"Stark, überzeugend, sinnlich, kraftvoll"

Moderation: Dieter Kassel |
Vor 60 Jahren erlangte das Land seine politische Unabhängigkeit. Seine Literatur gibt es aber schon 3000 Jahre, meint der deutsch-bulgarische Schriftsteller und Weltreisende Ilija Trojanow, der auch einige Jahre in Indien gelebt hat. Er kritisierte, dass international nur die auf Englisch publizierten indischen Autoren wahrgenommen würden, dabei sei das Spektrum viel breiter.
Dieter Kassel: Am 15. August 1947 wurden aus der britischen Kronkolonie Indien zwei unabhängige Staaten. Pakistan und Indien. Letzteres ist inzwischen die größte Demokratie der Welt, so nennt sich Indien auch gerne selber. Es ist, wie man gerade auch in Deutschland weiß, ein echter Global Player, was Technik, IT und Kommunikation angeht. Es ist aber auch seit einigen Jahren ein Global Player im Bereich der Literatur. Und vor allen Dingen darüber wollen wir jetzt mit dem Autor und Weltreisenden Ilija Trojanow reden, der sechs Jahre in Indien gelebt hat und vielen anderen Orten der Welt, und jetzt gerade mal wieder in Wien ist. Guten Morgen, Herr Trojanow!

Ilija Trojanow: Guten Morgen, ich grüße Sie!

Dieter Kassel: Was macht denn gerade die indische Literatur seit einigen Jahren weltweit so erfolgreich?

Trojanow: Na ja, wie Sie im Vorspann erwähnt haben, die hatten ganz viel Zeit zu üben. Also, die Schriftlichkeit in Indien gibt es, konservativ gesagt, schon 3000 Jahre, und insofern gibt es eine unglaubliche Tradition, die immer wieder von neuen Generationen aufgefangen wird, umspielt wird, es gibt eine ganz große, was man so im Fach Deutsch Intertextualität nennt, das heißt, indische Autoren greifen sehr gerne auf ihre Legenden, ihre Geschichten, ihre Mythen zurück, und die sind dermaßen, ja, einfach stark, überzeugend, sinnlich, kraftvoll, dass sie schon tausende Jahre am Leben erhalten worden sind.

Kassel: Wie repräsentativ ist denn die indische Literatur, die auch ins Deutsche übersetzt wird, die in englischer Sprache in den USA, in Europa erscheint, für die indische Literatur? Denn das sind ja in der Regel Werke, die auch schon im Original auf Englisch verfasst wurden.

Trojanow: Ja, fast nur. Also, wenn wir reden über den großen Erfolg indischer Literatur, reden wir ausschließlich über Bücher, die auf Englisch erschienen sind. Der Einzige, der es zu einem gewissen Weltruhm wegen des Nobelpreises geschafft hat, war der Tagore, der hat teilweise auf Bengali geschrieben. Aber ansonsten sind das Autoren, die auf Englisch schreiben und die sind natürlich überhaupt nicht repräsentativ, weil sie überwiegend mit den westlichen Erzählmodalitäten, mit europäischer, nordamerikanischer Kultur und Literatur sehr vertraut sind, d.h. es sind wirklich literarische Bewohner des Dazwischens. Eine eher eigene indische Literatur findet sich in den anderen Sprachen, und da stellt sich dann die große Übersetzungsfrage, Übersetzung im Sinne der Sprache. Wer kann schon in Deutschland aus dem Malayalam oder aus dem Kannada übersetzen? Zweitens natürlich auch die kulturelle Übersetzung – es wimmelt dann vor irgendwelchen kulturellen Hinweisen, die man dann wirklich mit Fußnoten oder mit einem Anhang erklären müsste.

Kassel: Gibt’s das Problem nicht auch in Indien selbst? Die Tatsache, dass 60 Jahre nach Ende der Kolonialzeit Englisch noch so wichtig ist, inzwischen auch eine der 22 anerkannten Landessprachen neben, ich glaube, 300, 400 Regionalsprachen, ist ja, dass auch die Inder natürlich in ihrem Land Probleme haben mit der Vielsprachigkeit. Muss da nicht zum Teil regionale Literatur auch innerhalb Indiens übersetzt werden?

