Steinabbau in Indien

Die Witwen von Budhpura

Frauen in indischer Kleidung mit erhobenen Händen demonstrieren für ihre Rechte.
Die Witwen von Budhpura singen ihren Protest im Chor. © Ashish Sharma
Von Julia Wadhawan |
Sie machen ihr Leben lang nichts anderes als Steineklopfen: die Menschen im nordindischen Bundesstaat Rajasthan. Viele sterben an Silikose, weil sie dabei Steinstaub einatmen – die meisten sind Männer. Für die Witwen bedeutet das: ein Leben in Armut. Es sei denn, sie schließen sich zusammen.
Vor dem Tempelgebäude in Budhpura hat sich eine bunte Traube gebildet. Rund 80 Frauen reden aufgeregt durcheinander. Sie tragen Saris in vielen Farben, die Stoffe haben sie wie einen Sonnenschutz über den Kopf gezogen. Es sind fast 40 Grad, Mittagshitze in dem kleinen Dorf im Süden des indischen Bundesstaats Rajasthan.
Normalerweise würden die Frauen sich jetzt in die Schatten ihrer Steinhütten zurückziehen, bis die Sonne ihre Kraft verliert. Heute aber haben sie eine Mission.
Sie alle sind Witwen, ihre Männer fielen der Steinindustrie zum Opfer. Deshalb nennt man Orte wie diese auch Witwendörfer.

"Mein Mann starb vor zwei Jahren an Silikose"

Die Frauen wollen heute in die nächstgrößere Stadt Bundi. Sie zwängen sich in vier Kleinbusse, die Fahrt dauert eineinhalb Stunden. Die Ministerpräsidentin des Bundeslandes soll an diesem Tag zu Besuch sein. Die Witwen wollen sie abfangen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Ein Schicksal wie das von Heera Bai.
"Ich heiße Heera Bai, mein Ehemann hieß Hari Singh. Er starb vor zwei Jahren an Silikose. Sechs Monate, bevor er starb, klagte er ständig über Atemnot. Das haben hier viele, deswegen nahmen wir es nicht so ernst. Aber er betonte immer wieder: Nein, es fühlt sich an, als könnte ich gar nicht mehr einatmen."
Heera Bais Mann arbeitete in den Steinminen der Umgebung. Das kostete ihn – und viele andere – das Leben. Er hatte Silikose: eine tödliche Lungenkrankheit, die durch das Einatmen von feinsten Staubteilchen im Bergbau entsteht. Die Krankheit wurde bei ihr bislang nicht gefunden, obwohl sie selbst ähnliche Arbeit verrichtet. Heera Bai meißelt Pflastersteine. Zum Leben reicht das nicht.
"Früher gehörten die Steine uns. Wir sammelten die Trümmer und fertigten Pflastersteine daraus. Für jeden Stein haben wir zweieinhalb oder drei Rupien bekommen. Jetzt bringen Minenbesitzer die Steine und zahlen nur 1,10 oder 1,20 pro Stein."

"Unsere Kinder werden das gleiche Schicksal erleiden"

