ob diese Pandemie tatsächlich einen solchen Wandel anregen kann. Es ist leider wahrscheinlicher, dass wir da weitermachen, wo wir im November aufgehört haben. Wir werden eher Zeugen einer geopolitischen Veränderung zwischen den USA und China, aber keiner, die dazu führt, dass der globale Reichtum so umverteilt wird, dass die Mehrheit der Menschen ein einfaches Leben in Würde führen können."
Die Unterzeichner des zweiten Briefs formulieren es wesentlich optimistischer. Darin heißt es: Afrika könne stärker und geeinter aus dieser Krise hervorgehen.
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