Trojanow: Ja, das muss sie. Und dieses Problem ist auch seit einigen Jahren erkannt worden. Es gibt einen Verlag, der ganz intensiv wunderbare Arbeit macht, die Bücher innerhalb Indiens zu übersetzen, zum Beispiel aus den südindischen Sprachen, die ja aus einer ganz anderen Sprachfamilie kommen, ins Hindi, ins Englische. Der wichtigste Literaturpreis in Indien besteht darin, dass das Werk dann auch übersetzt wird in die offiziellen Sprachen. Es wird einiges dafür getan, weil man festgestellt hat, dass es eigentlich keine gesamtindische Literatur im Sinne der Rezeption gibt. Ein gebildeter Inder kennt zwar die wichtigen Werke der Sprachen, die er beherrscht, und das sind meistens zwei, drei, vier der 16 Sprachen, aber darüber hinaus sehr wenig.

Kassel: Heißt das, was Sie gerade jetzt zum Schluss gesagt haben, dass das auch innerhalb Indiens übersetzt wird, dass es vielleicht mehr landesweite Aufmerksamkeit für einige Schriftsteller gibt, dass sich auch was ändert? Ich hatte früher immer den Eindruck, bei dem, was ich gehört habe, dass auch in Indien es so eine gewisse Hochnäsigkeit gab und dass dadurch die englischsprachigen Autoren auch im Land ernster genommen wurden von der Hochkultur als die anderen.

Trojanow: Das ist ein Phänomen, das, glaube ich, beispielhaft sich formuliert hat, als Rushdie eine, und zwar genau vor zehn Jahren, als man die 50 Jahre Unabhängigkeit gefeiert hat, hat er eine große Anthologie herausgebracht, und dann hat Salman Rushdie formuliert, na ja, es sind fast nur englischsprachige Autoren drin, weil die, die in den anderen Sprachen schreiben, die taugen eh nichts. Und das ist nicht nur seine Meinung, das ist eine weit verbreitete Meinung unter der intellektuellen Oberschicht, die natürlich durch die Kolonialzeit ein bisschen auch den Dünkel der Kolonialherren übernommen hat gegenüber den in "primitiveren" Einheimischen. Und das ist natürlich extrem kritisiert worden in der Diskussion in Indien in den letzten zwei, drei Jahrzehnten und da wird einiges dafür getan, noch nicht genug, aber einiges, dass das überwunden wird.

Kassel: In Deutschlandradio Kultur reden wir mit dem Schriftsteller und Weltreisenden Ilija Trojanow über Literatur in Indien. Reden wir doch, Herr Trojanow, mal über die andere Seite. Sie haben sechs Jahre dort gelebt, sind immer wieder auch zurückgekehrt nach Indien. Welche Rolle spielt denn das Lesen, spielt die Literatur bei der Bevölkerung? Sie haben jetzt so oft die Oberschicht erwähnt. Sind das die Einzigen, die lesen?

Trojanow: Also, für mich ist das Wundersame an Indien, dass es eine Gleichzeitigkeit von mündlicher und schriftlicher Literatur gibt. Ich glaube, das erklärt auch die enorme Vielfalt der Erzählungen in Indien. Viele, viele Menschen werden wirklich noch von sehr lebendigen oralen Traditionen bedient. Es gibt zum Beispiel fahrende Theater, die bestimmte Mythen, zum Beispiel die Geschichten um den Gott Krishna, aufführen, teilweise in ganz großen, dramaturgischen Bögen über zehn Tage hinweg. Es gibt Geschichtenerzähler, es gibt alle möglichen Formen von Text und Musik zusammengemischt, und es gibt natürlich jetzt seit zwei Jahrzehnten den enormen Einfluss des Fernsehens, in dem auch bestimmte Epen neu für dieses Format inszeniert werden. Dann gibt es an jedem Bahnhof in ganz, ganz großer Auflage ganz günstig Unterhaltungsromane auf Hindi. Es war sehr interessant, vor vielen Jahren mal auf einer Buchmesse in Afrika zu sehen, dass die Inder den Afrikanern gesagt haben, das Hauptproblem ist der Preis bei einem Buch. Das heißt: Kalkuliere es so, dass auch ein einfacher Mensch es sich leisten kann, und dann wirst du in hohen Mengen das verkaufen! Und die kosten wirklich nur ein paar Rupees, diese Schmökerromane, und die sind überall in Nord- und Zentralindien erhältlich.

