Standardwerk der deutschen Theatergeschichte

Das neue Werk von Günther Rühle ist für Theaterkenner und -liebhaber gleichermaßen anregend. Rühle zeigt auf, welch große Tradition und Wirkung das Theater in Deutschland in den Jahren von 1887 bis 1947 hatte.
Ein Buch, das sprachlos macht – denn allein schon die Behauptung, die dahinter steckt, übersteigt ja die Phantasie selbst des professionellsten Lesers: Günther Rühle, über 80 inzwischen, Journalist, Leiter des Feuilletons der FAZ, danach für fünf abenteuerreiche Jahre ab 1985 Chef am Frankfurter Schauspiel und seit Wendezeiten publizistischer Berater etwa beim "Tagesspiegel" in Berlin und darüber hinaus unter anderem Herausgeber der Berichte der Theaterkritikerlegende Alfred Kerr, unternimmt auf sage und schreibe (und lese!) 1300 Seiten den Versuch, 60 wichtige Jahre deutscher Theatergeschichte Revue passieren zu lassen: "Theater in Deutschland von 1887 bis 1947".

Uff. Mächtig gewaltig. Und das Unternehmen verliert auch dadurch nicht an Wert und Ambition, dass Rühle zuvor bereits in ähnlicher Breite bestimmte Perioden innerhalb dieses Zeitraums abgehandelt hat, er also aus reichem Fundus schöpft Der Leser und Leserin sind vor allem eingeladen, sich staunend mit auf eine Zeitreise von beträchtlichem Ausmaß zu begeben; und in all diesen Zeiten das Theater lebendig vor Augen zu haben, wie es (so definiert Rühle dessen tieferen Sinn und Zweck und Zusammenhang) aus der Gesellschaft der Vergangenheit heraus herein wirkt in die der Gegenwart, und zwar vor allem, um wiederum die tauglich werden zu lassen für die Zukunft.

1887 bis 1947 also - das finale Datum leuchtet dabei sofort ein: zwei Jahre nach Kriegsende, die Trümmer vor Augen und Währungsreform wie deutsche Teilung in Aussicht, beginnen die Theater zwar nicht ganz von vorn, aber immerhin wie neu. Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann ist das erinnerungsstärkste Signet dieses Neubeginns. Aber 1887? Warum beginnt Rühles Geschichte gerade in diesem Jahr? Und dann auch noch präzise am 9. Januar?

Der 9. Januar 1887 ist eben zugleich historischer Moment und eine köstliche Pointe – da geht nämlich Paul Schlenther, junger, aufstrebender Theaterkritiker in Berlin, in die Matinee zu Ehren des Schriftstellers Henrik Ibsen, in der erstmals auf einer (privaten, von einem literarischen Verein betriebenen) deutschen Bühne dessen "Gespenster" zu sehen sind. Und wohl weil er sich redaktionsintern der Fürsprache eines prominenteren Quasi-Kollegen versichern will, nimmt er auf der zweiten Pressekarte Theodor Fontane mit. Entscheidend für Rühle heute ist an diesem Termin natürlich der Durchbruch für Ibsen: als Anfang vom Ende des bis dahin uneingeschränkt dominierenden Systems der herrschaftlichen Hof-, und das heißt später: Staatstheater, und als signifikanter Wechsel der Bedeutung des Theaters innerhalb der Gesellschaft – hin zur Kunst, weg von der blanken Repräsentation der so genannten Klassiker. Erst die Schlenther-und-Fontane-Pointe aber markiert den Lese-Charme, den das voluminöse Buch vor allem zu Beginn entwickelt.

Wie im Sog kann Rühle sich und uns durch die Zeiten schreiben: von Ibsen zu Hauptmann und weiter zu Wedekind und Sternheim; von den Dramatikern zu den ersten Theater-Direktoren der neuen, gerade angebrochenen Zeit, Adolph l’Arronge, Otto Brahm, ein Jahrzehnt später Max Reinhardt (sämtlich übrigens jüdisch geprägter Herkunft; ein Phänomen, das einige Jahrzehnte später tragische Bedeutung erlangt!); ausgehend von Berlin, der aufstrebenden Metropole schon der Gründer- und dann der Vorkriegszeit bis 1914, endlich (nach 200 Seiten) auch mit Blick in die deutschen Provinzen, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Mannheim, München; schließlich aber immer wieder von Aufführung zu Aufführung.

Und in der Grundsätzlichkeit im Detail, die sich durch diesen Marathon prinzipiell behauptet, steckt auch schon eines der ebenso grundsätzlichen Probleme des Buches. Rühle betet Besetzungen herunter, von denen sicher gut drei Viertel der Kollegenschaft vergessen sind (und bleiben werden); und, was noch störender ins Gewicht fällt, er betet Absätze lang die Elogen oder Verrisse der verehrten Kollegen Theaterkritikervorbilder nach. Da nützt auch alles Verständnis nichts für die Begeisterung einem Kritiker-Typus gegenüber, verkörpert etwa in Siegfried Jacobsohn und Alfred Kerr, deren Bedeutung damals derart maßlos übersteigert gewesen zu sein scheint, dass sie mit endgültig und für alle kommenden Zeiten geltenden Urteilen nur so um sich warfen - deren artistisch aufgeplusterter Ton kann mit der Zeit auch ganz schön auf die Nerven gehen.

Da vergeht der helle Spaß der ersten Seiten mittendrin immer mal wieder, und es braucht manchmal ziemlich lange bis er wiederkehrt; denn wenn sich Rühle wieder mal ganz und gar in den Donnerblitzen und Wortgewittern aus den Hirnkästen und Redaktionsstuben der verehrten Vorbilder verirrt, nimmt auch er selber bisweilen jenen arg affektierten Ton des literarischen Kritikers an, der einen auch in Zeitungen ziemlich anöden kann – weil plötzlich nicht mehr das Objekt der Kritik, also die Aufführung, sondern der hochfeine Ton ihrer selbst im Mittelpunkt steht. Nichts ist nämlich langweilig als Kritik, die nurmehr Politik sein will. Und es mag wie vielleicht wie Frechheit und blanker Unverstand eines Nachgeborenen klingen – aber auch Rühle wäre kürzbar; und zwar ohne dass das Buch an bleibendem Wert verlöre.

Der macht in jedem Fall Staunen bis zum Schluss – mehr als ein halbes Jahrhundert der teilweise mörderischen Umbrüche ist zu besichtigen; und das Theater war und blieb darin deren gesellschaftlich wirkungsmächtigster Spiegel. An die Grundvereinbarung dieser Theater-Geschichte bleibt immer mal wieder zu erinnern, wenn der gegenwärtig so vehement grassierende Kultur-Konservatismus so zwanghaft an den alten hehren Werten klebt: dass das Theater all dieser Zeiten aus dem Gestern kam, sich transformierte im Jetzt (und oft die Gesellschaft gleich mit) und die Räume wie die Köpfe und Phantasien freimachte für das Morgen. Auch darum sollten Theaterfreundin und -freund ihren "großen Rühle" allemal im Schrank stehen haben.

Sie können ja auch mal ein paar Seiten überblättern.

Rezensiert von Michael Laages

Günther Rühle: Theater in Deutschland, 1887 bis 1947
S. Fischer Verlag, 2007
1300 Seiten, 39,90 Euro