Psychologe zum Umgang mit Krieg

Nach "Melanchovid" nun das "Grundrauschen des Krieges"

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Illustration einer Frau vor unterschiedlichen Tablet Bildschirmen auf denen Nachrichten mit Krieg und Zerstörung gezeigt werden.
Manchmal ist das Beste: einfach abschalten. © imago / Ikon Images / Daniel Haskett
Stephan Grünewald im Gespräch mit Andrea Gerk · 24.05.2022
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Erst Corona, dann der Krieg: Auf die momentane Häufung der Krisen reagieren die Menschen sehr unterschiedlich, sagt der Psychologe Stephan Grünewald. Einfaches Verdrängen sei aber keine Lösung, um dem Ohnmachtsgefühl zu entkommen, betont er.
Erst Corona mit seinen Unwägbarkeiten und Umbrüchen und nun der Ukrainekrieg: Angesichts der Häufung von Krisen und der Schwierigkeiten im Umgang damit diagnostizieren Tiefenpsychologen bei den Menschen nun anhaltende Verdrängungsmechanismen und Aggressivität.

Wir sind in einem Übergangsmoment: Die Menschen waren nach zwei Jahren Corona fast in einem melancholischen Zustand, wir haben diesen Zustand 'Melanchovid' genannt: Der Frühling kam und damit auch eine Aufbruchsbewegung. Mitten in diese erste Frühjahrsöffnungsbewegung nun die Kriegsgefahr.“

Psychologe Stephan Grünewald, Rheingold Institut

"Psychologischer Tinnitus"

Bereits die anhaltenden Einschränkungen der Pandemie hätten bei den Menschen zu einer Art Krisenpermanenz geführt, zu einer Gewohnheit, die nun eine neue Eskalation durch den Krieg erfahre, erklärt Grünewald. Er und seine Kollegen sprechen hier von einem "psychologischen Tinnitus".
Diese ständige Kriegspräsenz auszublenden, sei anstrengend für die Menschen und führe bei ihnen zu Aggressivitäten. "Im Untergrund, als dröhnendes Grundrauschen, bleibt dieser Krieg immer hörbar", betont der Psychologe.
Vordergründig wirkten die Menschen vielleicht noch unbeschwert. "Untergründig aber ist man angestrengt und gereizt. Viele beobachten, dass die Lunte im Moment sehr kurz ist, sie merken eine Aggressivität bei sich und bei den Nächsten", sagt Grünewald und beschreibt damit seine Beobachtungen und die seiner Kollegen aus aktuellen Studien über den Umgang mit dem Krieg.

Unterschiedlicher Umgang mit Häufung von Krisen

Auf diese aktuelle Häufung von Krisen reagieren nach Beobachtung der Psychologen die Menschen auch sehr unterschiedlich. Viele würden Nachrichten über die Kriegsfolgen meiden oder sich begnügen mit "kleinen Dosen, etwa der Tagesschau in 100 Sekunden". Viele würde sich in die Arbeit stürzen und so eine Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen umgehen, beobachtet Grünewald.
Im Vorteil sei hier, wem es gelänge, aus dieser Krisenohnmacht, dem Gefühl des Ausgeliefertseins, herauszukommen, also etwa jene, "die gespendet haben, die bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, in der bewegten Masse das Gefühl haben, selber etwas bewegen zu können", beschreibt der Psychologe.

Eine "gute Mischung" hinbekommen

Allerdings gebe es hier nicht nur diesen einen Weg, damit umzugehen. Grünewald zufolge sind jene im Vorteil, die "eine gute Mischung hinbekommen": "Also einerseits den Alltag weiterbetreiben, Sport machen, sich mit Freunden treffen, Gemeinsamkeit zelebrieren, aber andererseits das Kriegsgeschehen nicht komplett ausblenden und sich zumindest dosiert mit dieser ganz wichtigen Realität auseinandersetzen."
Und Grünewald empfiehlt auch die unbedingte Beschäftigung mit dem Krieg: "Die Auseinandersetzung mit Expertenmeinungen und kulturellen Einschätzungen hat etwas Beschwichtigendes: Die elementare Kriegsangst wird dadurch in einen größeren geschichtlichen und philosophischen Kontext gestellt."
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