Steinbrücks Jagdgründe
Der Totalitarismus hat es an sich, dass er, um total zu sein, totalitär vorgehen muss. Das heißt, es darf keine Ausnahmen geben, keine Schlupflöcher, keine Rückzugswinkel, überhaupt keine Vorstellung von Anderheit. Deshalb ist jedes totalitäre System auch ein imperialistisches System; es zielt auf seine Selbstverallgemeinerung; es rüstet auf, um die anderswo herrschende Anderheit abzuschaffen.
Das deutsche Besteuerungssystem ist von dieser Art; einer seiner Kernbegriffe lautet: unbeschränkt steuerpflichtig. Das Unbeschränkte kennzeichnet genau das Verhältnis zwischen Staat und Bürger hierzulande: Vollzugriff in beiden Richtungen. Nicht nur erwartet und erzwingt der Verwaltungs-Leviathan von den Menschen alles, auch umgekehrt sind die Ansprüche der Deutschen an den Staat nahezu grenzenlos.
In einer solchen stets aufs Ganze gehenden Gewaltbeziehung gibt es keinen Spielraum für so etwas wie bürgerliche Freiheit. Die beruht auf einer schwer fassbaren Mischung aus Vertrauen, Lässigkeit und Verantwortungsgefühl. Das heißt, Kontrolle ist nicht immer möglich. Kontrolle muss manchmal unmöglich bleiben.
Diese Vorstellung widerstrebt dem totalitären Programm der deutschen Steuerbehörden natürlich total. Die große Wut des Bundesfinanzministers Steinbrück auf die Schweiz entspringt einem ebenso großen Unverständnis, dass die Schweiz mit ihrem hohen Maß an bürgerlicher Freiheit nicht nur existiert, sondern offenbar auch funktioniert.
Es wäre dort schlichtweg undenkbar, dass jemand, der zwar Millionen, aber nicht genug Millionen Steuern zahlt, morgens um sechs verhaftet und vor laufenden Fernsehkameras aus seinem Haus abgeführt wird. Es wäre auch undenkbar, dass Privat- und Geschäftsleute aufgrund einer ohne jegliche Bürgerbeteiligung zusammengeschusterten Steueroasen-Verordnung willkürlich an die Kandare genommen werden können – nicht weil sie etwas Verbotenes getan haben, sondern weil sie in Ländern tätig sind, die sich dem deutschen Zugriff nicht total unterwerfen. Völlig undenkbar wäre es, dass der Staat mit Kriminellen kooperiert, um an Kontrolldaten zu gelangen.
Es handelt sich tatsächlich um verschiedene Denkungsarten: Die Deutschen halten nicht die kleinste Lücke zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen Soll und Ist-Zustand des öffentlichen Lebens aus. Daher die allgemeine Leidenschaft für jede Art von Kontrolle. Das Recht soll immer total durchgesetzt werden, so wie der Einzelne seine Rechte total ausschöpfen möchte. Die beleidigte Reaktion der Bundesdienstwagenministerin Ulla Schmidt auf die moralische Skandalisierung eines angeblich vorschriftsgemäßen Verhaltens zeigt genau dieses Verständnis beziehungsweise Unverständnis an. Totalität ist lebensfremd – bei Dienstwagenregelungen wie bei der Steuerpflicht.
So wie ein Auto schneller kaputtgeht, wenn es ausschließlich mit Vollgas gefahren wird, so zerrüttet die standardmäßige Anwendung aller verfügbaren Rechts- und Kontrollmittel das Gemeinwesen. Wie groß aber die Marge von nichtausgeschöpften Möglichkeiten zu bleiben habe, lässt sich gerade nicht kodifizieren. Es ist Gefühlssache, Stilfrage, Ergebnis individueller Vermutung – und gerade das ist für die Deutschen unendlich schwer zu akzeptieren. Daher die Forderung der Bundesdienstwagenministerin, alle Vorschriften neu zu fassen, denn – wie sie sich ausdrückte – korrektes Verhalten dürfe nicht zum Vorwurf führen, man handle unmoralisch.
