Start-up-Hauptstadt Berlin

Auf der Suche nach dem nächsten großen Ding

Blick auf den Balkon eines Berliner Startups mit der Kulisse des Alexanderplatzes
Arbeit oder Urlaub? Auf der Terrasse eines Berliner Start-ups © dpa / Gregor Fischer
Von Wolf-Sören Treusch  · 20.04.2018
Vorbild Silicon Valley: Berlin schickt sich an, Start-up-Städten wie London oder Tel Aviv den Rang abzulaufen. Schon heute ist die Szene ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Stadt. Doch diese nutzt das Potenzial zu wenig.
Schärfer könnte der Kontrast in Berlin-Siemensstadt kaum sein. Draußen vor den Toren des Dynamowerks hält eine Gruppe von Arbeitern eine Mahnwache ab für den Erhalt ihrer Jobs. Drinnen in einer der alten Industriehallen präsentieren junge Existenzgründer Projektideen der Digitalwirtschaft. Draußen stößt die schöne neue Arbeitswelt drinnen auf Unverständnis.
Siemens-Arbeiter: "Das ist noch die Frage, ob die uns wirklich ablösen können. Ich habe noch keinen digitalen Motor gesehen, der Strom erzeugt oder Gas komprimiert. Wenn Sie mir den zeigen, dann können wir uns gerne darüber unterhalten, dass man so was digital machen kann."

Der erste Bio-Insekten-Snack

Drinnen strahlen die jungen Talente um die Wette, wenn sie von ihren innovativen Start-up-Ideen für draußen erzählen.
"Ich bin Diana und eine der Gründerinnen von 'Bearprotein', wir haben den ersten Bio-Insekten-Snack europaweit entwickelt. Und der heißt 'Instinct'. Wir verwenden als spezielle Zutat die Kurzflügelgrille, und sie liefert uns das ganze Eisen, Vitamin B12 und natürlich alle essenziellen Aminosäuren, und ist super nachhaltig auch und ressourcenschonend in der Aufzucht."
"Ich heiße Andrew, ich bin einer der Mitgründer von 'Book One', wir sind eine Reisekostenabrechnungs-App für Geschäftsleute. Zielgruppe sind Unternehmen mit neun Angestellten oder weniger, und wir sind der Meinung, durch eine simple Digitalisierung denen ein besseres Produkt anbieten zu können."
Auf Veranstaltungen wie dieser, dem Startup Camp, das vergangene Woche im Siemens Conference Center stattfand, suchen Gründer das nächste große Ding, "the next big thing". Vorbild Zalando, Europas größter Online-Modehändler mit Firmensitz in Berlin, der 2008 als Start-up begann und im vergangenen Jahr einen Umsatz von knapp 4,5 Milliarden Euro erwirtschaftete.

Alle 20 Stunden eine Neugründung

Drei essenzielle Bedingungen muss ein potenziell erfolgreiches Start-up erfüllen: Es muss jung sein, die Idee innovativ und das Geschäftsmodell skalierbar, das heißt große Nachfrage erzeugen und schnell wachsen können. Berlin ist für Start-ups ein gutes Pflaster, bestätigt Florian Nöll, Gründer und Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Startups:
"Berlin ist die Start-up-Hauptstadt in Deutschland, agiert auf Augenhöhe im europäischen Kontext mit London, mit Paris, wir zählen hier bis zu 3.000 Start-ups in der Stadt, die gemeinsam mit ehemaligen Start-ups mittlerweile mehr als 100.000 Menschen beschäftigen, das ist ganz klar jetzt schon einer der wichtigsten Wirtschaftszweige und die große Chance für die Stadt perspektivisch."
Die Investitionsbank Berlin ermittelte, dass in der Hauptstadt alle zwanzig Stunden ein neues Internetunternehmen gegründet wird. Florian Nöll ist überzeugt: Damit Berlin weiter ganz vorne mitspielt, braucht es mehr Wettbewerb. Und mehr finanzkräftige Investoren. Sein Maßstab: das Mekka der IT- und High-Tech-Branche, das Silicon Valley.
"Wenn es in Silicon Valley eine gute Idee gibt, dann gibt es oft zehn Unternehmen, die damit starten, auch mit viel Kapitaleinsatz, wir erhoffen uns, dass wir auch so viel Kapital zur Verfügung haben, dass dann auch mal zwei oder drei Mal die gleiche Geschäftsidee finanziert werden kann, ja, es gab das bei den Start-ups, die sich mit Essenslieferungen beschäftigen, es gibt das bei den Start-ups, die haushaltsnahe Dienstleistungen vermitteln, es gab auch schon zu studiVZ-Zeiten zwei weitere studentische Netzwerke in Deutschland, die sich dann nicht durchgesetzt haben, ich bin davon überzeugt, dass der Wettbewerb immer dazu führt, dass derjenige, der sich durchsetzt, dann auch international deutlich wettbewerbsfähiger ist."

