Starke Leidenschaften

Die Zerstörungskraft starker Leidenschaften war schon immer ein Lieblingsthema von Adolf Muschg. In der "Kinderhochzeit" nimmt der 74-jährige Schweizer Autor und Literaturwissenschaftler das Thema in epischer Breite wieder auf - in einem solchem Ausmaß, dass man oft den Überblick verliert.
Am Anfang steht ein Foto wie aus dem Märchen. Es zeigt einen Festumzug aus dem Jahre 1949: In einer Kutsche zwei Neunjährige, als Braut und Bräutigam verkleidet, Imogen, die Enkelin des Schweizer Aluminiumfabrikanten Bühler und Iring, ein armes Flüchtlingskind.

50 Jahre später reist der junge Historiker Klaus Marbach in den Ort des Geschehens, eine südbadische Kleinstadt, um dort die Verstrickungen der Schweizer Industrie mit der Naziherrschaft zu ergründen. Im Zentrum seiner Nachforschungen steht jene Imogen, die unterdessen zur Alleinerbin der schwerreichen Dynastie wurde.

Am Ende ist die Frau, die er dabei kennen- und lieben lernte, tot, auf eigenen Wunsch von ihm erschossen, und er, zunächst des Mordes verdächtigt, wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Dazwischen liegen fast 600 Seiten politische Geschichte, Liebesdramen, erotische Eskapaden und immer wieder spannend gemachte kriminalistische Einsprengsel.

Doch der Roman ist alles andere als ein Kriminalroman. Was über die Verbindungen zwischen Nazis und Industrie ans Tageslicht kommt, taugt aber auch nicht für einen Schlüssel- oder Enthüllungsroman. Denn keiner der Protagonisten war ein richtiger Verbrecher, keiner tat sich durch nennenswerten Widerstand hervor. Wie so häufig, schwammen alle mit dem Strom, ohne die ganz große Schuld auf sich zu laden.

Vor dem Hintergrund der deutsch-schweizerischen Vergangenheit, vor der kulturkritisch beleuchteten Gegenwart - Stichwort: Überfluss- und Wissensgesellschaft - geht es Muschg um ein scheinbar ganz altmodisches Thema, dem er durchaus neue Seiten abgewinnt: Sein Roman handelt von starken Frauen und (nicht nur) ehelicher Treue, von Krisen der Verbindlichkeit und von ihren mannigfachen Spielarten ebenso wie ihren unterschiedlichen Beweggründen.

Imogens Großmutter Antoinette zum Beispiel. Sie bleibt bei dem Industriemagnaten Bühler, dessen fortgesetzte Seitensprünge sie mit eigenen beantwortet, weil ihr das Wirtschaftsimperium selbstbestimmte Wege und einen Sissi-gleichen Musenhof ermöglicht. Ihre Tochter Constanze wählt, unstandesgemäß, die große Liebe ihres Lebens. Obwohl auch dieser Mann schnell untreu wird, bleibt sie, von anderen getröstet, in ihr Gefühl verliebt und bis zum Tod des Mannes bei ihm.

Imogen schließlich kennt nichts anderes als die Treue. Es gibt keinen anderen Mann in ihrem Leben als den einstigen Flüchtlingsjungen, für den sie sich schon in ihrer Kindheit stark machte. Doch gerade die Unbedingtheit ihrer Treue scheint der Grund für seine dauerhafte Flucht. Selbstquälerisch hängt sie, die dauerhaft umschwärmt wird, an ihrer Tugend - frei nach dem Goetheschen Motto: "Wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an?".

So spricht Philine, die Verführerin, zu Wilhelm Meister, nachdem er sie verschmäht hat. Was aussieht wie die reine Selbstlosigkeit - ist das in Wahrheit nicht auch eine, wenngleich subtile Art der Machtausübung? Denn diese Art von Liebe legt ihr Objekt in Fesseln. Man entgeht ihr nicht.

Die Zerstörungskraft starker Leidenschaften war schon immer ein Lieblingsthema von Adolf Muschg. In der "Kinderhochzeit" nimmt er es in epischer Breite wieder auf, in solchem Ausmaß, dass man oft den Überblick verliert.

Neben den sieben einstigen Verehrern Imogens mit ihren detailreich geschilderten Herkunfts- und Familiengeschichten, dem Dienstpersonal aus der Bühlerschen Villa sowie Nebenfiguren - die streckenweise die Rolle von handlungstragenden Protagonisten übernehmen wie der Görlitzer Gelehrte Balthasar Nicht -, neben Ausflügen zu Theateraufführungen und Ritualen einer religiösen Sekte, begegnen einem immer wieder historische und literarische Leitfiguren wie der deutsche Mystiker Jakob Boehme, Quirinus Kuhlmann, Shakespeare und viele andere aus dem Repertoire des gebildeten Abendländers.

Vieles ist dabei kunstvoll arrangiert, aber am Ende auch auffällig künstlich kalkuliert. Viele Episoden lesen sich anregend, kurzweilig, tiefgründig, manches ist verschroben komisch und zum Lachen. Irgendwie aber kommt man sich bei der Lektüre vor wie ein Leistungssportler: noch höher, noch weiter hinaus und hinauf.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Adolf Muschg: Kinderhochzeit
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008,
580 Seiten, 24,80 Euro