Sterben in Port Bou

Mord
Mord © Stock.XCHNG / Nate Nolting
Von Gregor Ziolkowski · 07.10.2005
Am 26. September 1940 starb der deutsch-jüdische Kulturphilosoph Walter Benjamin. Freitod sagen die einen, natürlicher Tod, notiert der Arzt auf dem Totenschein. Oder war es vielleicht Mord? Der argentinische Regisseur David Mauas versucht sich in seinem Dokumentarfilm "Wer tötete Walter Benjamin" der Frage zu nähern.
"Wer hat Walter Benjamin getötet?" ist der fragende Titel des Films von Regisseur David Mauas. Dies vorab – die entscheidende Frage, die der Film aufwirft, wird am Ende keineswegs beantwortet. Mehr noch: man kann sogar sagen, dass sie offener denn je im Raume steht. Für die einen wird es auch nach diesem Film keinen beweislastigen Grund geben, die Selbstmordvariante, auf die sich alle Welt geeinigt hat, in Zweifel zu ziehen.

Andere werden feststellen, dass es für andere Erklärungsmodelle immerhin einen breiten – wenn auch spekulativen – Freiraum gibt. Für den Argentinier David Mauas, der in Jerusalem Fotografie und Video-Kunst studiert hat und der seit acht Jahren in Barcelona lebt, war es zunächst nur die räumliche Nähe zum Grenzort Portbou, die ihn an diesem Stoff faszinierte.

"Was mich dann als erstes interessiert hat, war das Potential dieser Geschichte für einen kriminalistischen Film über Benjamin. Er selbst war ein begeisterter Leser von Kriminalliteratur, das wird oft vergessen. Und Benjamin war Erzähler, Reisender, Beobachter. Und ich sagte mir, sollte ich nicht nach Portbou gehen und in diesem Sinn einen Film machen? Nicht mit den Augen Benjamins – das hätte ich anmaßend gefunden –, sondern mit meinen Augen. Aber sehr wohl mit den Gedanken bei den Texten Benjamins, die ich gelesen habe. "

Drei Jahre dauerten die Arbeiten an diesem Film. Mauas recherchierte und filmte in Spanien, Deutschland, England und Frankreich. Der Benjamin-Forschung sind alle Ungereimtheiten dieses Selbstmords durchaus bekannt, und doch wirkt sie ein wenig genügsam in ihrem Forscherdrang, um diese Unklarheiten aufzuklären. Ist es etwa denkbar, dass Benjamin eine Überdosis Morphium nahm und ganze neun Stunden später dies seiner Begleiterin erklärte, bevor er bewusstlos wurde? Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann

"Ich erinnere mich, dass ich damals genauso misstrauisch war. Und ich habe einen Arzt gefragt, ob das möglich wäre. Und er hat mir gesagt: Möglich durchaus. Das ist aber eine sehr schwierige Frage, die könne er als Mediziner nicht beantworten, das könnten allenfalls die Medizinhistoriker beantworten. "

Der Film setzt die Antwort eines spanischen Forensikers dagegen, der ausschließt, dass zwischen Einnahme der Überdosis und einsetzender Bewusstlosigkeit soviel Zeit vergehen könne. Solche und viele andere Fragen wie etwa die Glaubwürdigkeit mancher Zeugen wie im Fall der Lisa Fittko sind der Forschung bekannt, aber hier hatte die Sache auch meist ihr Bewenden. Wie weit etwa war die Gestapo in den Fall Benjamin involviert? Der Historiker Patrick von zur Mühlen gibt eine grundsätzliche Antwort.

"Wir wissen, dass es einen hohen Beamten – mindestens einen hohen Beamten – der Gestapo in Portbou gab und dass der die Aufgabe hatte, die einreisenden Emigranten zu beobachten, zu registrieren, ob er bekannte Personen erkennen würde, und diese Information weiterzuleiten. "

Mauas' Film fügt den gesammelten Forscherkommentaren nun ein wichtiges Element hinzu: eine tiefgehende Recherche vor Ort, in Portbou, und er befragt die älteren Bewohner des Ortes nach ihren Erinnerungen. Stimmt es, dass die Frau des Besitzers der Pension, in der Benjamin die letzten Stunden seines Lebens verbrachte, mit der Gestapo, die nachweislich Leute in dem Grenzstädtchen hatte, zusammenarbeitete?

Das sagte man, bestätigt dieser Zeuge, es hieß, sie sei eine Zuträgerin, eine Kollaborateurin. Es ist möglich.

Sicher ist, dass Juan Suñer, der Besitzer der Pension, nach dem 2. Weltkrieg nach Venezuela flüchtete, weil Frankreich seine Auslieferung für einen Kriegsverbrecherprozess forderte. Konnte der Arzt, der Benjamins Totenschein ausfertigte, überhaupt am Ort sein? Nach den Zeugenberichten eigentlich nicht, denn Benjamins Tod fiel auf einen Donnerstag, und jeden Donnerstag fuhr der Arzt zu Verwandten nach Figueras.

Wie konnte es passieren, dass der Jude Benjamin, obendrein ein Selbstmörder, vom Pfarrer – einem bekannten Kommunistenhasser – auf dem katholischen Friedhof beigesetzt wurde? Warum steht auf dem Totenschein ein anderes Sterbedatum als im Kirchenregister? Warum hat der Amtsrichter in solcher Eile den Toten zur Bestattung freigegeben, ohne die sonst üblichen Formalitäten wie die Suche nach Verwandten wenigstens in Gang zu setzen? Auf Druck von oben – wie er einem der Zeugen später gestanden haben soll?

Diese filmische Recherche kreist um die Frage, ob man wusste, wer dieser Flüchtling war und ob hinter seinem Tod nicht das Zusammenspiel von Gestapo und Franco-Behörden gestanden haben könnte. Eine wirkliche Antwort wird es wohl nie geben, allein deshalb, weil alle direkt Beteiligten tot sind.

Und doch ist dieser Film ein Ereignis: Nicht nur, weil er die beständige Frage transportiert, was sich hätte herausfinden lassen, wenn man früher eine solche Recherche betrieben hätte. Darüber hinaus beleuchtet er, wie der rätselhafte Tod eines deutschen Denkers einen kleinen Ort in den katalanischen Pyrenäen zum Kreuzungspunkt europäischer Geschichte machte.