Stau im Paradies
Wer nach Rügen fährt, sucht unberührte Natur - und findet immer öfter verstopfte Straßen. Ferienanlagen und Wellness-Ressorts, eine neue Rügenbrücke und noch mehr Verkehr - die Wachstumsgläubigkeit könnte Deutschlands größte Insel langfristig in die Sackgasse führen. Trotzdem scheint es nur wenige zu stören, dass immer mehr Touristen auch immer weniger Natur bedeutet. Dabei gibt es Alternativen - doch die Zeit wird knapp.
Rügen, Mitte September. Deutschlands größte Insel gibt sich entspannt. Um zu sehen, dass die Hochsaison vorbei ist, könnte man jetzt hinunter zum Strand laufen. Man kann sich aber auch an die Bundesstraße nach Sellin stellen, die Augen schließen und einfach dem Verkehr lauschen. Dann weiß man Bescheid.
Es klingt schon wie Nachsaison. Die Schulferien sind zu Ende, die meisten Familien abgereist, jetzt kommen die Nachzügler. Vor vier Wochen hat sich das noch ganz anders angehört.
"Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet." Dieses Diktum hat Hans-Magnus Enzensberger schon vor knapp 30 Jahren formuliert. Aber gilt es auch für Rügen? Schließlich herrscht bei schönem Wetter am Strand vom Ostseebad Sellin selbst in der Hochsaison die pure Urlaubsidylle.
Im gleichmäßigen Rhythmus schwappen die Wellen an den Strand. Träge haben sich die Menschen in die Sonne gestreckt, andere spielen Ball oder blicken aufs Meer. Die Kinder kreischen mit den Möwen um die Wette. Rügen ist eine der sonnenreichsten Regionen in ganz Deutschland.
Aber manchmal gibt es auch hier, im äußersten Nordosten der Republik, schlechtes Wetter. Hastig suchen die Badegäste dann ihre Sachen zusammen und flüchten ins Trockene. Und plötzlich ist er wieder da, der hässliche Sound der Insel. Rolf Rümper kennt das Problem. Als Chef des Personennahverkehrs auf der Insel weiß er, was schlechtes Wetter für die Straßen auf Rügen bedeutet.
"Dann holen alle ihr Auto heraus und meinen, sich irgendwelche Ziele angucken zu müssen, was nicht Strand ist. Und dann zeigt eben die Erfahrung: Dann ist alles dicht, dann läuft nichts mehr."
Rund sechs Millionen Übernachtungen verzeichnete Rügen im vergangenen Jahr. Eigentlich kein Problem für eine fast 1000 Quadratkilometer große Insel, deren Küste mehr als 500 Kilometer lang ist. Doch eine ausgewogene räumliche und zeitliche Verteilung der Besucherströme interessiert den Rügentouristen naturgemäß wenig: Die meisten Gäste kommen im Juli und August, und fast alle wollen zum Urlaub in die bekannten Ostseebäder im Südosten der Insel - nach Binz und Sellin, Göhren und Baabe. Auf den Straßen wird der Besuchersegen dann plötzlich zum Fluch.
Um die Verkehrssituation zu entschärfen, wurde schon im vergangenen Herbst die zweite Strelasundquerung eingeweiht - eine riesige Brücke, die mit ihrem 128 Meter hohen Träger die historische Stadtsilhouette weit überragt. Doch gleich dahinter staut sich der Verkehr schon wieder. Eine neue Bundesstraße soll deshalb Entlastung schaffen. Ein sinnloses Unterfanges, findet Marlies Preller.
"Man will jetzt neben die zweispurige B96 noch drei Spuren dazubauen, das sind insgesamt fünf in die Kreisstadt Bergen ohne jeglichen Gewinn - ein bisschen Zeit, und dann stehen Sie in Bergen im Stau, oder in den Umgehungsstraßen oder sonstwas. Also, es wird dann so weitergehen: Der Druck wird erhöht werden, neue Straßen zu bauen, und das kann es nicht sein."
Die Geschäftsführerin des Naturschutzbund-Kreisverbandes von Rügen - kurz NABU - wirbt deshalb für einen behutsamen Ausbau der vorhandenen Trasse: Lieber die alte Bundesstraße verbreitern, als wertvolle Fläche für den kompletten Neubau zu verschwenden.
Im Landesamt für Straßenbau und Verkehr in Rostock ist Peter Bender zuständig für die Verkehrsplanung auf der Insel. Die Idee des behutsamen Straßenausbaus hält er für unrealistisch.
"Weil der Plan, den die Gegner immer wieder vorstellen, einfach nicht in der Lage ist, den Straßenverkehr leistungsfähiger zu machen. Wir haben eine ganz besondere Problematik im Zusammenhang mit der Eisenbahn. Das heißt, wir haben die parallel laufende Eisenbahn, wir haben die Knotenpunkte, die Abzweige, die über die Gleise gehen. Wir haben also eine Beeinflussung des Straßenverkehrs durch den Eisenbahnverkehr, und diese Probleme sind einfach auch durch einen Ausbau der vorhandenen Strecke nicht zu entschärfen."
Auf der neuen Straße werde es diese Probleme nicht geben, meint Bender. Sie soll als sogenannte Kraftfahrtstraße gewidmet werden, auf der eine Mindestgeschwindigkeit von 60 km/h gilt. Kreuzungen werden durch autobahnähnliche Auf- und Abfahrten vermieden. Langsame Fahrzeuge würden dann auf die alte Bundesstraße ausweichen. Nur so könne der Verkehr zügig fließen - und sichergestellt werden, dass auch die Fernlaster für den Fährhafen Neu Mukran, die heute noch häufig im Stau stecken, pünktlich ihr Ziel erreichen.
