Stationen

Deutsche Gesänge (2)

Wilhelm Pieck (Mitte, 1876-1960) nach seiner Wahl zum Präsidenten der DDR am 11.10.1949
Wilhelm Pieck (1876-1960), erster und einziger Präsident der DDR, gab die Hymne 1949 in Auftrag. © picture-alliance / dpa
Von Claus Stephan Rehfeld · 20.05.2014
Im Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. In der Bundesrepublik stritt man über die Strophen des "Deutschlandliedes" für die Hymne. DDR-Präsident Wilhelm Pieck reagierte mit der Anregung einer "Hymne der Republik".
Vorspiel

"Kampf um die Einheit Deutschlands, gleichbedeutend mit dem Kampf um die Demokratisierung Deutschlands. Gegen die Illusion, dass eine Ausnutzung der Gegensätze zwischen Ost und West Deutschland zum Nutzen sein könnte. Alle Gegensätze werden auf unserem Rücken ausgetragen."

Johannes R. Becher, 10. Januar 1950, acht Monate nach der Gründung der BRD, drei Monate nach der Gründung der DDR.

Kapitel 1: Erste Aufführung

Berlin Ost. 07. November 1949.
Deutsche Staatsoper.
"Die Solistenvereinigung des Berliner Rundfunks unter Leitung von Nationalpreisträger Helmut Koch wird die Hymne heute hier zum ersten Mal vortragen."

Fast vier Wochen ist es her, da kann Wilhelm Pieck in der Nacht vom 09. auf den 10. Oktober "vor neuralgischen Schmerzen nicht schlafen". Er macht sich Gedanken über eine "Hymne der Republik" und schreibt dem Dichter Johannes R. Becher einen Brief.

"Der Refrain sollte die Einheit Deutschlands zum Inhalt haben", notiert Pieck darin - drei Tage nach der Gründung der DDR, einen Tag vor seiner Wahl zum ersten Staatspräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik. Einige Tage zuvor hatten Abgeordnete im Bonner Bundestag die Einführung aller drei Strophen des "Deutschlandliedes" als Hymne der BRD gefordert. Den Gesang des Textes haben die Alliierten in Deutschland verboten. Die DDR geht einen neuen Weg.

Festveranstaltung 07.11.49: "Es herrscht erwartungsvolles Schweigen in der ganzen Runde. Soeben kommen die letzten Minister noch von der Bühne herunter. Und da öffnet sich der Vorhang."
Auf den Brief von Pieck reagiert Becher wie elektrisiert. Die Einheit Deutschlands ist sein Thema. "Auferstehung" aus dem Ruinenmeer, aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Becher 1945: "Eine Auferstehungsphilosophie, eine deutsche Erneuerungslehre, eine Aufbauideologie tut Not, um unser Volk aus dem tiefsten Grab seiner Geschichte heraus zu führen. Zu einem solchen Anderswerden, zu solch einer Wandlung, zu solch einem Reformationswerk rufen wir auf."

Ende Oktober trifft Becher, der Moskauer Emigrant, den Komponisten Hanns Eisler, den USA-Emigranten, im Hotel "Bristol" in Warschau.

Eisler: "Und Becher gab mir ein Gedicht ( ... ) und schlug mir vor, ob ich nicht dazu eine Melodie komponieren könnte. Er sagte mir, er hätte es auch anderen Komponisten gegeben. Nun, am Nachmittag fuhren wir dann beide zum Geburtshaus von Chopin. Ich hatte inzwischen eine Melodie gefunden. Und auf dem alten Flügel Chopins spielte ich ihm die Nationalhymne vor. Er war sehr erstaunt, dass das so rasch ging, und sagte: Ja, das müssen wir uns aber in Berlin noch überlegen."

In Berlin geht alles sehr schnell. Am 4. November erstes Vorspiel der Komponisten Gerster und Eisler mit Chören beim Kulturbund, am 5. erneutes Vorspiel, diesmal mit zwei Sängern und vor dem Politbüro der SED. Eisler setzt sich gegen Gerster durch. Gleich am Nachmittag stimmt der Ministerrat der Becher/Eisler-Fassung zu. Am 06. gehen Text und Partitur an den Chor des Berliner Rundfunks. Musiker und Sänger haben wenig Zeit, schon am nächsten Tag soll die Uraufführung stattfinden. Den notwendigen offiziellen Rahmen gibt die Festveranstaltung zum 32. Jahrestag der Oktoberrevolution her.