Kassel: Wie bedroht ist denn die Erzähltradition, über die Sie gerade gesprochen haben, von den elektronischen Medien? Man darf ja nicht vergessen, dieses Hightech-Land, das Indien in einigen, wenigen Städten ja ist, hat immer noch einen unglaublich hohen Anteil von Analphabeten, die sicherlich diese Erzähltradition, von der Sie gesprochen haben, wahrnehmen können, Bücher logischerweise nicht, aber Fernsehen, Bollywood-Kino, können die auch wahrnehmen. Wie stark bedeutet das eine Abwendung von dieser Erzähltradition?

Trojanow: Ich glaube, ziemlich wenig. Selbst in Bollywood, selbst in den wirklich kommerziellsten Filmen merkt man, dass bestimmte Erzähltraditionen, zum Beispiel diese ganz große Tradition aus dem Nathshastrya, dass man die neuen Gefühle des Menschen in einem Kunstwerk ansprechen soll, nicht alle neuen, aber möglichst viele davon, deswegen, dass es uns so merkwürdig vorkommt, dass Humor, Sentimentalität, Aggression gleichzeitig in einem Film vorkommen, egal wo man hinguckt, man stellt fest, dass bestimmte Traditionen weiterhin am Leben sind und, wie Sie selber angedeutet haben, dieser IT-Boom hat ja wirklich nur bislang einen ganz, ganz kleinen Teil der indischen Gesellschaft erreicht.

Kassel: Selbst Bollywood mit seinen Filmen und mit der dazugehörigen Musik ist zum Teil längst in Europa angekommen, es gibt da eine Szene, die so winzig nicht ist, die sich dafür interessiert. Wir haben unser Gespräch begonnen mit den im Original schon überwiegend englischschreibenden Großschriftstellern aus Indien, die bei uns bekannt sind. Glauben Sie, das wird anhalten, glauben Sie,wir werden noch mehr indische Literaturen, ich benutze bewusst den Plural, auch in Deutschland, auch in Europa kennen lernen?

Trojanow: Ich hoffe, ja. Es gibt unendlich viel zu entdecken. Es gibt ja immer wieder so Versuche, auch verborgene Klassiker auf Deutsch erhältlich zu machen, letztes Jahr zum Beispiel einer meiner Lieblingsschriftsteller, das ist ein Mann, der auf Urdu geschrieben hat, er heißt Saadat Manto, Hasan bei Suhrkamp erschienen, das ist einer der größten Kurzgeschichtenschreiber aller Zeiten, der diese Trennung, die vor 60 Jahren passiert ist, in sehr düsteren, makaberen, aber auch skurrilen, teilweise absurden Geschichten behandelt hat. Und so hoffe ich, dass wir in Wellen immer wieder aus diesem enormen Schatz der indischen Literaturen etwas Neues zu lesen bekommen.

Kassel: 60 Jahre Republik Indien, ungefähr 3000 Jahre indische Erzähl- und auch Schreibtradition. Ilija Trojanow über ein Land, das er selber sechs Jahre als sein Wohnland bezeichnen konnte und immer noch regelmäßig besucht. Herr Trojanow, ich danke Ihnen für das Gespräch, schöne Grüße nach Wien.

Trojanow: Ich danke Ihnen auch, tschüss!
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