Eine Frage aber bleibt trotzdem: Lässt sich das Stauproblem auf Rügen mit neuen Straßen lösen? Das neue Integrierte Verkehrskonzept Rügen, in Auftrag gegeben vom Verkehrsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, gibt darauf eine klare Antwort:
"Die Komplettierung der B96 wird zwar die heute, im Wesentlichen während der Reisesaison auftretenden Engpasssituationen mildern, kann diese aber nicht vollständig aufheben."
Nahverkehrschef Rolf Rümper hat die Entwicklung des Konzeptes genau verfolgt. Vom Ergebnis ist er enttäuscht, denn von innovativen Ideen wie Zugangsbeschränkungen zu touristischen Inselregionen für den Individualverkehr sei am Ende wenig übrig geblieben.
"Man wollte in frühen Phasen dieses Gutachtens erreichen, dass die PKW-Nutzer dann nur zu bestimmten Zeiten ihr Ziel erreichen konnten. Das führte dann aber natürlich dazu, dass es dann also Leute gab, insbesondere Hoteliers, der ganze Tourismus, die dann sagten: Also, wenn das so ist, dann kommt hier keiner mehr her, und dann bricht die ganze Insel zusammen. Und das Ergebnis aus dem Gutachten ist letztendlich das, dass diese auch guten Ideen dann doch deutlich verwässert wurden."
Peter Bender vom Landesamt für Straßenbau und Verkehr hat eine andere Erinnerung.
"Es gab die Überlegung, dass man so etwas vergleichbar der Luftfahrt tatsächlich mit diesen Timeslots macht. Aber ein richtiges tiefes Stadium, dass es in das Konzept Eingang gefunden hätte und dann gestrichen worden wäre, gab es nicht, weil eigentlich frühzeitig erkannt wurde, dass das ein System mit wenig Akzeptanz ist. Und dann kommen wir wieder in die Geschichte mit den Wettbewerbsverzerrungen. Es gibt eigentlich kaum Vorteile, weil es sehr schwierig zu handhaben ist. Es ist sehr kostenintensiv, und der Nutzen ist schwer absehbar."
Zu kompliziert und zu teuer für eine Nutzungsdauer von nur zwei bis drei Monaten in der Hauptsaison: Zugangsbeschränkungen zur Insel wird es also vorerst nicht geben - auch deshalb, weil die freie Fahrt mit dem eigenen PKW noch immer als heilig gilt, selbst wenn sie im Stau endet.
Statt Zwangsmaßnahmen soll es deshalb Anreize geben, damit die Urlauber verstärkt auf den Bus umsteigen. Im neuen Verkehrsentwicklungskonzept wird nun die Einrichtung eines für Touristen kostenfreien und solidarfinanzierten Nahverkehrs auf Rügen gefordert.
Losgehen soll es mit einem Shuttlebus auf dem Inselteil Mönchgut im Südosten Rügens. Die Idee, die der Selliner Bürgermeister Reinhard Liedtke mit seinen Amtskollegen aus den Nachbargemeinden umsetzen will, ist nicht neu. Doch zu mehr als einer Willensbekundung hat es bisher nie gereicht - schließlich muss das Konzept auch finanziert werden. Nahverkehrs-Chef Rolf Rümper hat das Modell in Gedanken schon mal durchgerechnet.
"Wenn ich also sechs, sieben Millionen Übernachtungen habe, und wenn ich jetzt einfach mal sagen würde - aber das bitte nur mal so als Gedankenspiel - wenn ich jetzt von jedem Urlauber einen Euro pro Nacht erwarten würde und dieses dann dem Nahverkehr zubringen würde, dann wären es immerhin schon sechs, sieben Millionen Euro. Das wäre ja schon eine erhebliche Summe."
Wäre, würde, könnte: Selbst vom kleinsten gemeinsamen Nenner der integrierten Verkehrsplanung, dem kostenlosen Nahverkehr, reden alle Beteiligten bisher nur im Konjunktiv.
Dass Wunsch und Wirklichkeit oft weit auseinander liegen, weiß auch Michael Weigelt. Weigelt ist ein streitbarer Mann, weshalb viele auf der Insel ihn für einen kompromissunfähigen Verhinderer halten.
"Es gibt ja einen großen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Naturschutz wichtig ist. Und es gibt eine erhebliche Zustimmung ganz allgemein zur Existenz von Großschutzgebieten: Nationalparks, Biosphärenreservate, Naturparks. Das ist das eine, das tut ja auch nicht weh."
Doch Naturschutz könne eben nur mit Verboten durchgesetzt werden, konstatiert Weigelt.
"Und da lässt die Zustimmung dann rapide nach. Der eine möchte irgendwo bauen, wo es nicht zulässig ist, und ist natürlich dann wenig erfreut. Es gibt die Touristen, die hier Müll hinterlassen, die die Wege verlassen, die wild zelten - die alles möglicherweise tun, was eben nicht den Vorschriften entspricht, und was dann eben auch mal kontrolliert und gegebenenfalls geahndet werden muss. Und dagegen erhebt sich dann immer ein ungeheurer Protest."
