Statistik

Friedfertige Münchner - streitlustige Berliner?

Von Susanne Arlt |
Die Berliner ziehen besonders gerne vor den Kadi: Laut "Streitatlas" zankt sich gut jeder vierte Hauptstadtbewohner vor Gericht. Bayern oder Baden-Württemberger zeigen sich weitaus friedfertiger. Ein ethnologischer Erklärungsversuch.
Natürlich kann man die Wissenschaftlichkeit dieser Studie in Zweifel ziehen. Und natürlich könnte man ihrem Auftraggeber - der Advocard - auch eine gewisse Absicht unterstellen. Ganz nach dem Motto, wo viel gestritten wird, ist es doch sinnvoll, eine Rechtsschutzversicherung zu haben. Nichtsdestotrotz - so richtig überrascht hat einen das Ergebnis der Studie nicht.
Rein statistisch gesehen gehören die Berliner zu den streitlustigsten Deutschen. Während sich also in der Hauptstadt mehr als jeder Vierte zankt, geben sich die Bayern und Baden-Württemberger weitaus friedfertiger. Dort sucht bei Zwistigkeiten nur jeder sechste den Rat einer Rechtsschutzversicherung. Aber schließlich sind ja auch die Berliner und nicht die Münchner oder Stuttgarter für ihre große Klappe bekannt.
"Ich lasse mir nichts gefallen"
Kaschuba: "Die Berliner bemühen sich, der Berliner Schnauze gerecht zu werden, die einfach heißt, ich lasse mir nichts gefallen. Erst mal lasse ich das grundsätzlich klären und erst mal heißt das ja immer: haben wir nicht, wollen wir nicht, können wir nicht."
Meint Wolfgang Kaschuba. Der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität betont allerdings, dass diese Erklärung recht unwissenschaftlich sei. Seriöser hingegen ist die Erkenntnis, dass Berlin eine Stadt ist, in der in den vergangenen Jahrzehnten die Bevölkerung ständig wechselte. Man kennt sich kaum noch, lebt in einer Art selbstgewählten Anonymität.
Kaschuba: "In der Großstadt schützt sozusagen die Anonymität vor den Folgen eines Rechtsstreits. Weil die Anonymität einfach bedeutet, ich muss mit dem Kerl nichts mehr zu tun haben, auch wenn ich ihn vor den Kadi gezerrt habe."
Ein weiterer Faktor: Berlin ist eine Großstadt, die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Teilung, räumlich noch nicht völlig gettoisiert ist. Auch wenn die Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen begonnen habe, sei Berlin eine Stadt mit einer hohen soziokulturellen Mobilität, meint Wolfgang Kaschuba. Anders als München, Stuttgart oder Hamburg.
Kaschuba: "Das bedeutet die Vermischung, die Durchmischung von sozialen Milieus geht sehr viel schneller vonstatten. Es gibt noch nicht diese fertigen und verschlossenen Kieze und Milieus, sondern es gibt sehr viele noch offene Raumflächen und das heißt auf der anderen Seite, in Berlin trifft man sich noch, wenn man verschiedenen Berufen, Gruppen, Klassen, Schichten angehört, möglicherweise stärker als in anderen Städten und das trägt natürlich dazu bei, dass Reibungen entstehen."
Streit um eine Klobrille
Reibungen, aus denen Kreativität entstehen kann, aber eben auch Streitereien und Konflikte. Gerichtssprecher Ulrich Wimmer kann ein Lied davon singen. Zum Beispiel haben sich in seinem Gericht einmal zwei Ärzte um die gemeinsame Klobrille in ihrer Praxis gestritten. Der eine kettet sie fest, weil der andere sie immer hochgekappt ließ. Trotzdem scheint den Berlinern in den vergangenen Jahren dann doch ein bisschen die Lust am Zanken vergangen zu sein. Vor allem bei den Zivilprozessen seien die Streitigkeiten zurückgegangen, meint Wimmer. Vielleicht liegt das ja auch an den gerichtsinternen Mediationen. Bei der Klobrille wäre die sicherlich hilfreich gewesen. Sogenannte Güterichter setzten sich vor Beginn des Prozesses mit den streitenden Parteien an einen Tisch, um zwischen ihnen zu vermitteln. In diesen Gesprächen gehe es eher um Gefühle und Bedürfnisse, sagt Ulrich Wimmer, der selber Güterichter ist.
Wimmer: "Es gibt so einen typischen Verlauf, dass sie zu Beginn dieser Gespräche erst einmal schwer aufeinander losgehen und die Fetzen fliegen und große Gefühle sichtbar werden und Drohungen. Und dann aber eine gewisse Erschöpfung eintritt und auch eine Zufriedenheit, das einfach mal gesagt zu haben. Und dass oft auch der andere dann die Kraft findet, anzuerkennen, jawohl, wenn ich das jetzt von dir höre kann ich auch besser verstehen, warum du dich damals so geärgert hast."
Auch wenn die Bayern und Schwaben in der Streit-Studie besser wegkommen, friedliebender sind sie ganz bestimmt nicht. Zumindest nicht mehr, wenn sie nach Berlin ziehen, meint Ethnologe Wolfgang Kaschuba.
Kaschuba: "Das Interessante ist ja, dass wir, wenn wir heute über die Berliner reden, im Grunde genommen über uns alle reden. Denn wir wissen ja inzwischen, dass nur ungefähr ein Viertel der heutigen Wohnbevölkerung Berlins in Berlin geboren ist. Insofern können wir wahrscheinlich von Berlin aus gesagt nur sagen, sind wir eigentlich nur der gute deutsche Durchschnitt."