Sterbehilfe

Ars moriendi - Recht auf einen gelingenden Tod

Von Christian Schüle · 14.05.2014
Im Herbst soll ein neues Gesetz zur Sterbehilfe verabschiedet werden. Es soll das Verbot der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung regeln. In Zeiten radikaler Individualisierung sei es an der Zeit, Sterben und Tod neu zu verhandeln, meint der Philosoph und Publizist Christian Schüle.
Weltanschauliche Ideologien sind verebbt, religiöse Dogmen erodieren, allgemeinverbindliche Regeln im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer gibt es nicht mehr. Der Zeitgenosse will keine Bevormundungen mehr, er will Trost, Hilfe und den Respekt vor seiner Würde im Diesseits, weil ihn ein Jenseits nicht mehr überzeugt.
Seit gut einem Jahrzehnt erleben wir einen Wandel von paternalistischer Moral zu subjektiver Ethik – einer Ethik ohne Gott, deren Schlüsselbegriff "Selbstbestimmung" lautet. Der spätmoderne Mensch hat gelernt, jeglicher Fremdbestimmung durch Götter, Mythen und Metaphysiken zu misstrauen; er lässt sich sein Sterben von Kirchen, Ärzten, Politikern und Moralisten aller Art nicht mehr aus der Hand nehmen.
Der Mensch der Gegenwart hat nicht nur das Recht auf ein gutes Leben, er hat auch das Recht auf einen guten Tod. Dieses Recht ist kein verbrieftes, gesetzlich einklagbares, es ist ein konventionelles, sittenkonformes Recht, das den Geist der Zeit repräsentiert.
Der Mensch hat das Recht, von Ärzten sterben gelassen zu werden, wenn er im Falle einer irreversiblen Krankheit sterben will. Er hat das Recht auf einen Geborgenheitsraum im Hospiz, er hat das Recht auf Sterbebegleitung – ja, auf Sterbehilfe.
Menschenwürde ist Sterbenswürde
Warum hat jeder dieses Recht und warum muss es jedem zugestanden werden? Weil das Recht auf einen gelingenden Tod besagt, dass Menschenwürde zugleich Sterbenswürde ist. Menschenwürde ist das Recht auf Würde, auch, eines selbstbestimmten Sterbens. Über den Tod zu reden heißt, sich über das Leben zu verständigen.
Eine Ars moriendi der Zukunft, der Kulturwandel zur Kunst des gelingenden Sterbens, könnte und müsste auf zwei Pfeilern basieren: Zum ersten müsste eine hervorragend ausgebaute Schmerzlinderungskultur für jene sichergestellt sein, die sich das Leben im Falle ihres irreversiblen Sterbens nicht nehmen wollen, um, etwa als Krebspatient im Endstadium, ohne Angst vor Schmerzen in den natürlichen Tod gehen zu können.
Palliativmedizinische Behandlung müsste in der Republik flächendeckend möglich und in jedem Provinzkrankenhaus verfügbar sein. Dass Schätzungen zufolge in manchen Bundesländern nur ein einziges Palliativbett auf eine Million Einwohner gerechnet wird, kommt einem Skandal ebenso nahe wie die Tatsache, dass die deutschen Krankenkassen für ambulante Palliativversorgung im Schnitt nicht einmal ein Prozent ihrer jährlichen Ausgaben erübrigen.
Eine humane, weitsichtige und kluge Gesundheitspolitik müsste 'Palliative Care' fördern und Schmerzlinderungsmedizin wie Hospizwesen höchste Priorität einräumen – schlichtweg deshalb, weil das Sterben alle gleichermaßen betrifft und nichts so sicher ist wie der Tod aller Menschen jenseits von Klasse, Geschlecht und Milieu.
Suizid unter Aufsicht stellen
Zum zweiten müsste jeder Bürger das nicht nur moralische Recht, sondern auch die strafrechtlich nicht sanktionierbare Freiheit haben, mittels eines assistierten Suizids zu einem bei klarem Verstand und freiwillig von ihm gewählten Zeitpunkt zu sterben. Sollen kommerzielle Absichten einer entstehenden Sterbehilfe-Industrie ausgeschlossen werden, müsste man den assistierten Suizid unter Aufsicht staatlicher Organe stellen.
Dass solcherart rahmenbedingt geregelte Euthanasie gerade in Deutschland ein schwer zu vermittelnder Gedanke ist, liegt auf der Hand. Falsch ist er deswegen nicht. Sterbensschmerzen muss kein Mensch als gottgewollt hinnehmen.
Gläubige Mitbürger mögen sich in ihr religiös determiniertes Schicksal ergeben, was aller Ehren wert ist. In Zeiten grassierender Entkirchlichung und Entchristlichung hingegen müssen alle anderen zu lernen beginnen, sich selbst gegenüber verantwortlich zu sterben.
Verantwortlich sterben heißt, rechtzeitig und für die Nächsten oder den Sterbehelfer erkennbar jenen Weg zu skizzieren, dokumentieren und hinterlegen, auf dem man einmal sterben möchte, um in Ruhe leben zu können, weil man schließlich – sollte das Sterben dereinst allzu plötzlich eintreten – auf das Unvermeidliche vorbereitet ist. Die Anrufung christlicher Barmherzigkeit ist schön, administrative Struktursicherheit besser.
Christian Schüle, 43, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper) und gerade eben den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag).
Philosoph und Publizist Christian Schüle
Christian Schüle, Philosoph und Publizist© privat
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