Michael Weigelt hat viele Diskussionen geführt. Als Leiter des Biosphärenreservats Südostrügen und des Nationalparks Jasmund war der Biologe 15 Jahre lang so etwas wie der oberste Naturschützer der Insel. Die Konflikte waren programmiert. Denn der Auftrag des Biosphärenreservats ist nicht nur der Schutz der Natur, sondern auch die nachhaltige Entwicklung des Gebiets. Keine leichte Aufgabe, wenn die Reservatsfläche viele Siedlungsgebiete wie die Gemeinde Sellin umfasst, in denen Bauvorhaben mit den hohen Naturschutzanforderungen abgestimmt werden müssen.
"Es gibt natürlich viele Fälle, wo das Gesetz einfach eine bestimmte Regelung vorschreibt, wo man keinen Ermessensspielraum hat. Und dann kann man da auch keine Kompromisse machen. Die werden gleichwohl erwartet, und dann macht man sich nicht sehr beliebt, wenn man diese Kompromisse eben nicht schließt."
Deshalb hat Weigelt seit Anfang 2006 einen neuen Job. Zuletzt waren die Fronten so verhärtet, dass an einen Dialog mit den Bürgermeistern der einzelnen Gemeinden nicht mehr zu denken war, das Biosphärenreservat stand kurz vor dem Aus. Heute ist Weigelt nur noch Referatsleiter im Nationalpark Jasmund, das Biosphärenreservat hingegen wurde ausgegliedert und hat eine neue Spitze bekommen.
Nun spreche man endlich wieder miteinander und suche gemeinsam nach Kompromissen für die Entwicklung des Gebiets, sagt Holm-Andreas Lehmann, der stellvertretende Leiter des Biosphärenreservats. Einige grundsätzliche Konflikte sind aber trotzdem geblieben. Holm-Andreas Lehmann:
"In den Naturschutzgebieten zum Beispiel stehen wir vor dem Problem, dass natürlich auch Trendsportarten dort hineindrängen. Also, ich denke da an Mountainbiking oder auch Drachenfliegen. Diese Begehrlichkeiten, die sind schon da. Das geht bis hin zum Fliegenlassen von Modellfluggeräten, was ja nach der Biosphärenreservatsverordnung verboten ist. Also, generell ist das Starten und Landen mit Fluggeräten verboten."
Doch Sellins Ortschef Reinhard Liedtke hat andere Pläne. Er würde gerne prüfen, ob man den Selliner See nicht als Wasserflugplatz nutzen kann - und will damit eine alte Tradition beleben, schließlich sei der See schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Start- und Landefläche für touristische Wasserflugzeuge genutzt worden.
"Und da sagen wir: Wir wollen das mal aufnehmen als Planungsziel der Gemeinde, und lasst uns das mal probieren. Wir haben mal bestimmte Flugtage gemacht, oder Ausstellungen. Zum Beispiel zum Thema Wasserflugzeuge auf der Seebrücke haben wir eine Ausstellung gemacht, und und haben gesagt: Zu diesem Tag wollen wir das selber mal probieren, damit die Leute das mal sehen, und wir mal sehen, ob das laut, leise ist - was die Anwohner sagen."
Diesen Wunsch hat ihm der alte Amtsleiter Weigelt jedoch nicht erfüllt. Und auch Holm-Andreas Lehmann hat eine klare Meinung zu dem Thema.
"Ganz klipp und klar: Da müssen wir sagen, das widerspricht eigentlich den Naturschutzzielen und auch der Entwicklung im Biosphärenreservat."
Natürlich kennt auch Bürgermeister Liedtke die geltenden Bestimmungen im Biosphärenreservat. Aber genau die seien eben das Problem.
"Ja, deswegen ist es auch ein Thema, dass wir gesagt haben, wir wollen an diese Verordnung ran. Das ist damals entstanden mit der Begründung, dass man hier keinen Flugplatz bauen wollte. Ist klar, dass wir hier nicht wie Airbus die Berge plattmachen und einen Airbus landen lassen wollen. Aber an Wasserflugzeuge hat 1990 noch gar keiner gedacht, da hatten wir ganz andere Sorgen, und da haben uns die Grünen diese Dinge untergeschoben.
Deswegen sagen wir, nach zehn Jahren, 15 Jahren: Gesetze ändert man, sie werden laufend geändert, angepasst. Also, warum sollen wir nicht die Biosphäre mal Stück für Stück erneuern. Und das sind so Vorschläge, wo wir gesagt haben: Diese Dinge müssen einfach raus, oder Ausnahmen müssen rein."
Für NABU-Geschäftsführerin Marlies Preller ist diese Vorstellung unerträglich.
"Wenn man ein Biosphärenreservat einrichtet, aber die Kriterien des Biosphärenreservats sind ein Spielball von Politikern, dann fragt man sich wirklich: Warum ein Biosphärenreservat? Und wenn dann die Bürgermeister all das durchsetzen, was sie auch ohne Biosphärenreservat machen können, ist es natürlich schwierig, daran noch zu glauben, dass ein Biosphärenreservat noch ein besonderes Zertifikat ist."
Doch hat die Biosphärenreservatsverordnung trotz aller Konflikte nach der Wende nicht auch vor einer ungebremsten baulichen und touristischen Entwicklung geschützt? Ortschef Liedtke muss kurz überlegen.
"Also, auf den ersten Blick würde man ja sagen, auf den zweiten Blick heißt das ja immer, dass wir - und dagegen verwehre ich mich immer ein bisschen - nicht sorgsam mit den Naturressourcen umgehen würde. Und dass die Naturschützer jetzt als der Naturheilbringer, als der Schützer der Natur dastehen. Die Frage ist immer nur, was jeder darunter versteht, und wenn es ans Detail geht - also die Frage, ob die Biosphäre heute noch mal gegründet worden wäre? Ich glaube in Sellin, wir hätten nein gesagt."