Nur jedes zweite Start-up überlebt

Wie weit ein solcher Konkurrenzkampf auf Kosten der Mitarbeiter ausgetragen wird, sei dahingestellt. Unterm Strich ist klar: Nur jedes zweite Start-up überlebt, nur jedes zehnte wird ein richtiger Erfolg. Belastbare Zahlen dazu gibt es nicht, aber alle Experten verweisen auf diese Faustformel. Auch Sascha Schubert, der ein Mal im Jahr das Startup Camp in Berlin organisiert. Vor langer Zeit begab auch er sich ins Haifischbecken, gründete ein Soziales Netzwerk für Frauen zu einem Zeitpunkt, als alle Soziale Netzwerke gründeten, und scheiterte.
"Wir waren in einem Markt unterwegs, der extrem viel Aufmerksamkeit hatte, deswegen auch extrem viel Geld, aber auch extrem viele Mitbewerber, Fehler Nummer 1: Wir waren so ne Gründung, die eigentlich gar nicht unsere war, also so ne Copycat-Idee im Grunde genommen. Fehler 2 ist: Wir sind relativ spät mit der Idee raus gegangen zu Investoren, viele, die dann in den Markt gestartet sind, hatten ihre Runden schon abgeschlossen, ihre Investitionsrunden, und das Dritte ist: Man sollte auf die Qualität der Leute achten, also wir hatten damals keinen echten CTO im Team, also keinen Technischen Leiter, und haben dann versucht, im Wege des 'doings' Programmieren selbst beizubringen, und das hat nicht so schnell geklappt wie es hätte klappen müssen, um dann erfolgreich zu sein."
"Also ganz klar ist die Start-up-Szene People Business, das heißt es ist absolut notwendig, dass man ständig draußen ist, dass man auf den Events ist, dass man Teams kennen lernt, dass man andere Investoren kennen lernt, …"

Doppelt so viel Risikokapital wie 2016

Tanja Emmerling ist Investment-Managerin mit Leib und Seele. Ihr Arbeitgeber: der High-Tech Gründerfonds, ein Fonds, der staatliche Fördermittel und Gelder aus der Privatwirtschaft zusammenbringt und damit schon knapp 500 Start-ups aus der High-Tech-Branche auf den Weg gebracht hat. Der Fonds gehört zu den aktivsten Risikokapitalgebern in Deutschland.
"Von Geldern, die in unser Portfolio extern investiert worden sind, sind es schon 1,6 Milliarden, das ist ne ordentliche Summe, auch gut 600 Millionen, die aus dem Ausland kommen, das heißt es macht deutlich Sinn, da entsprechende Präsenz auch nach außen zu haben."
Deshalb hat der High-Tech Gründerfonds, Firmensitz Bonn, soeben auch eine Dependance in Berlin eröffnet. Endlich, sagt Tanja Emmerling, die den Standort leitet.
"Wenn internationale Investoren auf dem Durchflug sind, dann kommen die nicht eben mal zu uns nach Bonn, sondern eben zu uns nach Berlin, und das ist einfach von der Kontaktdichte, um das zu organisieren, viel einfacher, wenn wir hier einen Anlaufpunkt haben, dann ist das mal eben schnell nebenbei, wir machen so ein Drittel der Deals in Berlin, und hier weiter auszubauen, ist das ein ganz guter Startpunkt."
Laut einer Studie der Beratungsgesellschaft Ernst & Young pumpten Kapitalgeber im vergangenen Jahr 4,3 Milliarden Euro in die deutsche Gründerszene. Fast doppelt so viel wie 2016. Spitzenreiter ist Berlin. 3 Milliarden Euro flossen hierher. Von den zehn erfolgreichsten Start-ups kommen allein sechs aus der Hauptstadt. Vorne liegt der Essenslieferdienst ‚Delivery Hero’, der gut 800 Millionen Euro Wagniskapital erhielt.
"Wir sitzen alle frei, alle auf der freien Fläche, aber es gibt einen Management-Meeting-Raum, und der heißt 'Shark Elly', das haben sich die Mitarbeiter gewünscht, warum auch immer."
Ortstermin in einem ehemaligen Bankenhochhaus in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Wo früher die Angestellten Kreditformulare auf Papier bearbeiteten, sitzen heute junge Techies an langen Holztischen und tippen in ihre Laptops. Auf zwei Stockwerken residiert die Start-up-Schmiede Finleap. Finleap entwickelt gerade einen Fintech-Hub. Fintech, das ist der Sammelbegriff für technologisch weiterentwickelte Finanzinnovationen, Hub heißt so viel wie Knotenpunkt, in der Start-up-Szene der Ort, an dem Gründer zusammenkommen und sich regelmäßig austauschen. In der City-West entsteht jedoch nicht irgendein Hub, schwärmt Finleap-Gründer Ramin Niroumand.
"Hier entsteht der größte Fintech-Hub Europas, auf fast 11.000 Quadratmetern haben wir hier im ehemaligen Gebäude oder der ehemaligen Zentrale der Berliner Bank diesen Fintech-Hub gegründet, wir nennen das "professional co-working", also es geht hier nicht darum, ein Bälleparadies für Erwachsene zu schaffen, sondern wirklich darum, das gute agile Arbeiten mit dem Professionellen zu verbinden, alle Firmen, die wir bauen, sind entweder aus dem Bankenwesen, Versicherungen oder der Vermögensverwaltung."