Eine Entwicklung, der sich die Frauen ausgeliefert fühlen – weil sie keine anderen Verdienstmöglichkeiten haben.
"Unsere Kinder arbeiten auch in den Minen und werden das gleiche Schicksal erleiden. Sie haben keine Zukunft. Es bleibt nichts, ich habe mein halbes Leben in den Minen verloren."
Eine Inderin mit Tuch bedeckt schaut ernst in die Kamera
Heera Bais Mann arbeitete in den Steinminen der Umgebung. Das kostete ihn das Leben. Er hatte Silikose.© Ashish Sharma
In Bundi kühlt Regen den heißen Asphalt. Menschen suchen Schutz unter den Planen der Teestände und Vorsprüngen der Häuser. Heera und die anderen trotzen dem Nass. Sie laufen eine schmale Straße entlang auf das Gebäude der Stadtverwaltung zu, sie rufen: "Gebt uns unsere Rechte!". Sie wollen Geld – Entschädigung für ihre verstorbenen Männer. Den Spruch haben sie auch auf ein großes Banner drucken lassen, den Heera zusammen mit einer anderen Frau hochhält. Darunter steht: "Die Witwen von Budhpura."
Zurück im Dorf Budhpura. Die 55-Jährige Radha Bai, eine der 80 Witwen, die tags zuvor demonstriert hatten, hockt nun auf einem Boden aus grobem Kies. Der türkisfarbene Sari hebt sich grell vom Grau der Steine ab. Mit Hammer und Meißel schlägt sie eine große Steinplatte in Form. Ihre Hände arbeiten schnell, jeder Schlag sitzt präzise.
"Ich arbeite seit 35 Jahren in Steinminen. Erst habe ich Steine transportiert. Seit 20 Jahren stelle ich Pflastersteine her, weil ich die Arbeit hier im Sitzen machen kann."
Budhpura liegt mitten im Zentrum der indischen Pflastersteinindustrie. Der Großteil der Produktion wird ins Ausland exportiert, auch nach Europa – und Deutschland. Unter dem Namen Kandla Grey wird der Sandstein beispielsweise in Terrassenböden oder Gartenanlagen verbaut.
Radha Bai wohnt mit ihren drei Töchtern und drei Enkelkindern in einer einfachen Steinhütte auf einem kleinen Hügel. Zwei Zimmer, ein Bett.

Die Region ist abhängig vom Geschäft mit Steinen

Jeden Tag läuft sie zehn Minuten in ein kleines Tal hinter dem Dorf. Kleine Sonnenschirme markieren die Arbeitsplätze der Frauen. Hier und da sprießt ein Baum aus dem trockenen Kiesbett. Unter einem davon zerbricht Radha das Gestein.
"Um das Dorf herum sind überall Minen. Du kannst die LKW sehen, sie sind mit Steinen beladen, sie alle kommen von dort. Sie entladen die Steine hier, damit wir sie meißeln und formen. Alle Minen in der Umgebung fördern Stein."
Die gesamte Region ist abhängig von dem Geschäft mit Steinen. Indien produziert ein Viertel des weltweiten Natursteinaufkommens – nur aus China kommt mehr. Für die Menschen ist das gut, einerseits: Der Boom im indischen Bausektor und das Exportgeschäft schaffen Millionen von Jobs. Andererseits bringt diese Arbeit viele um. Denn der Staub, der durch das Spalten des Gesteins entsteht, ist auf Dauer tödlich.
"Ich habe Silikose, ich bin sehr krank."
Nahaufnahme einer indischen Frau.
Die 55-Jährige Witwe Radha Bai arbeitet seit 35 Jahren in Steinminen und finanziert heute damit ihre drei Töchter und drei Enkelkinder © Ashish Sharma
Vereinfacht wird Silikose auch Staublunge genannt. Sie entsteht durch das Einatmen von Silika-Teilchen, winzigen Staubpartikel, die in den meisten Natursteinen enthalten sind. Sandstein hat besonders viel davon. Zerbricht er, werden sie freigesetzt. In Deutschland gilt sie daher seit 1929 als Berufskrankheit. Auch in Indien ist sie meldepflichtig. Das Bewusstsein darüber wächst jedoch nur langsam.
"Wir wussten nicht, was es war. Dann kam Ramesh und hat uns zum Arzt gebracht. Er hat uns gesagt, dass wir Silikose haben. Dort haben wir zum ersten Mal davon gehört."
Sagt Radha Bai. Das war vor vier Jahren. Ramesh, Mitarbeiter einer lokalen NGO, kam ins Dorf und brachte die Menschen ins nächstgelegene Unikrankenhaus.
Es gibt ein Gesetz, das Silikose-Patienten und Hinterbliebenen finanzielle Entschädigung zuspricht. Doch dafür müssen Betroffene die Arbeit mit dem Stein nachweisen. Arbeitsverträge aber haben hier die wenigsten.
Der Bundestaat Rajasthan richtete daher 2013 einen unabhängigen Fonds ein, aus dem Betroffene entschädigt werden. Silikose-Patienten bekommen einmalig 100.000 Rupien – umgerechnet rund 1.300 Euro. Hinterbliebenen stehen rund 4.000 Euro zu.