Kein Wunder - schließlich hat Sellins Ortschef schon genug Probleme mit renitenten Umweltschützern. Als die Gemeinde vor einiger Zeit die Rodung und anschließende Bebauung eines Buchenwaldes in unmittelbarer Nähe zur Steilküste plante, gründete sich sogar eine Bürgerinitiative gegen das Bauvorhaben. Reinhard Liedtke verteidigt das Projekt.
"Das ist eine Abrundung gewesen aus unserer Sicht. Also, es sind rechts und links Häuser, und wir haben gesagt, wir schließen diese Lücke und haben eigentlich das mit dem Biosphärenreservat, der Forstbehörde, vorher abgestimmt. Beide haben gesagt: Es ist okay aus unserer Sicht. So, und dann haben wir als Gemeinde gesagt: Okay, dann machen wir das."
Viele Experten halten das Bauvorhaben allerdings für falsch. So verweist das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie - kurz LUNG - in seiner Stellungnahme auf die Rutschgefahr des Küstenabschnitts und "warnt vor einer Neubebauung und Verdichtung der bestehenden Bebauung im kliffnahen Bereich". Doch Ortschef Liedtke ficht das nicht an.
"Wenn LUNG und alle die Bedenkenträger, wenn wir immer auf die hören würden, die wischen wir dann weg. Also, wenn die dann nicht maßgebliche Bedenkenträger sind - der BUND sagt zu allem Nein, die Grüne Liga sagt zu allem Nein, Sie können eben auch keinen Katholiken bekehren, von seinem Glauben abzuhalten - also: Dann sollen die dazu Nein sagen. Wir in der Gemeindevertretung machen uns ein Bild davon, und dann hat die Gemeinde die Planungshoheit, und dann sagen wir: Wir nehmen das zur Kenntnis und wägen das weg, heißt das im Amtsdeutsch."
Heute sind die Bäume längst gerodet, Ausgleichsflächen wurden ausgewiesen, die ersten Grundstücke sind verkauft. Und der Graben zwischen der Gemeinde und den Naturschützern ist wohl noch etwas breiter geworden.
"Mein Leitspruch ist ja, ich sage: Die Natur muss vor den Naturschützern geschützt werden und nicht umgedreht, dass die Naturschützer die Natur schützen wollen. Wir haben eben übereifrige Naturschützer hier, die dann wirklich die Natur schützen wollen: Käseglocke drauf, und es passiert nichts mehr."
Liedtke hat eine andere Vorstellung vom verantwortungsvollen Umgang mit der Landschaft.
"Diese Anmaßung, über Menschen zu bestimmen, was die sehen dürfen und nicht sehen dürfen, das halte ich auch für nicht demokratisch und auch für falsch, da gibt es immer Ausnahmen und Möglichkeiten, das zu lenken und zu steuern."
Vielleicht sind die Positionen von Touristikern und Naturschützern auf der Insel manchmal aber auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Denn auch Michael Weigelt vom Nationalpark Jasmund weiß, dass ein totaler Schutz der Natur mit den touristischen Zielen der Insel nicht vereinbar ist.
"Also Klaus Töpfer, als er noch Bundesumweltminister war, hat mal den Begriff der 'ökologischen Opferzone' geprägt beziehungweise die Weisheit gepredigt, die ja eigentlich auch nicht so weltbewegend ist: Man muss Punkte opfern, wenn man Fläche schützen will. Und der Königsstuhl ist so ein Punkt."
Rund 300.000 Besucher kommen jedes Jahr zu Fuß, per Rad oder Bus, um den berühmten Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund zu besichtigen - und zahlen dafür sogar Eintritt. Derart erfolgreich wird der Besucherstrom hier kanalisiert, dass weite Gebiete des Nationalparks selbst in der Hochsaison oft menschenleer sind.
Der Massentourismus auf Rügen ist deshalb ein lokales Phänomen - und ein zeitlich eng begrenztes. Immer wieder im Sommer werden deshalb dieselben Themen diskutiert: der Verkehr, der Stau, die fehlenden Transportalternativen und die Gefahren für die Natur. Doch nach der Hochsaison sind die Probleme meist schnell vergessen. Nahverkehrs-Chef Rolf Rümper:
"In jedem Jahr um diese Jahreszeit, nachdem also alles zum Stillstand kommt, nachdem auch die Urlauber und nicht nur die Einheimischen vor dem Problem stehen, ihre Ziele gar nicht erreichen zu können, oder erst nach mehreren Stunden im Stau, ist die Bereitschaft, darüber nachzudenken, viel größer. Erfahrungsgemäß kann ich jetzt sagen, dauert es jetzt noch zwei, drei Monate, dann ist die Bereitschaft wieder kleiner, weil dann auch die Staus kleiner sind, das passiert im jährlichen Auf und Ab."
Schon jetzt, Mitte September, hat der Leidensdruck merklich abgenommen. Wahrscheinlich benutzt Rolf Rümper deshalb am liebsten den Konjunktiv, wenn er vom geplanten kostenlosen Nahverkehr auf der Insel redet.
Um Rügen wenigstens kurzfristig vor dem totalen Verkehrskollaps zu bewahren, bedient Gustav Lüth sich vorerst lieber traditioneller Mittel. In diesem Sommer hat Rügens Polizeichef zum ersten Mal seine Kollegen vom Verkehrsüberwachungsdienst raus auf die Straße geschickt.
