Standardware und Entdeckungen

Von Jochen Stöckmann |
Kaum war der surrealistische Künstler Man Ray in den Zwanzigern als Fotograf erfolgreich, da klagte er über Leute, "die mir die Bude einrennen und Fotos kaufen wollen - so, wie sie zum Bäcker oder Metzger gehen, um Brot oder Fleisch zu holen!" Wer also Kunst sammelt, sollte beim Einkaufen neben dem nötigen Kleingeld auch ein besonderes Auge haben. Wie es darum bei dem Sammlerpaar Barbara und Horst Hahn bestellt ist, zeigt erstmalig mit einer Auswahl von 220 Schwarzweißfotografien die Städtische Galerie Delmenhorst.
Ob Küchenreibe, Rasierklinge oder Wattebäuschchen - mit elegantem Dunkelkammerzauber setzten Man Ray und Raoul Hausmann in den zwanziger Jahren die unscheinbarsten Dinge groß in Szene. Für diese Fotogramme brauchten die Künstler keine Kamera, nur Gespür für das Licht, das Schattenrisse und grau changierende Brechungen direkt auf das Fotopapier zeichnete. Weniger intuitiv arbeitete der Bauhäusler Laszlo Moholy-Nagy und eine ganze Schule des "Neuen Sehens", vor allem deutsche und russische Fotografen, die handwerklich-perfekte Beherrschung des Apparates mit dem künstlerisch subjektiven Blick kombinierten.

Mit diesen großen Namen wartet nun die Städtische Galerie Delmenhorst auf, auch Franz Roh und Anton Stankowski, Alexander Rodtschenko oder El Lissitzky sind vertreten. Ganz enorm, denkt man an Höchstpreise, die auf Auktionen für diese Gründungsurkunden einer avantgardistischen Fotokunst gezahlt werden. Doch kommerzielle Interessen hatten Barbara und Horst Hahn nicht im Sinn, als sie in den Siebzigern mit dem Aufbau ihrer Fotokollektion begannen. Auch wenn Kuratorin Barbara Alms nun aus dem Vollen schöpfen und mehr als ein Dutzend illustrer Fotopioniere aufmarschieren lassen kann, schätzt sie einzig und allein die inhaltliche Konzeption der Sammler:

"Dass sie ihre Qualitätskriterien an den Klassikern in den zwanziger Jahren geschult haben. Daß ihre Wahrnehmung bestimmt ist nicht nur durch Man Ray und Moholy-Nagy und so weiter, sondern sehr stark durch die neusachliche Kamerakunst, durch einen Hans Finsler, durch das genaue Hingucken, die genaue Wahrnehmung für das Einzelne, für das Unwürdige, für das Nebensächliche.""

Ob nun Hans Finsler eine elektrische Glühbirne in Großaufnahme zum Monument erhebt oder Man Ray auf den verführerisch nackten Rücken der Kiki de Montparnasse zwei Violinschlüssel montiert und das Gesichtsprofil von Meret Oppenheim durch die Zufalltechnik der "Solarisation" schärft - trotz unterschiedlicher Aufnahmetechniken und ganz individueller "Handschriften" in der Dunkelkammer wirken die meisten Abzüge wie aus einem Guß.

Des Rätsels Lösung heißt "Griffelkunst": Fast zwei Drittel der Bilder stammen aus dieser Edition, die für Vereinsmitglieder nachträglich - ohne eigenes Zutun, aber mit Autorisierung des Fotografen oder seiner Erben - von Originalnegativen angefertigt wird. Von "metikulösen Neuauflagen" schreibt der Fotoprofessor Rolf Sachsse im Katalog - und das heißt schlicht "pedantisch". Denn den authentischen Eindruck des "vintage"-Prints, also eines vom Fotografen selbst zeitnah zur Aufnahme gefertigten Abzugs, erreichen die technisch durchaus perfekten Nachdrucke selten.

