Sterben für die Statistik

Von Walther Stützle |
Das atlantische Bündnis ist krank. Schwer krank. Statt sich der langen Liste wahrlich dorniger Probleme mit Verstand und Vernunft anzunehmen, haben verwirrte Geister die Zahl der in Afghanistan zu Tode gekommenen Soldaten zum Maßstab für die Qualität eines Allianzbeitrages erhoben.
Sterbe-Tabellen wurden in die Öffentlichkeit lanciert, mit den USA an der Spitze und Deutschland, im Verständnis der Tabellen-Verbreiter, mit 26 toten Soldaten "abgeschlagen" "nur" auf Platz vier – hinter England und Kanada. Zeitgleich und keineswegs zufällig sucht der amerikanische Verteidigungsminister die Bundesrepublik mittels öffentlich ausgeübter Pression in die Kämpfe im Süden Afghanistans hineinzuziehen – womit ein Vorrücken der Bundesrepublik in der Opfer-Tabelle garantiert einherginge. Augenfälliger und peinlicher könnte sich die seit langem schwelende schwere Bewusstseinskrise im atlantischen Bündnis kaum offenbaren. An den Allianz-Tischen, an denen doch eigentlich um die besten Konzepte für Wege aus dem afghanischen Schlamassel gerungen werden sollte, kontrollieren Zyniker den Luftraum.

Die Intervention in Afghanistan ist und bleibt ein schwerwiegender Fehler der Allianz, an dem Deutschland maßgeblich beteiligt war und ist. Mithin sind Leistungsvergleiche zwischen Mitgliedstaaten nicht gänzlich abwegig. Doch auf das liederliche Niveau eines Wettbewerbs um die höhere Toten-Zahl muss die Bundesrepublik sich nicht herabwürdigen lassen. Das verbietet nicht nur der normale menschliche Anstand. Das verbietet auch der Respekt vor der Würde jedes einzelnen Opfers. Und das verbietet ganz gewiss auch die Rücksicht auf die Hinterbliebenen, deren Schmerz über den Verlust eines einzelnen Angehörigen gewiss nicht durch den zynischen Hinweis gelindert wird, England oder Kanada oder die USA hätten noch mehr Opfer zu beklagen.

Gewiss: Wo Leistung bewertet werden soll, bedarf es der messbaren Größen. In einem Bündnis können das nicht, wie im Sport, Punkte oder Hundertmeter-Zeiten sein – eher schon der Wert eines Beitrags, gemessen an der wirtschaftlichen und politischen Kraft eines Landes. Deutschland muss derartige Vergleiche nicht scheuen, weder mit seinen politischen und finanziellen Beiträgen noch seinen militärischen, sei es in der Allianz oder in der Europäischen Union, sei es in den Vereinten Nationen oder bei der Entwicklungshilfe. Und natürlich bleiben die Integrationspolitik von Konrad Adenauer, die Ostpolitik Willy Brandts, die Sicherheitspolitik von Helmut Schmidt, die Europa-Politik von Helmut Kohl und das Nein Gerhard Schröders zum Irak-Krieg herausragende Beiträge Deutschlands zu einer handlungsfähigen, vor allem aber erfolgreichen westlichen Allianz. All diesen Beiträgen ist gemeinsam, was heute bei dem Thema Afghanistan so schmerzlich vermisst wird: ein Dach nämlich aus Konzept und Führung, unter dem die Einzelschritte Richtung und Inhalt erfahren. Um Missverständnisse zu vermeiden: An der Bündnis-Vergangenheit der Bundesrepublik ist nichts zu glorifizieren – aber sie folgte klarer Führung und Richtung und erlangte so und zu recht bündnisweit Respekt und Gefolgschaft.

Im siebten Kriegsjahr in Afghanistan scheinen diese einstmals wirksamen Kräfte verloren zu sein. Bündnispartner halten einander die Zahl der getöteten Soldaten vor, statt sich den entscheidenden Fragen zuzuwenden. Zum Beispiel jener nach dem Ziel der Intervention sowie der nach dem politischen Konzept, das die wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Probleme Afghanistans thematisiert, statt sich auf das militärische Instrumentarium zu verlassen, dessen Versagen politisch programmiert ist. Und wann eigentlich wird eine schonungslose Bilanz eröffnet über Soll und Haben der Afghanistan-Politik seit dem Jahre 2001. Der Verweis auf die Tabelle toter Soldaten ist nichts anderes als der abstoßende Versuch, von den politischen Mängeln der unsinnigen Afghanistan-Intervention abzulenken. Berlin sollte darauf mit überzeugenden Ideen für eine erneuerte Allianz antworten - eine Allianz, in der nicht eine Sterbestatistik zum Leistungsmesser erhoben wird, sondern das bessere Konzept. Nur so und nicht anders ist dem schwerkranken Bündnis wieder auf die Beine zu helfen – ist die Allianz aus den Fängen der Zyniker wieder zu befreien.

Walther Stützle Jahrgang 1941, war von 1998 bis 2002 Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, sowie Honorarprofessor an der Universität Potsdam.