"Das heißt, sie stellen sich dann auf die Kreuzung und regeln den Verkehr per Hand, wie das also früher auch mal der Fall gewesen ist, als es Ampelanlagen nur noch als exotische Bestandteile im Straßenverkehr gab."
Im Integrierten Verkehrsentwicklungskonzept war diese Maßnahme gar nicht vorgesehen. Es gab keine Diskussionen und auch keinen Finanzbedarf. Wahrscheinlich hat sie deswegen so schnell funktioniert.
Es klingt schon wie Nachsaison. Die Schulferien sind zu Ende, die meisten Familien abgereist, jetzt kommen die Nachzügler. Vor vier Wochen hat sich das noch ganz anders angehört.
"Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet." Dieses Diktum hat Hans-Magnus Enzensberger schon vor knapp 30 Jahren formuliert. Aber gilt es auch für Rügen? Schließlich herrscht bei schönem Wetter am Strand vom Ostseebad Sellin selbst in der Hochsaison die pure Urlaubsidylle.
Im gleichmäßigen Rhythmus schwappen die Wellen an den Strand. Träge haben sich die Menschen in die Sonne gestreckt, andere spielen Ball oder blicken aufs Meer. Die Kinder kreischen mit den Möwen um die Wette. Rügen ist eine der sonnenreichsten Regionen in ganz Deutschland.
Aber manchmal gibt es auch hier, im äußersten Nordosten der Republik, schlechtes Wetter. Hastig suchen die Badegäste dann ihre Sachen zusammen und flüchten ins Trockene. Und plötzlich ist er wieder da, der hässliche Sound der Insel. Rolf Rümper kennt das Problem. Als Chef des Personennahverkehrs auf der Insel weiß er, was schlechtes Wetter für die Straßen auf Rügen bedeutet.
"Dann holen alle ihr Auto heraus und meinen, sich irgendwelche Ziele angucken zu müssen, was nicht Strand ist. Und dann zeigt eben die Erfahrung: Dann ist alles dicht, dann läuft nichts mehr."
Rund sechs Millionen Übernachtungen verzeichnete Rügen im vergangenen Jahr. Eigentlich kein Problem für eine fast 1000 Quadratkilometer große Insel, deren Küste mehr als 500 Kilometer lang ist. Doch eine ausgewogene räumliche und zeitliche Verteilung der Besucherströme interessiert den Rügentouristen naturgemäß wenig: Die meisten Gäste kommen im Juli und August, und fast alle wollen zum Urlaub in die bekannten Ostseebäder im Südosten der Insel - nach Binz und Sellin, Göhren und Baabe. Auf den Straßen wird der Besuchersegen dann plötzlich zum Fluch.
Um die Verkehrssituation zu entschärfen, wurde schon im vergangenen Herbst die zweite Strelasundquerung eingeweiht - eine riesige Brücke, die mit ihrem 128 Meter hohen Träger die historische Stadtsilhouette weit überragt. Doch gleich dahinter staut sich der Verkehr schon wieder. Eine neue Bundesstraße soll deshalb Entlastung schaffen. Ein sinnloses Unterfanges, findet Marlies Preller.
"Man will jetzt neben die zweispurige B96 noch drei Spuren dazubauen, das sind insgesamt fünf in die Kreisstadt Bergen ohne jeglichen Gewinn - ein bisschen Zeit, und dann stehen Sie in Bergen im Stau, oder in den Umgehungsstraßen oder sonstwas. Also, es wird dann so weitergehen: Der Druck wird erhöht werden, neue Straßen zu bauen, und das kann es nicht sein."
Die Geschäftsführerin des Naturschutzbund-Kreisverbandes von Rügen - kurz NABU - wirbt deshalb für einen behutsamen Ausbau der vorhandenen Trasse: Lieber die alte Bundesstraße verbreitern, als wertvolle Fläche für den kompletten Neubau zu verschwenden.
Im Landesamt für Straßenbau und Verkehr in Rostock ist Peter Bender zuständig für die Verkehrsplanung auf der Insel. Die Idee des behutsamen Straßenausbaus hält er für unrealistisch.
"Weil der Plan, den die Gegner immer wieder vorstellen, einfach nicht in der Lage ist, den Straßenverkehr leistungsfähiger zu machen. Wir haben eine ganz besondere Problematik im Zusammenhang mit der Eisenbahn. Das heißt, wir haben die parallel laufende Eisenbahn, wir haben die Knotenpunkte, die Abzweige, die über die Gleise gehen. Wir haben also eine Beeinflussung des Straßenverkehrs durch den Eisenbahnverkehr, und diese Probleme sind einfach auch durch einen Ausbau der vorhandenen Strecke nicht zu entschärfen."
Auf der neuen Straße werde es diese Probleme nicht geben, meint Bender. Sie soll als sogenannte Kraftfahrtstraße gewidmet werden, auf der eine Mindestgeschwindigkeit von 60 km/h gilt. Kreuzungen werden durch autobahnähnliche Auf- und Abfahrten vermieden. Langsame Fahrzeuge würden dann auf die alte Bundesstraße ausweichen. Nur so könne der Verkehr zügig fließen - und sichergestellt werden, dass auch die Fernlaster für den Fährhafen Neu Mukran, die heute noch häufig im Stau stecken, pünktlich ihr Ziel erreichen.
Eine Frage aber bleibt trotzdem: Lässt sich das Stauproblem auf Rügen mit neuen Straßen lösen? Das neue Integrierte Verkehrskonzept Rügen, in Auftrag gegeben vom Verkehrsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, gibt darauf eine klare Antwort:
"Die Komplettierung der B96 wird zwar die heute, im Wesentlichen während der Reisesaison auftretenden Engpasssituationen mildern, kann diese aber nicht vollständig aufheben."