Kritik an "Überheblichkeit der Szene"

Ramin Niroumand ist gerade mal 30 Jahre alt und so etwas wie der Geburtshelfer der Fintech-Branche. Mit Finleap, vor vier Jahren selbst ein Start-up, hat er ein Baukastensystem entwickelt, mit dessen Hilfe er weitere Finanz-Start-ups gründet. Fünfzehn sind es bis jetzt, Gesamtzahl der Mitarbeiter: 600. Junge Firmen, die per Mausklick Geld im Ausland anlegen oder digital einen Kreditantrag bearbeiten. Die Teams kommen aus aller Welt.
"Wenn Sie ein Start-up gründen, gibt es unheimlich viele Risiken. Das größte Risiko ist: Sie haben das falsche Team. Wir bringen Leute zusammen, die würden sich nie in der Bar treffen, die sind aber das perfekte Gründerpaar für Firmen. Wir haben über 1.200 Bewerbungen von der gesamten Welt, wir sind in brasilianischen Blogs geführt als derjenige Arbeitgeber, der am besten jemanden durch den Visa-Prozess führt, weil wir natürlich sehr stark mit der Ausländerbehörde zusammenarbeiten, und wir investieren. Wir investieren mindestens ne Million Euro in die jeweiligen Unternehmen, teilweise auch mehr, und wenn Sie morgen ein Vermögensverwaltendes Unternehmen bauen möchten mit einem hohen Technologieanspruch, dann finden Sie einen Großteil der Teile schon vorhanden, das heißt das, was wir zur Verfügung stellen, wird immer mehr."
Damit die Fintech-Szene in Berlin weiter boomt und innovativ bleibt, entsteht nun also der Hub. Doch Ramin Niroumand wünscht sich dafür mehr Unterstützung, sonst könne der Boom bald vorbei sein, sagt er. Berlin und ihre Gründerszene müssten aufpassen, dass sie nicht an ihrer eigenen Überheblichkeit scheitern, warnte er vor kurzem in einem Zeitungsinterview. Auch der Vorsitzende des Bundesverbandes Deutsche Startups, Florian Nöll, kritisiert die Berliner Landesregierung.
"Berlin ist auf Platz 78 der Städte in Deutschland bei der Internetgeschwindigkeit, das steht einer Digitalhauptstadt überhaupt nicht gut, und wir sehen keine Konzepte, Berlin ist tatsächlich eines der letzten Bundesländer in Deutschland ohne eine politische digitale Agenda."
Berlin schmücke sich mit den Erfolgen der Start-ups, tue aber nichts dafür, dass es so bliebe. In der Stadt gebe es zum Beispiel viel zu wenige freie Gewerbeflächen.
"Wir haben eine Verwaltung, die immer noch nicht in Englisch kommuniziert, dazu muss man wissen: jeder zweite Berliner Start-up-Mitarbeiter kommt heute nicht mehr aus Deutschland, und all das sind natürlich Faktoren, die am Ende dazu beitragen können, dass wir deutlich schlechtere Rahmenbedingungen vorfinden als unsere Kollegen in London, in Paris und in den USA vielleicht sowieso und diese Entwicklung dann auch nicht Gott gegeben ist, dass sie so weitergeht."