"Was bringt mir das Geld, wenn ich tot bin?"

Weil Radha selbst an Silikose leidet, bekam sie eine einmalige Zahlung. Als Witwe erhält sie außerdem eine kleine Rente. Doch wenn sie nur davon leben müsste, würde sie verhungern, bevor die Krankheit sie umbringt. Pro Quadratmeter Pflasterstein verdient Radha rund 1,30 Euro. In Deutschland kostet so ein Stück Kandla Grey mindestens 30 Euro. Wie so häufig in der globalen Handelskette, sind es die Ärmsten am unteren Ende der Produktionskette, die am wenigsten davon haben.
Radha fordert daher mehr Unterstützung. Sie will das Geld, das ihren Angehörigen zustünde, wenn sie stirbt, schon vorher.
"Was bringt mir das Geld, wenn ich tot bin? Ich lebe jetzt! Wenn ich das Geld jetzt bekomme, kann ich wenigstens jetzt besser leben. Immerhin bin ich diejenige, die krank ist."
Dr. Vinod Jangid ist Lungenexperte und arbeitet seit drei Jahren in der Universitätsklinik in Kota, einer kleinen Stadt rund 50 Kilometer von Budhpura entfernt.
"Es gibt bisher keine Heilung für Silikose, weil die kleinen Teilchen in der Lunge festsitzen. Sie kommen nicht heraus. Wir können nur die Entzündung behandeln und sekundäre Infektionen geben."
Eine Frau in einer Steinmine hockt und bearbeitet einen Stein.
Mit Hammer und Meißel schlagen die Frauen hier große Steinplatten in Form. Budhpura liegt mitten im Zentrum der indischen Pflastersteinindustrie. © Ashish Sharma
Jede Woche diagonistiziert und behandelt er bis zu acht Silikose-Fälle. Seit Rajasthan vor vier Jahren seinen Hilfsfonds eingerichtet hat, wurden mehr als 8.400 Fälle entschädigt. In einer Studie des medizinischen Forschungsrats der indischen Regierung fanden Ärzte bei jedem zweiten Minenarbeiter Silikose. NGOs schätzen die Zahl betroffener Minenarbeiter daher allein in Rajasthan auf mindestens 800.000.
Urmila ist die jüngste Silikose-Patientin in Budhpura. Die 19-Jährige wohnt ein paar Straßen von Radha Bai entfernt zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder.

"Ich habe nie die richtige Medizin bekommen"

"Ich werde schon seit sieben Jahren behandelt. Das erste Mal von der Krankheit erfahren habe ich aber erst, als ich ins Uniklinikum kam. Vorher habe ich Medizin für viele verschiedene Krankheiten bekommen, weil die Ärzte nicht wussten, was ich habe. Manchmal sagten sie dies, manchmal das. Ich habe nie die richtige Medizin für meine Krankheit bekommen, das ist das Problem. So sterben die Leute. Und dann habe ich erfahren, dass ich Silikose habe."
Schon als kleines Mädchen begleitete Urmila ihre Mutter nach der Schule ins Tal, wo die Frauen Steine meißeln. Mit 13 fing sie selbst damit an. Eigentlich ist das illegal. Die Realität aber hält sich nicht immer an Gesetze.
"Meine Mutter war alleine und konnte es sich nicht leisten, uns zu ernähren und zur Schule zu schicken. Also musste ich die Schule verlassen. Es gibt nur eine private Schule in der Nähe, aber die Gebühren sind sehr hoch. Wie sollen sich das arme Menschen leisten."
Urmila geht jetzt jeden Tag in die Räume einer lokalen NGO. Gemeinsam mit 15 anderen Mädchen lässt sie sich hier zur Näherin ausbilden. Doch wenn sie am Nachmittag nachhause geht, müssen viele der anderen wieder zum Hammer greifen.
"Es sollte mehr Arbeit für Mädchen und Frauen geben, sodass sie keine Steine meißeln müssen. Ich bin krank, aber ich wünsche mir, dass niemand anderes krank wird."
Man kann Silikose vorbeugen, vor allem mit Wasser. Es dämmt den Staub ein. In Rajasthans Minen ist es deswegen verboten, trocken zu bohren. Die meisten aber halten sich nicht daran. Auch spezielle Masken helfen enorm. Aber die sind teuer, in der Hitze kaum zu ertragen und nicht mal Minenbesitzer geben die richtigen Modelle an ihre Arbeiter weiter.