"Auferstanden aus Ruinen
und der Zukunft zugewandt,
lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland."

Das Publikum im Saal ist begeistert. Die Hymne wird dreimal gespielt, von Handzetteln singen die Anwesenden den Text mit.

Lothar de Maiziere: "Und dieser Beginn mit 'Auferstanden aus Ruinen', das entsprach ja der Grundstimmung damals in Deutschland. Sozusagen: Wir stehen vor dem Scherbenhaufen des Landes. Und es war ein tiefes Bewusstsein davon, dass dieser Scherbenhaufen nicht fremd-, sondern eigenverschuldet war."

Lothar de Maiziere, letzter Ministerpräsident der DDR.

"In dem Fortlauf des Programms tritt nun eine kurze Pause ein. Und diese Pause, verehrte Hörerinnen und Hörer, will ich dazu benutzen, Sie zu Hause an den Lautsprechern mit dem Text der Hymne vertraut zu machen."

Kapitel 2: Der Text

Berlin Ost.
10. Oktober bis 07. November 1949: Der Text.
Nur zwei Tage nach dem Brief von Pieck schickt Becher am 12. Oktober einen Textentwurf an den Komponisten Ottmar Gerster in Weimar. Der Titel ist unterstrichen: "Auferstanden". Die erste Strophe beginnt mit "Auferstanden aus Ruinen / Deutschland, unser Heimatland".
Der Schriftsteller und DDR-Kultusminister Johannes R. Becher
Der Schriftsteller und DDR-Kultusminister Johannes R. Becher© picture alliance / dpa / Hans Kammler
Becher ändert ständig den Text, seine Sekretärin muss ihn "alle paar Stunden umschreiben". Frieden, Einheit, Deutschland, eigener Weg, aus eigener Kraft sind die Koordinaten, suchen aber noch ihre Form. Im Hymnenentwurf an Gerster heißt es in der ersten Strophe da:

"Deutschland, Dir zum allerbesten,
Wollen dienen wir vereint.
Hier im Osten - dort im Westen
Dass die Sonne, dass die Sonne
über Deutschland scheint."


Dwars : "Das heißt, da sanktioniert man beinahe mit der Hymne, dass es zwei Teile gibt. Und das sind sozusagen die Brüder, die miteinander streiten, wer das Beste für das Deutsche tut. Und in der nächsten Fassung sagt er: Nein, 'Deutschland einig Vaterland' - es gibt nicht zwei, nicht Ost und West. Also das wird sozusagen eingeschrieben, eigentlich im Grunde die Hymne als ein Auftrag."

Schrittweise nähert Becher sich dem prägnanten "Deutschland, einig Vaterland". In einem anderen Entwurf, ebenfalls "Auferstanden" überschriebenen, steht in der vierten Zeile zunächst "Deutschland unser Vaterland."

In der "Entwurf zu einer Nationalhymne" betitelten Fassung heißt es dann in der vierten Zeile "Deutschland, du mein Vaterland". Später setzt Becher zwischen Deutschland und Vaterland "einig".

Dwars: "Spannend ist eben bei Becher wirklich, wenn man schaut, was nicht drin steht."

Zum Beispiel nicht sowjetische Befreier, Sozialismus als Ziel, Völkerfreundschaft. Jens-Fietje Dwars, Becher-Biograf:

"Aber es steht ja drin 'und der eigenen Kraft vertrauend / steigt ein frei Geschlecht empor'. Also 'frei Geschlecht', 'eigene Kraft' - das ist schon enorm. Das ist eigentlich schon ein ungeheurer Affront gegen die Hausmacht Sowjetunion, wenn man es richtig nimmt."

Kapitel 3: Becher & Deutschland

Johannes R. Becher.
"Deutschland, einig Vaterland".
Dem deutschen Kriegswahn ist die Aufteilung durch die Alliierten gefolgt. Die Teilung wird zur Spaltung: Erst die Gründung der BRD, dann die Gründung der DDR.

Dwars: "Für ihn ist auch die DDR ein Provisorium. Und er weiß es. Zur Gründung der DDR ist er gar nicht da in Berlin, ist er gerade in München. Süddeutschland ist überhaupt sein eigentlicher Bezugspunkt, dort möchte er wieder leben, zumindest die Sommer verbringen in Bad Urach, wie er es in den 20er Jahren getan hat. Also diese Einheit Deutschlands - für ihn als Bajuware völlig klar."

