Staunen

Zwischen Schreck und Wow-Effekt

08:16 Minuten
Aufnahme der Augenpartie eines Kindes mit weit aufgerissenen Augen, die grosses Erstaunenausdrücken.
Kinder können staunen, Erwachsene auch: Wissenschaftlerin Nicola Gess sagt, es gebe eine lange Tradition in der Kulturgeschichte, das Staunen nicht als angeborenen Affekt, sondern als erlernbare Praktik zu sehen. © Getty Images / EyeEm / Christian Lechtenfeld
Nicola Gess im Gespräch mit Nicole Dittmer |
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Bei dem einen sind es Berge und Schluchten, bei anderen die See und der Strand. Die Natur lässt Menschen immer wieder staunen, aber nicht nur sie. Historisch ist das Gefühl nicht nur positiv konnotiert.
Staunen ist nicht gleich Staunen – jedenfalls wird das Phänomen im Lauf der Geschichte immer wieder anderes gesehen und auch beurteilt. „Das weicht teilweise sehr stark von dem ab, was man heute landläufig unter dem Staunen als Wow-Effekt versteht“, sagt Nicola Gess von der Universität Basel.
Kognitiv sei das Gefühl des Staunens auch mit Irritationen, mit Zweifeln und auch mit einem Gefühl der Unsicherheit verbunden und nicht nur positiv konnotiert, betont sie „Es ist nicht nur ein Wohlgefühl, sondern das kann ja durchaus auch mit dem Schrecken oder mit der Erfahrung von Ohnmacht und dem eigenen Kleinsein verbunden werden.“

Erkenntnis auf sinnlichem Weg

Die Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft hat ausgiebig über das Phänomen geforscht. In einem Forschungsprojekt hat sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen damit beschäftigt, welche Rollen das Staunen für die Ästhetik und Poetik vom Mittelalter bis heute spielt.
Edmund Burke etwa habe im 18. Jahrhundert das Staunen ambivalent betrachtet: „Einerseits beschreibt er das Gefühl als Schock, als Schreck und durchaus auch als unangenehm: negativ im Sinne von ganz lauter Knall oder die Begegnung mit einem bedrohlichen, riesigen Tier“, veranschaulicht Gess.
Gleichzeitig sehe der Philosoph aber auch einen medizinischen, positiven Effekt: „Denn er denkt darüber nach, inwiefern dieser starke Affekt uns aus einer potenziell tödlichen Langeweile herausreißen kann.“
Burke meint, so Gess, man brauche ein Training für die Nerven: "Nicht nur die Muskeln müssen regelmäßig trainiert werden, sondern auch die Nerven." In diesem Sinne halte er den starken und teilweise auch negativ erfahrenen Affekt für sehr wertvoll.

Staunen als Affekt

Die Erkenntnistheorie im 18. Jahrhundert steht dem Staunen erst reserviert gegenüber. "Weil man denkt, Staunen – das tun doch nur die, die keine Ahnung haben, die Naiven oder die Dummen", schildert Gess die Ausgangslage. Gleichzeitig komme aber die Aufwertung dieses Affekts in der Ästhetik in Gang. Dann werde darüber nachgedacht, „inwiefern wir Erkenntnis nicht nur rational, sondern auch auf sinnlichem Wege erwerben können."

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Häufig werde das Staunen dabei wie ein angeborener Affekt behandelt, wie ein spontaner, unmittelbarer Ausdruck, wie ihn zum Beispiel Kinder kennen, sagt Gess. „Aber es gibt auch eine lange Tradition in der Kulturgeschichte, die über das Staunen im Sinne einer kontemplativen oder meditativen Praktik nachdenkt, die sich auch erlernen, kultivieren und einüben lässt.“
Es gebe in diesem Sinn eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was heute als Achtsamkeit beschrieben werde.

"Oh my God"

Der Hang zum Staunen mache wohl auch manipulierbar. "Das zeigen ja die gezielt eingesetzten Knalleffekte, weil mit denen ja Aufmerksamkeit erzeugt wird oder Bewunderung getriggert werden kann", erläutert Gess. In der Werbung oder den sozialen Medien dreht sich viel um diesen Effekt: "Jeder will 'Oh My God' unter seinem eigenen Post stehen haben – um eben Aufmerksamkeit zu erzielen und vielleicht Bewunderung auch zu erzeugen."
(mfu)
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