Experimentierfeld der Gesellschaft

"Start-up ist ja eigentlich ne Kulturfrage und weniger ne Businesspraxis, das ist auch so dieser ganze Lifestyle, der darum geht, aber natürlich, wenn ich ne neue Unternehmung gründe, dann muss ich irgendetwas anders machen als die etablierten Player, entweder mache ich es schneller, besser, günstiger, oder ich mache halt grundlegend was Neues."
Michael Bohmeyer beschloss, etwas grundlegend Neues zu wagen. Mit 16 gründete er seine ersten Internet-Start-ups, aber erst mit 29 startete er die Initiative, die sein Leben völlig umkrempelte: das Grundeinkommensprojekt "Mein Grundeinkommen". Per Crowdfunding im Internet sammelt er Geld, wenn 12.000 Euro zusammen sind, werden sie verlost, und der Gewinner erhält ein Jahr lang ein Bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von 1.000 Euro im Monat. Ohne, dass er etwas dafür tun muss. Eben bedingungslos. Aus dem Start-up-Projekt von 2014 ist ein Verein geworden, der die Gesellschaft verändern will.
"Wir haben ja hier ne Mission, es geht ja nicht darum, möglichst kosteneffizient das beste Produkt zu bauen, sondern wir sind ja auch Vorreiter im Thema 'new work', also 'wie wollen wir arbeiten', unser Verein ist mit 25 Leuten, die hier neue Arbeitsmethoden – hierarchiefrei, selbstbestimmte Gehälter und solche Sachen – ausprobieren, auch ein Experimentierfeld für die Gesellschaft, und es ist ein bisschen teurer, als man es jetzt im Start-up ganz knapp kalkulieren müsste.
Das Kuriose: die Kriterien, die für ein Startup der High-Tech-Branche gelten – jung, innovativ, skalierbar – treffen auch auf das Grundeinkommensprojekt zu. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Wagniskapitalgeber keine Investoren sind, die am Ende eine fette Rendite erwarten, sondern Internet-User, die von der Idee so begeistert sind, dass sie gern spenden. Anfangs ein paar tausend Euro, mittlerweile eine Viertelmillion. Pro Monat.
"Wir hatten eine sehr euphorische, sehr ungeplante, sehr chaotische Anfangsphase, wo uns die Leute eigentlich die Idee aus den Händen gerissen haben und wir gar nicht hinterherkamen, sozusagen die Wünsche zu befriedigen, so sollte es sein, und dann nach zwei Jahren kam auch mal so ne Phase: 'uiuiui, wo wollen wir eigentlich hin? Warum machen wir das? Wie machen wir das am geschicktesten, was kostet das'? Und das ist eine heikle Phase, da kommt man letztendlich von der Start-up-Phase in die der dauerhaften Institution."

Berlin ist die "capital of cool"

Oder eben nicht, weil jedes zweite Start-up scheitert. Spätestens dann denken viele der Mitarbeiter darüber nach, ob der Preis, den sie für zu wenig Urlaub, zu geringen Lohn und zu hohen Leistungsdruck gezahlt haben, die Anstrengung, an einem vermeintlich innovativen Produkt mitgewirkt zu haben, wirklich wert war. Michael Bohmeyer jedenfalls hat es geschafft, sein Start-up, das Grundeinkommensprojekt, dauerhaft zu institutionalisieren, wie er es nennt. Mit dem Ergebnis, dass aus der Anfangsphase nur noch einer dabei ist.
"Da müssen andere Leute vielleicht her, nicht mehr die verrückten Träumer und Spinner, sondern Leute, die auch eine Struktur mitbringen, und gleichzeitig müssen es auch Leute sein, die noch neue, innovative Ideen haben, und dann vielleicht auch andere Manager, andere Chefs oder gar keine Chefs mehr, wie in unserem Fall, und dann zeigt sich erst, ob man überlebt."
Berlin ist die Start-up-Hauptstadt Deutschlands. Der Arbeitsmarkt boomt wie lange nicht, verantwortlich dafür ist vor allem die Digitalwirtschaft. Milliardensummen werden umgesetzt, die Tech-Firmen sind ein enormer Wachstumsmotor. Die britische Zeitung "Times" findet, Berlin sei deswegen gar "the capital of cool".
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