Steigende Pflegekosten in Ostdeutschland

Bewohner tragen Ausgaben für gerechte Löhne ganz allein

08:15 Minuten
Eine Frau schiebt eine ältere Frau in einem Rollstuhl über einen Gehweg
Eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte müsse mit der Reform der Pflegeversicherung einhergehen, fordert auch die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern. © picture alliance/Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB
Von Silke Hasselmann · 18.05.2020
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In ostdeutschen Pflegeheimen ist eine auffällige Kostensteigerung zu beobachten. Das liegt vor allem an einer Gesetzesänderung, die es erlaubt, Gehälter für Pflegekräfte in Tarifnähe zu zahlen. Finanziell stemmen müssen das die Heimbewohner.
10 Uhr vormittags im Haus 3 des stationären Pflegebereiches vom "Wohnpark Zippendorf". Alle 119 derzeit hier lebenden Bewohner haben ihre Morgentoilette und das Frühstück samt Medikamenteneinnahme hinter sich. Nun sitzt, wer möchte, im Gemeinschaftsraum und wird beschäftigt.
Geschäftsführer Sven Kastell weist auf die unterschiedlichen Kittelfarben der Mitarbeiter hin. Gelb bedeute: Pflege. Grün: Betreuungsmitarbeiter. Türkis: Hauswirtschaftsmitarbeiter.

"Das haben wir mal eingeführt für die Bewohner, weil die die Namensschilder nicht so ohne weiteres lesen können und an der Farbe sofort erkennen: `Ist das jemand, mit dem ich gerne sprechen möchte, damit er mir etwas vorliest?' Oder: `Gelb bringt mich zur Toilette, Türkisfarben macht mein Zimmer sauber.' Das ist eine ganz gute Unterstützung."

Knapp 250 Mitarbeiter seien im Wohnpark Zippendorf beschäftigt, ergänzt Sven Kastell auf dem Weg in sein Büro. Er hat die weitläufige Anlage am Schweriner See mit den beiden gelben Hochhäusern für Betreutes Wohnen und den drei flacheren Gebäuden für die stationäre Pflege im Jahr 2012 übernommen. Ein Platz hier ist sehr gefragt, wenn auch der teuerste in der Schweriner Umgebung.

Investitionskosten tragen die Pflegeheimbewohner

"Also der Eigenanteil, der am Schluss übrig bleibt, beträgt aktuell 1913,00 Euro. Als ich hier anfing, kamen wir von ungefähr 1200 bis 1300 Euro."

Sven Kastell hat alle Kosten zusammengerechnet, die für einen Pflegeheimbewohner des Schweriner "Wohnparks Zippendorf" anfallen. Das wären zum einen die Kosten für die Unterkunft, für die Verpflegung und für Investitionen. Letztere fallen an, wenn ein Pflegeheim an- oder umbauen möchte oder wenn der Staat höhere Anforderungen an Brandschutz und Sicherheit stellt, so wie in MV voriges Jahr per Gesetz geschehen.

"Und diese Investitionen, die schlagen sich dann an den Investitionskosten nieder, so dass wir einen Investitionskostensatz von über 20 Euro pro Tag haben."

"Und diese Investitionskosten - daran wären Heimbewohner eben beteiligt?"

"Die Kosten werden komplett von den Bewohnern getragen. Das Einzige, was die Pflegekasse übernimmt, ist tatsächlich das Pflegeentgelt bis zu einem gedeckelten Betrag."
Womit wir bei der Hauptquelle der auffälligen Kostensteigerung in ostdeutschen Pflegeheimen wären: der Posten "Eigenanteil" bei den Pflegeleistungen. Das ist der Betrag, der über den festgelegten Kassenzuschuss hinaus privat bezahlt werden muss und der in den alten Bundesländern schon längere Zeit vergleichsweise hoch ausfällt, weil die Pflegekräfte dort deutlich mehr verdienten als im Osten, sagt Sven Kastell.

"Dass die Pflegeheimkosten jetzt so massiv gestiegen sind im Osten, das liegt ja daran, dass wir jetzt mittlerweile wirklich massiv durch eine Gesetzesänderung in der Lage sind, überhaupt erst Gehälter in Richtung Tarifnähe zu zahlen. Die wurden uns vorher bei den Pflegesatzverhandlungen überhaupt nicht genehmigt. Aber wir gleichen uns ja quasi Richtung Westdeutschland an. In Westdeutschland sind diese massiven Erhöhungen momentan nicht notwendig, weil da eben die Einrichtungen schon sehr, sehr teuer sind."