Im Westen des Landes wird Becher als "SED-Troubadour" stigmatisiert, Eisler wird nicht gespielt, erhält faktisch Berufsverbot. Im Osten wird Becher als Poet und Kulturminister dann zwischen die Fronten geraten. "Deutschland, einig Vaterland"

Dwars: "Bis zuletzt war für ihn undenkbar ohne die deutsche Einheit, überhaupt dieses sozialistische Experiment oder wie auch immer man es nennen will, dass es lebensfähig ist. So als ein Seperatum - unmöglich!"

Als Becher die Hymne zu Papier bringt, da ist die Verfassung der DDR gerade ein paar Tage alt. In Artikel 1 heißt es: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik. Sie baut sich auf den deutschen Ländern auf. ( ... ) Es gibt nur eine Staatsangehörigkeit."

Kapitel 4: Zeit der Textlosigkeit

Leipzig. 01. März 1974
Uraufführung im Kabarett der Pfeffermühle
Rainer Otto: "Das ist der komplette Text von dem 'Unserer Hymne fehlt heute der Text'."

Rainer Otto, Autor dieser Zeilen. Der Titel des Programms: "Vorwärts und nichts vergessen".

Rainer Otto: "Ja also das hieß: 'Und überall wurden da Lieder gesungen / vom Morgen, der täglich neu uns erwächst. / Heut leiden wir alle an hinkenden Zungen. / Und unserer Hymne fehlt heute der Text'."

Das Buch mit dem Kabarett-Text erscheint in drei Auflagen, das Programm der Pfeffermühle geht über 300 Mal über die Bühne. Über 300 Mal der Hinweis auf die "hinkende Zunge". Das Publikum applaudiert.

"Na ja, weil das so eine Wahrheit war, die eigentlich nicht ausgesprochen werden sollte. Es wurde ja auch nie offiziell gesagt, der Text darf nicht mehr gesungen werden. Oder: Ab heute spielen wir das nur noch ohne Text oder was. Von einem Tag auf den anderen gab es keinen Text mehr."

Lothar de Maiziere: "Und ich muss auch noch heute sagen, der Text der ersten Strophe 'Deutschland, einig Vaterland', diesen Gedanken der Einheit Deutschlands hat ja die DDR erst in den 60er Jahren letztendlich mit der 68er Verfassung, mit der neuen Verfassung aufgegeben. Bis dahin war es ja noch eine Art Verfassungsauftrag."

Lothar de Maiziere, letzter Ministerpräsident der DDR.
Am 21. September 1971 streicht das SED-Politbüro das Wort Deutsch aus dem Namen des traditionsreichen "Deutschlandsender". Der meldet sich ab 15. November als "Stimme der DDR" - und ohne Hymnentext.

"Stimme der DDR. Es ist 4 Uhr. "

Nur der Auslandssender RBI sendet weiter den Hymnentext. Am 01. Januar 1987 entfällt dann auch die textlose Hymne im DDR-Rundfunk. Für zwei Jahre.

Rainer Otto: "Ich habe es nicht erlebt, dass irgendwo gesagt wurde: Also ja nicht mitsingen oder so was. Ich hab es nicht erlebt."

Amos: "Also ich habe sämtliche Politbüro-Protokolle, Sekretariats-Protokolle, die Nachlässe Ulbricht, das, was vom Büro Honecker zugänglich ist, Albert Norden, der der Ideologiechef gewesen ist, Kurt Hager, also alles, was so in dem Umfeld Politbüro und politisch Verantwortliche, da habe ich nichts Schriftliches gefunden."

Doktor Heike Amos, Historikerin. Ein förmlicher Beschluss der SED-Führung über das Nichtsingen des Hymnentextes ist bis heute nicht aufgetaucht. Gibt es wirklich keinen? Oder wurde die Absetzung des Hymnentextes von oberster Stelle direkt per Anweisung geregelt? Wenn ja, weshalb?

Rainer Otto: "Nun hätte man die Zeile ändern können, da hätte es Riesendiskussionen gegeben. Man hätte einen neuen Text machen ... Soweit ich weiß, gab es den Gedanken, einen neuen Text machen zu lassen oder eine neue Hymne. Aber da wäre natürlich wieder die Diskussion losgegangen: Warum denn die alte nicht mehr? Also hat man's einfach gelassen."

Am 13. Mai 1988 erhält der West-Berliner Dietmar Püschel ein Antwortschreiben vom Staatsrat der DDR. Vier Zeilen, kein Aktenzeichenvermerk.

