Statistik und Populismus

"Zahlen lügen nicht" – ein gefährlicher Irrglaube

Zwei Personen veruschen in ihrem Kopf, mit Zahlen zurechtkommen.
Zahlen haben den Anschein von Objektivität - können uns aber ganz schön in die Irre führen. © imago/Ikon Images
Von Ulrich Woelk · 14.09.2018
Es ist einfach, mit Worten Lügen zu verbreiten, und der Wahrheitsgehalt von Worten wird oft angezweifelt. Zahlen genießen hingegen eine Autorität: Wie gefährlich das sein kann, erklärt der Schriftsteller Ulrich Woelk.
Manchmal, wenn ein seichtes Partygeplauder auf das Thema Gesundheitsrisiken kommt, werfe ich gerne eine Statistik-Frage in die Runde: Wo würdet Ihr am liebsten leben? In einem Land mit einer Krebsmortalität von fünf oder 15 oder 30 Prozent? Bei so einer Frage ahnen viele der Angesprochenen schon, dass die beste Antwort keineswegs so trivial sein könnte, wie es auf den ersten Blick scheint. Dennoch entscheiden sich die meisten spontan für jenes Land mit der Krebsmortalität von nur fünf Prozent. Mir ging das beim ersten Mal nicht anders.
Besonders sinnvoll ist diese Entscheidung aber nicht: Sie hätte ein Leben in Nigeria oder im Tschad zur Folge. Bei 15 Prozent verschlüge es einen immerhin nach Brasilien oder in die Türkei. Bei 30 Prozent Krebsmortalität hingegen dürfte man es sich in der Schweiz gutgehen lassen. Woran liegt das? Ganz einfach: In der Schweiz und in Japan haben die Menschen die höchste Lebenserwartung weltweit. Doch je älter man wird, um so wahrscheinlicher ist es, dass der Krebs irgendwann zuschlägt. In Nigeria hingegen, wo die Menschen fast 40 Jahre früher sterben, spielt er als Todesursache kaum eine Rolle.

Zahlen genießen besondere Autorität

Zahlen lügen nicht, sagt der Volksmund, und deshalb genießen Zahlen gerade in Zeiten von Fake-News eine besondere Autorität: Kein Politiker, ganz gleich aus welchem Lager, der seine Ansichten und politischen Ziele nicht mit Zahlen und Statistiken untermauern würde. So twitterte im Juni Donald Trump, in Deutschland sei die Kriminalität infolge der Zuwanderung um zehn Prozent angestiegen, was aber vertuscht und verheimlicht würde. Und die AfD plakatierte im vergangenen Herbst, die Zahl der Oktoberfestbesucher sei zurückgegangen. Die Menschen hätten Angst.

Doch weder das eine noch das andere lässt sich belegen. Die Kriminalitätsstatistik ist viel zu kompliziert, um sie auf eine einzige Zahl zu reduzieren, und verheimlicht wird da schon gar nichts. Und die Zahl der Besucher bei der Eröffnung des vergangenen Oktoberfests lag zwar knapp unter dem langjährigen Durchschnitt aber über der des Vorjahres.

Zahlen sind eine kulturelle Urerfahrung

Zahlen stehen für eine Eindeutigkeit, der scheinbar nicht widersprochen werden kann. Unser Hauptreferenzmodell für Zahlen im Alltag sind die Preise von Waren. Mit denen haben wir ständig zu tun, und wir wissen, dass es an der Ladenkasse keinen Sinn macht, über die Summe auf dem Kassenbon zu diskutieren. Wir lernen von klein auf, dass es falsch ist, Zahlen zu widersprechen. Hinzu kommt: Die Entdeckung der Zahlen ist eines der faszinierendsten und auch spannendsten Kapitel der Geistesgeschichte. Man könnte beinahe so weit gehen zu behaupten, dass keine Idee die Menschheit und ihr Zusammenleben nachhaltiger beeinflusst und geprägt hat, als die der Zählbarkeit von nahezu allem. Zahlen sind eine kulturelle Urerfahrung.
Und genau das ist das Problem. Die Welt der Zahlen scheint klar und einfach zu sein: 1,2,3,4,5 … Doch in Wahrheit ist sie hochkomplex, und nicht nur Populisten nutzen die dadurch sich bietenden Manipulationsmöglichkeiten. So meldete im Januar 2016 ein seriöses österreichisches Wetterportal, der Winter sei um mehr als 300 Prozent zu warm. Es war zwei Grad wärmer als üblich, aber "über 300 Prozent zu warm" klingt natürlich weitaus dramatischer. Die Idee, die Temperaturschwankung in Prozent anzugeben, mag gut gemeint gewesen sein – manipulativ war sie dennoch.

Auch Zahlen können lügen

Zahlen können also ebenso wie Worte lügen. Daher gehört der Umgang mit Zahlen und Statistiken dringend in den Lehrplan für den Mathematikunterricht. Zu durchschauen, dass und wie es möglich ist, mit Zahlen Tatsachen zu verschleiern, ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was unter dem Stichwort Medienkompetenz zentraler Bestandteil jeder schulischen Ausbildung sein sollte.

Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschienen die Romane "Joana Mandelbrot und ich" (2008), "Was Liebe ist" (2013) und "Pfingstopfer" (2015).

© Bettina Keller
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