Nahverkehrschef Rolf Rümper hat die Entwicklung des Konzeptes genau verfolgt. Vom Ergebnis ist er enttäuscht, denn von innovativen Ideen wie Zugangsbeschränkungen zu touristischen Inselregionen für den Individualverkehr sei am Ende wenig übrig geblieben.
"Man wollte in frühen Phasen dieses Gutachtens erreichen, dass die PKW-Nutzer dann nur zu bestimmten Zeiten ihr Ziel erreichen konnten. Das führte dann aber natürlich dazu, dass es dann also Leute gab, insbesondere Hoteliers, der ganze Tourismus, die dann sagten: Also, wenn das so ist, dann kommt hier keiner mehr her, und dann bricht die ganze Insel zusammen. Und das Ergebnis aus dem Gutachten ist letztendlich das, dass diese auch guten Ideen dann doch deutlich verwässert wurden."
Peter Bender vom Landesamt für Straßenbau und Verkehr hat eine andere Erinnerung.
"Es gab die Überlegung, dass man so etwas vergleichbar der Luftfahrt tatsächlich mit diesen Timeslots macht. Aber ein richtiges tiefes Stadium, dass es in das Konzept Eingang gefunden hätte und dann gestrichen worden wäre, gab es nicht, weil eigentlich frühzeitig erkannt wurde, dass das ein System mit wenig Akzeptanz ist. Und dann kommen wir wieder in die Geschichte mit den Wettbewerbsverzerrungen. Es gibt eigentlich kaum Vorteile, weil es sehr schwierig zu handhaben ist. Es ist sehr kostenintensiv, und der Nutzen ist schwer absehbar."
Zu kompliziert und zu teuer für eine Nutzungsdauer von nur zwei bis drei Monaten in der Hauptsaison: Zugangsbeschränkungen zur Insel wird es also vorerst nicht geben - auch deshalb, weil die freie Fahrt mit dem eigenen PKW noch immer als heilig gilt, selbst wenn sie im Stau endet.
Statt Zwangsmaßnahmen soll es deshalb Anreize geben, damit die Urlauber verstärkt auf den Bus umsteigen. Im neuen Verkehrsentwicklungskonzept wird nun die Einrichtung eines für Touristen kostenfreien und solidarfinanzierten Nahverkehrs auf Rügen gefordert.
Losgehen soll es mit einem Shuttlebus auf dem Inselteil Mönchgut im Südosten Rügens. Die Idee, die der Selliner Bürgermeister Reinhard Liedtke mit seinen Amtskollegen aus den Nachbargemeinden umsetzen will, ist nicht neu. Doch zu mehr als einer Willensbekundung hat es bisher nie gereicht - schließlich muss das Konzept auch finanziert werden. Nahverkehrs-Chef Rolf Rümper hat das Modell in Gedanken schon mal durchgerechnet.
"Wenn ich also sechs, sieben Millionen Übernachtungen habe, und wenn ich jetzt einfach mal sagen würde - aber das bitte nur mal so als Gedankenspiel - wenn ich jetzt von jedem Urlauber einen Euro pro Nacht erwarten würde und dieses dann dem Nahverkehr zubringen würde, dann wären es immerhin schon sechs, sieben Millionen Euro. Das wäre ja schon eine erhebliche Summe."
Wäre, würde, könnte: Selbst vom kleinsten gemeinsamen Nenner der integrierten Verkehrsplanung, dem kostenlosen Nahverkehr, reden alle Beteiligten bisher nur im Konjunktiv.
Dass Wunsch und Wirklichkeit oft weit auseinander liegen, weiß auch Michael Weigelt. Weigelt ist ein streitbarer Mann, weshalb viele auf der Insel ihn für einen kompromissunfähigen Verhinderer halten.
"Es gibt ja einen großen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Naturschutz wichtig ist. Und es gibt eine erhebliche Zustimmung ganz allgemein zur Existenz von Großschutzgebieten: Nationalparks, Biosphärenreservate, Naturparks. Das ist das eine, das tut ja auch nicht weh."
Doch Naturschutz könne eben nur mit Verboten durchgesetzt werden, konstatiert Weigelt.
"Und da lässt die Zustimmung dann rapide nach. Der eine möchte irgendwo bauen, wo es nicht zulässig ist, und ist natürlich dann wenig erfreut. Es gibt die Touristen, die hier Müll hinterlassen, die die Wege verlassen, die wild zelten - die alles möglicherweise tun, was eben nicht den Vorschriften entspricht, und was dann eben auch mal kontrolliert und gegebenenfalls geahndet werden muss. Und dagegen erhebt sich dann immer ein ungeheurer Protest."
Michael Weigelt hat viele Diskussionen geführt. Als Leiter des Biosphärenreservats Südostrügen und des Nationalparks Jasmund war der Biologe 15 Jahre lang so etwas wie der oberste Naturschützer der Insel. Die Konflikte waren programmiert. Denn der Auftrag des Biosphärenreservats ist nicht nur der Schutz der Natur, sondern auch die nachhaltige Entwicklung des Gebiets. Keine leichte Aufgabe, wenn die Reservatsfläche viele Siedlungsgebiete wie die Gemeinde Sellin umfasst, in denen Bauvorhaben mit den hohen Naturschutzanforderungen abgestimmt werden müssen.