"Sehr geehrter Herr Püschel!
Auf Ihr an den Vorsitzenden des Staatesrates der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Schreiben vom 04. Mai teilen wir Ihnen mit, dass das von Ihnen unterbreitete Vorhaben nicht unsere Unterstützung und Zustimmung findet."


Der West-Berliner hatte Honecker eine Muster-Schallplatte mit einem Hymnen-Mix-Vorschlag geschickt. Den ersten vier Zeilen der ersten Strophe der DDR-Hymne ließ er die ersten vier Zeilen der dritten Strophe der BRD-Hymne folgen. Und: Statt "Hymne" setzte Püschel die Bezeichnung "DDBR" über den Text - Deutsche Demokratische Bundesrepublik.

Kapitel 5: Die Wiedereinführung

Berlin Ost. 29. November 1989.
Vorlage bei Ministerpräsident Modrow.

Keller: "Je älter man wurde, desto mehr hat man ja danach gefragt. Und es ist ja kein Zufall, dass eine meiner ersten Reaktionen, 1989 in Verantwortung gekommen, gewesen ist, den Antrag zu stellen, dass sie wieder gesungen wird."

Dietmar Keller ist den elften Tag Kulturminister in der Modrow-Regierung. Eine Reaktion der anderen Minister in der Regierung Modrow auf die Vorlage bleibt aus.

"Nein, es erschien ja gar nicht in der Tagesordnung! Das heißt, die anderen Kollegen des Ministerrats wussten ja gar nicht, dass so eine Vorlage eingereicht worden ist."

Die Vorlage liegt Modrow seit dem 29. November auf dem Tisch. Keine Reaktion.

Keller: "Fakt ist, dass ich mit dieser Vorlage in ein Wespennest gestochen habe! Zunächst mal hat sie 14 Tage im Büro bei Modrow gelegen. Als ich dann nachgefragt habe, wurde mir mitgeteilt, diese Vorlage kann im Ministerrat nicht behandelt werden, da der Ministerrat die Entscheidung getroffen hat, dass es keine Einflussnahme auf die Generalintendanz von Rundfunk und Fernsehen geben kann."

Für Kulturminister Keller "eine wunderbare diplomatische Antwort":

"Nein, mich hat auch nicht Modrow informiert, mich hat Harri Möbius, Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten, informiert, dass die Vorlage nicht behandelt wird."

Reagierte Keller mit seiner Hymnentext-Vorlage auf Nachrichten aus Leipzig? Dort ist auf Schildern die vierte Zeile des ungesungenen Textes aufgetaucht. Ende November dann Sprechchöre.

"Deutschland, einig Vaterland."
Keller: "Das hat bei mir keine Rolle gespielt!"

Am 29. November trifft sich Keller mit Künstlern, die seit Jahren nicht mehr im Kulturministerium gewesen sind. Stefan Heym, Christa Wolf, Stefan Hermlin und andere prominente Intellektuelle.

"Und dort bin ich etwas in Zugzwang gekommen. Dort kam die Forderung nach Einreise von Biermann. Das stand bei mir noch nicht auf dem Programm, das stand bei mir erst in 14 Tagen etwa auf meinem Programm. Ich wollte erst eine Reihe anderer Sachen abarbeiten."

Am 1. Dezember 1989 wird Biermann, der ausgebürgerte Liedermacher, mit Keller sprechen und eine internationale Pressekonferenz geben.

"Aber bevor ich den Biermann eingeladen habe, habe ich noch die Vorlage ausgearbeitet, weil ich nicht wollte, dass irgend einer sagt, mir sagt: Der Biermann hat den so bequatscht in dem Gespräch, dass er anschließend diese Vorlage einreicht."

Es werde keine Entscheidung eines staatlichen Organs zur Hymne geben, hieß es aus dem Büro Modrow. Aber es gibt sie doch, später.

4. Januar 1990. Im Protokoll der 8. Sitzung des Ministerrates ist unter Punkt 21 "Staatshymne der DDR" vermerkt. "Berichterstatter: Minister für Kultur", Dietmar Keller. Die von Ministerpräsident Modrow geleitete Runde nimmt "die Vorlage ( ... ) zur Kenntnis" und beschließt: "Rundfunk und Fernsehen sind zu informieren, dass zum Sendeschluss die Staatshymne der DDR wieder mit dem Text von Johannes R. Becher auszustrahlen ist. ( ... ) Termin: sofort."

Am 08.01.1990 ist die Hymne im DDR-Rundfunk wieder mit Bechers Text zu hören.