Man Ray etwa spielte geradezu mit jenen alchemistischen Zufällen, die in der Dunkelkammer lauern, die auch für Fotografen wie Umbo und natürlich für einen Surrealisten wie René Magritte den künstlerischen Reiz der vorgeblich so "objektiven" Reproduktionstechnik ausmachten.

Doch neben der durch berühmte Namen geadelten Standardware, die man ja aus diversen Fotokatalogen längst kennt, gibt es auch Entdeckungen - und die gehen auf den Sammler Horst Hahn zurück:

"Er war befreundet, eng befreundet mit Tim N. Gidal, diesem israelischen Fotografen. Und mit vielen anderen, von denen dann Vintages in die Sammlung gekommen sind."

So hängt dann Gidals Kontaktkopie, der nicht vergrößerte direkte Abzug vom Negativ, einem gut vierzig mal sechzig Zentimeter großen Print des Kölner Fotografen Chargesheimer gegenüber: Delikate Miniatur einer nächtlichen Szene unter dem nahöstlichen Silbermond das eine, flaues und mit Verlust vieler Kontraste aufgeblasenes Posterformat vom Katzenjammer eines Karnevalsgecken das andere Bild.

Da wüsste man gerne mehr - und fragt nach Notizen auf der Rückseite dieser Originalabzüge. Aber da ist auch die Kuratorin nicht fündig geworden - sie hat allerdings von der Korrespondenz zwischen Sammler und Fotografenfreunden gehört, etwa mit dem Tschechen Jan Saudek, dessen mit schwülstiger Symbolik aufgeladenen Inszenierungen noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs aus dem Ostblock ihren Weg in die Sammlung Hahn fanden:

"Tatsächlich sind nicht so sehr die Rückseiten interessant, sondern man müsste in diese Briefwechsel einmal hineinschauen. Die erotische Thematik, die so radikal ausgelebt wird in den Fotophantasien von Jan Saudek, war natürlich gesellschaftlich sehr problematisch - und er konnte damals gar nichts veröffentlichen."

Reichlich veröffentlicht hat dagegen Helmut Newton, der Spezialist für künstlerisch verbrämte Sexphantasien. Das hat man alles schon oft gesehen, auch sein laszives Coverfoto für die "Love At First"-Platte der Scorpions: Macho mit Lederjacke, aufs innigste verklammert mit einer splitternackten Rockerbraut. In dieser Ausstellung aber hängt nun - ganz vereinzelt - der Vintage-Abzug. Bei aller Vorliebe für Aktfotografie scheint das doch ein wenig unmotiviert, illustriert aber gerade deshalb ein Charakteristikum der Sammlung Hahn:

"Das hängt sicherlich auch damit zusammen, daß sie ihre Sammlung ohne große Geldmittel erworben haben, häufig durch Schenkungen. Er hat als Restaurator gearbeitet, für Künstler, die dann statt eines Entgelts ihm haben Fotografien zukommen lassen."

Und so stößt der Besucher auf zwei signierte Originalabzüge von Sigmar Polke, der den künstlerischen Umgang mit der Fotografie ganz im alchemistischen Geiste Man Rays fortgeführt hat. Polke rangiert unter der Rubrik "Künstlerportraits" neben Boris Michailov und Nan Goldin, die sich mit ihrem Blick auf soziale Randgruppen in Museen und am Markt durchgesetzt haben - und prompt ins Abonnement der "Griffelkunst" aufgenommen wurden. Aber diese Beliebigkeit muß man wohl als Kehrseite in Kauf nehmen für jene "besondere Fotografiegeschichte", die Barbara Alms anvisiert:
"Diese Bilderfülle, die ich inszeniert habe, ist natürlich eine Suggestion, daß in der Fotografie eine Menge da ist und man eine Bilderlust befriedigen kann wie in kaum einem Bereich: Es ist unendlich viel da!"


Service:

Die Ausstellung "Man Ray bis Sigmar Polke - eine besondere Fotogeschichte" ist noch bis zum 24. September in der Städtischen Galerie Delmenhorst zu sehen.