"Es gibt natürlich viele Fälle, wo das Gesetz einfach eine bestimmte Regelung vorschreibt, wo man keinen Ermessensspielraum hat. Und dann kann man da auch keine Kompromisse machen. Die werden gleichwohl erwartet, und dann macht man sich nicht sehr beliebt, wenn man diese Kompromisse eben nicht schließt."
Deshalb hat Weigelt seit Anfang 2006 einen neuen Job. Zuletzt waren die Fronten so verhärtet, dass an einen Dialog mit den Bürgermeistern der einzelnen Gemeinden nicht mehr zu denken war, das Biosphärenreservat stand kurz vor dem Aus. Heute ist Weigelt nur noch Referatsleiter im Nationalpark Jasmund, das Biosphärenreservat hingegen wurde ausgegliedert und hat eine neue Spitze bekommen.
Nun spreche man endlich wieder miteinander und suche gemeinsam nach Kompromissen für die Entwicklung des Gebiets, sagt Holm-Andreas Lehmann, der stellvertretende Leiter des Biosphärenreservats. Einige grundsätzliche Konflikte sind aber trotzdem geblieben. Holm-Andreas Lehmann:
"In den Naturschutzgebieten zum Beispiel stehen wir vor dem Problem, dass natürlich auch Trendsportarten dort hineindrängen. Also, ich denke da an Mountainbiking oder auch Drachenfliegen. Diese Begehrlichkeiten, die sind schon da. Das geht bis hin zum Fliegenlassen von Modellfluggeräten, was ja nach der Biosphärenreservatsverordnung verboten ist. Also, generell ist das Starten und Landen mit Fluggeräten verboten."
Doch Sellins Ortschef Reinhard Liedtke hat andere Pläne. Er würde gerne prüfen, ob man den Selliner See nicht als Wasserflugplatz nutzen kann - und will damit eine alte Tradition beleben, schließlich sei der See schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Start- und Landefläche für touristische Wasserflugzeuge genutzt worden.
"Und da sagen wir: Wir wollen das mal aufnehmen als Planungsziel der Gemeinde, und lasst uns das mal probieren. Wir haben mal bestimmte Flugtage gemacht, oder Ausstellungen. Zum Beispiel zum Thema Wasserflugzeuge auf der Seebrücke haben wir eine Ausstellung gemacht, und und haben gesagt: Zu diesem Tag wollen wir das selber mal probieren, damit die Leute das mal sehen, und wir mal sehen, ob das laut, leise ist - was die Anwohner sagen."
Diesen Wunsch hat ihm der alte Amtsleiter Weigelt jedoch nicht erfüllt. Und auch Holm-Andreas Lehmann hat eine klare Meinung zu dem Thema.
"Ganz klipp und klar: Da müssen wir sagen, das widerspricht eigentlich den Naturschutzzielen und auch der Entwicklung im Biosphärenreservat."
Natürlich kennt auch Bürgermeister Liedtke die geltenden Bestimmungen im Biosphärenreservat. Aber genau die seien eben das Problem.
"Ja, deswegen ist es auch ein Thema, dass wir gesagt haben, wir wollen an diese Verordnung ran. Das ist damals entstanden mit der Begründung, dass man hier keinen Flugplatz bauen wollte. Ist klar, dass wir hier nicht wie Airbus die Berge plattmachen und einen Airbus landen lassen wollen. Aber an Wasserflugzeuge hat 1990 noch gar keiner gedacht, da hatten wir ganz andere Sorgen, und da haben uns die Grünen diese Dinge untergeschoben.
Deswegen sagen wir, nach zehn Jahren, 15 Jahren: Gesetze ändert man, sie werden laufend geändert, angepasst. Also, warum sollen wir nicht die Biosphäre mal Stück für Stück erneuern. Und das sind so Vorschläge, wo wir gesagt haben: Diese Dinge müssen einfach raus, oder Ausnahmen müssen rein."
Für NABU-Geschäftsführerin Marlies Preller ist diese Vorstellung unerträglich.
"Wenn man ein Biosphärenreservat einrichtet, aber die Kriterien des Biosphärenreservats sind ein Spielball von Politikern, dann fragt man sich wirklich: Warum ein Biosphärenreservat? Und wenn dann die Bürgermeister all das durchsetzen, was sie auch ohne Biosphärenreservat machen können, ist es natürlich schwierig, daran noch zu glauben, dass ein Biosphärenreservat noch ein besonderes Zertifikat ist."
Doch hat die Biosphärenreservatsverordnung trotz aller Konflikte nach der Wende nicht auch vor einer ungebremsten baulichen und touristischen Entwicklung geschützt? Ortschef Liedtke muss kurz überlegen.
"Also, auf den ersten Blick würde man ja sagen, auf den zweiten Blick heißt das ja immer, dass wir - und dagegen verwehre ich mich immer ein bisschen - nicht sorgsam mit den Naturressourcen umgehen würde. Und dass die Naturschützer jetzt als der Naturheilbringer, als der Schützer der Natur dastehen. Die Frage ist immer nur, was jeder darunter versteht, und wenn es ans Detail geht - also die Frage, ob die Biosphäre heute noch mal gegründet worden wäre? Ich glaube in Sellin, wir hätten nein gesagt."
Kein Wunder - schließlich hat Sellins Ortschef schon genug Probleme mit renitenten Umweltschützern. Als die Gemeinde vor einiger Zeit die Rodung und anschließende Bebauung eines Buchenwaldes in unmittelbarer Nähe zur Steilküste plante, gründete sich sogar eine Bürgerinitiative gegen das Bauvorhaben. Reinhard Liedtke verteidigt das Projekt.