"Diese Arbeit muss gestoppt werden"

Rana Sengupta leitet die von Miseror finanzierte, gemeinnützige Organisation "Mine Labour Protection Campaign Trust". Für ihn liegt die einzige Lösung in der stärkeren Kontrolle des Sektors.
"Wir wissen nicht, wer für die Arbeiter zuständig ist, die Pflastersteine herstellen, weil diese Arbeitsplätze weder als Mine noch als Fabrik gelten. Aber auch hier entsteht Silikose. Diese Arbeit muss gestoppt werden. Sie darf entweder in Minen oder in einer Fabrik stattfinden. Ansonsten ist es illegal."
Ohne offizielle Verträge könnten Arbeiter auch keine Rechte einfordern, keine Schutzmaßnahmen wie spezielle Masken – oder Entschädigung. Ob diese dann eingehalten werden, ist zwar ebenso fraglich. Aber ohne ein Mindestmaß an Transparenz bleiben Arbeiter machtlos. Auch Käufer sollten sich dessen bewusst sein, appelliert Sengupta:
"Der deutsche Käufer muss den Zulieferer am Ende der Handelskette dazu verpflichten, die Identität seiner Arbeiter festzuhalten – egal, ob in einer Mine oder Fabrik."
Bis sich etwas ändert, bleibt den Betroffenen nichts, außer den Staat um Hilfe zu bitten.

Die Witwen sind nicht das erste Mal hier

Die Witwen von Budhpura wissen das. Den ganzen Tag harren sie daher vor der Stadtverwaltung aus, singen ihren Protest im Chor. Sie haben auch eine Petition dabei, mit der sie Sozialhilfe für Minenarbeiter und ihre Angehörigen fordern. Formuliert hat sie die NGO von Rana Sengupta. Als Unterschrift drücken die Frauen ihre Daumen in Tinte auf das Papier. Es ist nicht das erste Mal, dass sie hier sind, erzählt Heera Bai.
"Ich war schon oft hier – bestimmt 15 oder 20 Mal. Alle vier bis sechs Wochen komme ich her, seit zwei Jahren. Aber niemand hat meine Klagen bisher erhört."
Es ist beinahe Abend, als Heera und Radha gemeinsam mit den anderen Richtung Hotel laufen, in dem die Ministerpräsidentin heute tagt. Sie haben noch immer nichts gegessen, einige setzen sich geschwächt auf den Boden. Die anderen singen weiter im Chor ihre Forderungen.
Sie denken sich neue Schlachtrufe aus, ein paar strecken dabei die Fäuste in die Luft, lachen. Einen Augenblick wirken sie, als hätten sie Spaß. Es dämmert bereits, als endlich eine Verwaltungsbeamtin zu ihnen tritt. Sie verspricht: In der nächsten Woche werden zumindest die Entschädigungszahlungen durchgehen. Heera Bai erfasst zum ersten Mal Zuversicht.
"Ich habe jetzt Hoffnung. Bis jetzt war sie mein einziger Antrieb, dass es passieren wird. Vielleicht ist es schon in einer Woche soweit."

Mitarbeit: Petra Sorge und Sunaina Kumar
Die Recherche wurde vom European Journalism Centre unterstützt und von der Bill & Melinda Gates Foundation mitfinanziert.

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