Es hat gewiss keine praktische, aber eine hohe symbolische Bedeutung, dass auf Schweizer Steuererklärungen niemals Beträge nach dem Komma abgefragt werden. So also sieht eine Oase in einer von Finanzamtsgeiern besiedelten Steuerwüste aus. Selbstverständlich blühen diese Oasen weiter auf, wenn sich das Wüstenklima weiter verschlechtert. "Die Wüste wächst. Weh‘ dem, der Wüsten birgt", rief der Emigrant Friedrich Nietzsche von der Schweiz aus den Deutschen zu. Allmählich begreifen wir, was er damit meinte.
Burkhard Müller-Ullrich, freier Publizist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk sowie Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Websitelaufend aktuelle Texte publiziert.
In einer solchen stets aufs Ganze gehenden Gewaltbeziehung gibt es keinen Spielraum für so etwas wie bürgerliche Freiheit. Die beruht auf einer schwer fassbaren Mischung aus Vertrauen, Lässigkeit und Verantwortungsgefühl. Das heißt, Kontrolle ist nicht immer möglich. Kontrolle muss manchmal unmöglich bleiben.
Diese Vorstellung widerstrebt dem totalitären Programm der deutschen Steuerbehörden natürlich total. Die große Wut des Bundesfinanzministers Steinbrück auf die Schweiz entspringt einem ebenso großen Unverständnis, dass die Schweiz mit ihrem hohen Maß an bürgerlicher Freiheit nicht nur existiert, sondern offenbar auch funktioniert.
Es wäre dort schlichtweg undenkbar, dass jemand, der zwar Millionen, aber nicht genug Millionen Steuern zahlt, morgens um sechs verhaftet und vor laufenden Fernsehkameras aus seinem Haus abgeführt wird. Es wäre auch undenkbar, dass Privat- und Geschäftsleute aufgrund einer ohne jegliche Bürgerbeteiligung zusammengeschusterten Steueroasen-Verordnung willkürlich an die Kandare genommen werden können – nicht weil sie etwas Verbotenes getan haben, sondern weil sie in Ländern tätig sind, die sich dem deutschen Zugriff nicht total unterwerfen. Völlig undenkbar wäre es, dass der Staat mit Kriminellen kooperiert, um an Kontrolldaten zu gelangen.
Es handelt sich tatsächlich um verschiedene Denkungsarten: Die Deutschen halten nicht die kleinste Lücke zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen Soll und Ist-Zustand des öffentlichen Lebens aus. Daher die allgemeine Leidenschaft für jede Art von Kontrolle. Das Recht soll immer total durchgesetzt werden, so wie der Einzelne seine Rechte total ausschöpfen möchte. Die beleidigte Reaktion der Bundesdienstwagenministerin Ulla Schmidt auf die moralische Skandalisierung eines angeblich vorschriftsgemäßen Verhaltens zeigt genau dieses Verständnis beziehungsweise Unverständnis an. Totalität ist lebensfremd – bei Dienstwagenregelungen wie bei der Steuerpflicht.
So wie ein Auto schneller kaputtgeht, wenn es ausschließlich mit Vollgas gefahren wird, so zerrüttet die standardmäßige Anwendung aller verfügbaren Rechts- und Kontrollmittel das Gemeinwesen. Wie groß aber die Marge von nichtausgeschöpften Möglichkeiten zu bleiben habe, lässt sich gerade nicht kodifizieren. Es ist Gefühlssache, Stilfrage, Ergebnis individueller Vermutung – und gerade das ist für die Deutschen unendlich schwer zu akzeptieren. Daher die Forderung der Bundesdienstwagenministerin, alle Vorschriften neu zu fassen, denn – wie sie sich ausdrückte – korrektes Verhalten dürfe nicht zum Vorwurf führen, man handle unmoralisch.
Es hat gewiss keine praktische, aber eine hohe symbolische Bedeutung, dass auf Schweizer Steuererklärungen niemals Beträge nach dem Komma abgefragt werden. So also sieht eine Oase in einer von Finanzamtsgeiern besiedelten Steuerwüste aus. Selbstverständlich blühen diese Oasen weiter auf, wenn sich das Wüstenklima weiter verschlechtert. "Die Wüste wächst. Weh‘ dem, der Wüsten birgt", rief der Emigrant Friedrich Nietzsche von der Schweiz aus den Deutschen zu. Allmählich begreifen wir, was er damit meinte.
Burkhard Müller-Ullrich, freier Publizist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk sowie Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Websitelaufend aktuelle Texte publiziert.

Burkhard Müller-Ullrich© privat