Initiative fordert Deckelung des Eigenanteils

Zu Gast im Schweriner Schloss, wo der Landtag wieder zu tagen begonnen hat. Sozialministerin Stefanie Drese verteidigt in ihrer Rede die Corona-bedingten Besuchsverbote in den Alten- und Pflegeheimen des Landes und fordert eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte. Sie richtet ihren Appell an die Politik in Bund und Ländern.
Denn: "Die zu fordern, ohne die Pflegeversicherung zu reformieren, würde nur auf den Schultern der Pflegebedürftigen ausgetragen werden, weil wir wissen: Jede qualitative Verbesserung in der Pflege, auch bei den Löhnen oder beim Personalschlüssel oder Ähnlichem, tragen im Moment über den Eigenanteil die Betroffenen in der Pflege selbst. Und deswegen müssen wir am Anfang darüber entscheiden: Kann die Pflegeversicherung, die es seit 1995 gibt, so bleiben? Ich sage: `Nein.`"

Stefanie Drese unterstützt die Forderung der Initiative "Pro Pflegereform", die auch die "Wohnpark Zippendorf GmbH" unterzeichnet hat: Demnach sollten Sockel und Spitze getauscht werden, sprich: Nicht der Anteil der Pflegekasse an den direkten pflegerelevanten Kosten wird als feststehender Sockel gedeckelt, sondern der Eigenanteil der Heimbewohner. Um die Pflegekasse nun für die zusätzlichen Kosten auszustatten, müsste entweder der Staat Steuerzuschüsse an die Pflegeversicherung gewähren. Oder alle Versicherten der Pflegekasse treten dafür ein, nicht nur die jeweils betroffenen Heimbewohner. Die Folge: Beitragserhöhung.

"Es gibt eine wirklich sehr solide Berechnung eines Professors Rothgang aus Bremen, der sagt: `Wenn wir um ein Prozent den Mitgliedsbeitrag erhöhen würden, dann könnten wir das System umkehren, dass also die Pflegekasse alles, was an Erhöhung durch Lohn oder Ähnliches auftritt, tragen kann. Und ich habe als Pflegebedürftiger selbst einen festen Betrag, auf den ich mich einrichten kann. Das ist das, was ich bezahlen muss.'"

Koalitionsvertrag auf Bundesebene steht im Weg

Derzeit zahlen Angestellte, Rentner und sonstige freiwillig Pflegeversicherte 3,05 Prozent ihres Bruttogehaltes bzw. ihrer Rente in die gesetzliche Pflegekasse ein, Kinderlose 3,3 Prozent.
Und, das weiß auch Stefanie Drese (SPD): "Das eine große Problem ist schon, dass es auf Bundesebene einen Koalitionsvertrag gibt, der besagt: In dieser Legislatur kann es keine Erhöhung dieser Sozialbeiträge geben. Nicht Rente, nicht Pflegekasse, nicht Gesundheitskasse - gar nichts."

Eine von Mecklenburg-Vorpommern initiierte Bund-Länder-Gruppe will immerhin das Gespräch über die Reform in Gang setzen und hofft – wie die Heimbetreiber -, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn seinen für das Frühjahr angekündigten Entwurf bald vorlegt.

Zurück im Pflegeheim Haus 3 des Schweriner Wohnparks Zippendorf, das seinen Pflegefachkräften mit 2900 Euro brutto als Einstiegsgrundgehalt bereits deutlich mehr zahlt als die Mindestlohnkommission empfiehlt und damit zum Beispiel den Gehältern im benachbarten Schleswig-Holstein nicht nachsteht. Anderenfalls, so Sven Kastell, sei diese Region im Kampf um Pflegekräfte auch nicht konkurrenzfähig. Doch erhöhte Pflegesätze führen letztlich auch zu einem erhöhten Eigenanteil der Bewohner:

"Selbstverständlich haben wir auch nach jeder Pflegesatzerhöhung einige Kündigungen, dass jemand in eine Pflegeeinrichtung geht, die etwas günstiger ist."

Aber: "Wenn man das wirklich transparent erklärt und erklärt, wie das System funktioniert, dann kann man mit den Leuten auch sehr gut reden."

Wichtig dafür auch: Der Heimbeirat als Bewohnervertretung.

"Der Heimbeirat wird ja auch bei Entgeld-Erhöhungen vorher angehört. Da wird dann alles, auch die Kalkulation, offen gelegt."

Der aktuelle Heimbeiratsvorsitzende heißt Willi Bünger, ist 83 Jahre alt und lebt seit 2015 in dem Schweriner Pflegeheim am Zippendorfer Strand. Dass die Pflegekräfte gut bezahlt gehören, verstünden die meisten Bewohner. Aber dass sie allein die Gehaltserhöhung tragen müssen, schon nicht mehr unbedingt.

"Naja, manche verstehen das nicht, ne. Es ist nicht - wie soll man das sagen - jedem recht zu machen. "

"Und wie ist das bei Ihnen selbst? "

"Jo, ich bin damit einverstanden."
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