"Das ist eine Abrundung gewesen aus unserer Sicht. Also, es sind rechts und links Häuser, und wir haben gesagt, wir schließen diese Lücke und haben eigentlich das mit dem Biosphärenreservat, der Forstbehörde, vorher abgestimmt. Beide haben gesagt: Es ist okay aus unserer Sicht. So, und dann haben wir als Gemeinde gesagt: Okay, dann machen wir das."
Viele Experten halten das Bauvorhaben allerdings für falsch. So verweist das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie - kurz LUNG - in seiner Stellungnahme auf die Rutschgefahr des Küstenabschnitts und "warnt vor einer Neubebauung und Verdichtung der bestehenden Bebauung im kliffnahen Bereich". Doch Ortschef Liedtke ficht das nicht an.
"Wenn LUNG und alle die Bedenkenträger, wenn wir immer auf die hören würden, die wischen wir dann weg. Also, wenn die dann nicht maßgebliche Bedenkenträger sind - der BUND sagt zu allem Nein, die Grüne Liga sagt zu allem Nein, Sie können eben auch keinen Katholiken bekehren, von seinem Glauben abzuhalten - also: Dann sollen die dazu Nein sagen. Wir in der Gemeindevertretung machen uns ein Bild davon, und dann hat die Gemeinde die Planungshoheit, und dann sagen wir: Wir nehmen das zur Kenntnis und wägen das weg, heißt das im Amtsdeutsch."
Heute sind die Bäume längst gerodet, Ausgleichsflächen wurden ausgewiesen, die ersten Grundstücke sind verkauft. Und der Graben zwischen der Gemeinde und den Naturschützern ist wohl noch etwas breiter geworden.
"Mein Leitspruch ist ja, ich sage: Die Natur muss vor den Naturschützern geschützt werden und nicht umgedreht, dass die Naturschützer die Natur schützen wollen. Wir haben eben übereifrige Naturschützer hier, die dann wirklich die Natur schützen wollen: Käseglocke drauf, und es passiert nichts mehr."
Liedtke hat eine andere Vorstellung vom verantwortungsvollen Umgang mit der Landschaft.
"Diese Anmaßung, über Menschen zu bestimmen, was die sehen dürfen und nicht sehen dürfen, das halte ich auch für nicht demokratisch und auch für falsch, da gibt es immer Ausnahmen und Möglichkeiten, das zu lenken und zu steuern."
Vielleicht sind die Positionen von Touristikern und Naturschützern auf der Insel manchmal aber auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Denn auch Michael Weigelt vom Nationalpark Jasmund weiß, dass ein totaler Schutz der Natur mit den touristischen Zielen der Insel nicht vereinbar ist.
"Also Klaus Töpfer, als er noch Bundesumweltminister war, hat mal den Begriff der 'ökologischen Opferzone' geprägt beziehungweise die Weisheit gepredigt, die ja eigentlich auch nicht so weltbewegend ist: Man muss Punkte opfern, wenn man Fläche schützen will. Und der Königsstuhl ist so ein Punkt."
Rund 300.000 Besucher kommen jedes Jahr zu Fuß, per Rad oder Bus, um den berühmten Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund zu besichtigen - und zahlen dafür sogar Eintritt. Derart erfolgreich wird der Besucherstrom hier kanalisiert, dass weite Gebiete des Nationalparks selbst in der Hochsaison oft menschenleer sind.
Der Massentourismus auf Rügen ist deshalb ein lokales Phänomen - und ein zeitlich eng begrenztes. Immer wieder im Sommer werden deshalb dieselben Themen diskutiert: der Verkehr, der Stau, die fehlenden Transportalternativen und die Gefahren für die Natur. Doch nach der Hochsaison sind die Probleme meist schnell vergessen. Nahverkehrs-Chef Rolf Rümper:
"In jedem Jahr um diese Jahreszeit, nachdem also alles zum Stillstand kommt, nachdem auch die Urlauber und nicht nur die Einheimischen vor dem Problem stehen, ihre Ziele gar nicht erreichen zu können, oder erst nach mehreren Stunden im Stau, ist die Bereitschaft, darüber nachzudenken, viel größer. Erfahrungsgemäß kann ich jetzt sagen, dauert es jetzt noch zwei, drei Monate, dann ist die Bereitschaft wieder kleiner, weil dann auch die Staus kleiner sind, das passiert im jährlichen Auf und Ab."
Schon jetzt, Mitte September, hat der Leidensdruck merklich abgenommen. Wahrscheinlich benutzt Rolf Rümper deshalb am liebsten den Konjunktiv, wenn er vom geplanten kostenlosen Nahverkehr auf der Insel redet.
Um Rügen wenigstens kurzfristig vor dem totalen Verkehrskollaps zu bewahren, bedient Gustav Lüth sich vorerst lieber traditioneller Mittel. In diesem Sommer hat Rügens Polizeichef zum ersten Mal seine Kollegen vom Verkehrsüberwachungsdienst raus auf die Straße geschickt.
"Das heißt, sie stellen sich dann auf die Kreuzung und regeln den Verkehr per Hand, wie das also früher auch mal der Fall gewesen ist, als es Ampelanlagen nur noch als exotische Bestandteile im Straßenverkehr gab."
Im Integrierten Verkehrsentwicklungskonzept war diese Maßnahme gar nicht vorgesehen. Es gab keine Diskussionen und auch keinen Finanzbedarf. Wahrscheinlich hat sie deswegen so schnell funktioniert.