Kapitel 6: Verhandlungen mit Ausklang

Berlin Ost, 06. Juli 1990.
Beginn der Verhandlungen über den Einigungsvertrag.

Lothar de Maiziere: "Das war ein Teil der ersten Verhandlungen zum ersten Einigungsvertrag, wo ich vorgeschlagen habe, dass wir dem Lied der Deutschen, also dem Haydn, die erste Strophe der DDR-Hymne als zweite Strophe beifügen sollten."

Lothar de Maiziere, letzter Ministerpräsident der DDR.

"Das wurde natürlich abgelehnt. Aber es war etwas anderes, was mich dazu bewogen hat, dies zu sagen: Ich war der Meinung, wir müssen neben der juristischen Einheitlichkeit und der Währung und der Wirtschaft, wir müssen Dinge tun, symbolische Handlungen, die die Einheit befördern."

Kohl war "empört, als (er) ... davon hörte." Der Vorschlag einer neuen Nationalhymne hat bei den Verhandlungen keine Chance, wird vom Tisch gefegt.

Lothar de Maiziere: "Na ja, das Hauptargument hieß Artikel 23, heißt Beitritt und nicht Neugründung eines Staates."

Die DDR befindet sich in Auflösung, die BRD ist stabil. Hymne West, Hymne Ost.
Lothar de Maiziere (singt BRD-Text zur DDR-Musik): "Einigkeit und Recht und Freiheit - das geht auch."

Text West auf Melodie Ost.

Ministerpräsident de Maiziere macht noch andere Vorschläge, die unter den Tisch fallen.

Lothar de Maiziere: "Gut, aber das ist Geschichte. Aber ich glaube, dass es dem Prozess gut getan hätte, wenn wir symbolische Handlungen eingebaut hätten, die auch den Altbundesdeutschen klar gemacht hätten, es gibt einen Neuanfang, und zwar nicht nur für die Ostdeutschen, sondern für alle."

Am Nachmittag des 23. August 1990 beantragte de Maiziere eine Sondersitzung der Volkskammer:

"Einziger Tagesordnungspunkt: Bestimmung des Zeitpunkts der deutschen Einheit."

Um 2 Uhr 57 Minuten liegt das Ergebnis der Abstimmung vor: Mehrheit für sofortigen Beitritt.

Als die Nationalhymne der DDR zum letzten Mal in der Volkskammer erklang, so erinnert sich Lothar de Maiziere, geschah es nicht organisiert:

"Das zu singen? Nee, so etwas geschieht spontan. So wie die Bundestags-Abgeordneten am 9. November, als die Mauer gefallen war, plötzlich nachts anfingen, das Deutschlandlied zu singen."

Der Gesang in der Volkskammer hatte einen eigenen Anklang.

Lothar de Maiziere: "Aber es war, ich will nicht sagen, dass es ein geordneter Gesang war, aber die Mehrheit steuerte beim Gesang eben auf 'Deutschland, einig Vaterland' zu. Das war der Hintergrund. Also nicht mehr 'der eigenen Kraft vertrauend'." (lacht)

Nachspiel

Die Hymne der DDR entstand in nur knapp vier Wochen. Anders als in der BRD das Deutschlandlied, wurde die DDR-Hymne vom Parlament beschlossen. Dennoch erlangte sie nie Gesetzeskraft. Der Text der Hymne wurde nie verboten, aber offiziell fast 20 Jahre lang nicht gesungen. Die vierte Zeile der ersten Strophe wurde ein Ruf der Wende.

Dwars: "Hm. Der meistzitierte Vers. Becher ist der meistzitierte deutsche Autor der Wende gewesen. (lacht) Und das schöne ist ja, dass Becher selbst ein Gedicht geschrieben hat: Er wünscht sich, als unbekanntes Lied ins Volk zu gehen. 'Namenloses Lied' heißt das Gedicht. Ist Wahnsinn. Mal schauen, ob es jetzt hier drin ist. Und das hat sich jetzt erfüllt, ne."(lacht)

Jens-Fietje Dwars, Becher-Biograf.

" ... als namenloses Lied
durchs Volk zu gehen."

Johannes R. Becher, Dichter der Nationalhymne der DDR.

Am 23. November 1995 erklang die DDR-Hymne zum letzten Mal bei einem offiziellen Anlass. Die Kapelle der Polizeiakademie von Porto Alegre spielte sie freudvoll dem Bundespräsidenten auf. Der besuchte gerade die südbrasilianische Stadt. Und ertrug es gelassen.
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