Stalins Kult und Lenins Grab

Wie Russland seine eigene Vergangenheit schönfärbt

Ein Teilnehmer einer Prozession anlässlich des 99. Jahrestages der Entstehung der Sowjetarmee und der Marine hält ein gerahmtes Stalin-Bild in seinen Händen.
Russland hält die Erinnerung an seinen Diktator Josef Stalin hoch. Nur wenige protestieren dagegen. © dpa picture alliance / Iliya Pitalev/Sputnik
Von Boris Schumatsky  · 09.05.2017
Einhundert Jahre nach der Revolution wird Stalin in Russland offiziell wieder wie ein Held verehrt. Die Zivilgesellschaft widersetzt sich, sie kämpft jedoch auf verlorenem Posten.
Vor einem Moskauer Kino haben sich ein Dutzend Frauen und Männer versammelt. Sie tragen Uniformen aus dem Zweiten Krieg, ein Mann spielt Ziehharmonika. Hier sollen gleich die Gewinner eines historischen Schülerwettbewerbs gekürt werden. Jedes Jahr zeichnet die Menschenrechtsorganisation Memorial die besten Aufsätze über die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Als die Kinder und Jugendlichen eintreffen, hört die Musik abrupt aus, und die Uniformierten bewerfen sie mit Eiern.
"Faschisten!" rufen die Protestler. Es sind Mitglieder der "Nationalen Befreiungsbewegung" des Staatsduma-Abgeordneten Jewgenij Fjodorow. Für die erwachsenen Besucher halten sie Spritzen bereit, die mit gelblicher Flüssigkeit gefüllt sind. Ein Historiker wird am Auge getroffen. Die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja erwischt es noch härter, jemand schüttet ihr dunkelgrüne Tinktur ins Gesicht.
"Seljonka" heißt diese brillantgrüne Wundlösung, die bis heute überall in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gerne benutzt wird. In Russland findet Brillantgrün in der letzten Zeit noch eine andere Verwendung. Seljonka ist schwer abwaschbar und hinterlässt bleibende Flecken auf der Kleidung, auch auf der Haut sind die Spuren tagelang sichtbar. Mit Brillantgrün werden Regimegegner gebrandmarkt, aber auch jene, die öffentlich die orthodoxe Kirche kritisieren oder öffentlich über die Verbrechen der Stalinzeit reden.
Irina Scherbakowa, die bei Memorial den Schülerwettbewerb betreut, wurde ebenfalls von Nationalisten überfallen. Unsere Geschichte, sagt die Historikerin, sei zu einem Schlachtfeld geworden:
"In Russland tobt gerade ein regelrechter Erinnerungskrieg. Das ist gewissermaßen das Werk der Propaganda und des Fernsehens, dieser ganze Trend, den die Staatsmacht natürlich unterstützt. Denn wir wissen alle, es könnte nie all diese neuen Denkmäler für Stalin geben, wenn die Obrigkeit "Ruhe jetzt!" gesagt hätte. So kam es zur Wiedergeburt des Stalinkults in unserer Gesellschaft. Einerseits wollen die Leute das tun, was die Regierung, wenn auch nicht ganz offen, aber eindeutig unterstützt. Andererseits will man der Obrigkeit zeigen: Schaut auf diesen Mann, der nie etwas für sich wollte! Ihr habt Yachten, ihr habt Paläste, er aber war mit abgetragenen Stiefeln und einem geflickten Mantel zufrieden!"

Zu Stalins Begräbnis drängten sich die Menschen auf den Straßen

So selbstlos wurde Josef Stalin schon zu seinen Lebzeiten dargestellt, als ein weiser "Vater des Volkes". Der Personenkult um ihn entstand bereits in den 1920er Jahren und nahm später ein fast religiöses Ausmaß an. Zu seinem Begräbnis am 9. März. 1953 kamen so viele Trauernde, dass im Gedränge Hunderte Menschen zerquetscht und totgetrampelt wurden.
Der junge Moskauer Historiker Pawel Gnilorybow hat Erinnerungen über das Massengedränge an Stalins Begräbnistag gesammelt. Jetzt macht er Führungen durch Moskau, auf den Spuren der Menschen, die zum letzten Mal ihren geliebten Führer sehen wollten. Pawel hält einen kleinen Lautsprecher hoch, eine Stimme aus der Vergangenheit übertönt den Straßenverkehr.
"Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und der Ministerrat der UdSSR teilen in tiefem Schmerz mit, dass der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR und Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Josef Wissarionowitsch Stalin, am 5. März um 21.50 Uhr nach schwerer Krankheit verschieden ist. Das Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins, des weisen Führers und Lehrers der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes, Josef Wissarionowitsch Stalin, hat aufgehört zu schlagen."
Die Moskauer kamen in Massen, um Josef Stalin zu verabschieden.
Die Moskauer kamen in Massen, um Josef Stalin zu verabschieden.© dpa picture alliance / Anatoliy Garanin/ Sputnik
Die Teilnehmer beginnen durcheinander zu reden, als Pawel die Radiomitteilung anhält. Manche haben sie als Kinder in voller Länge gehört, die anderen glauben, die Stimme des Sprechers wiederzuerkennen. Zu Pawels kostenloser Tour sind etwa dreißig Menschen gekommen. Er hatte noch mehr Anfragen, musste aber die Anmeldung im Internet bald wieder schließen. Das Interesse an der Geschichte sei groß, aber die Moskauer Polizei sähe es nicht gern, wenn zu viele Menschen zusammenkommen, sagt Pawel Gnilorybow. Teilnehmer unerlaubter Versammlungen werden immer wieder zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.
"Nun lassen Sie uns den Weg der Tränen gehen", sagt Pawel. Er führt seine Gruppe, die wie eine kleine Demonstration wirkt, entlang der Straßen, durch die einst Hunderttausende Menschen ins Stadtzentrum liefen, um von Stalin Abschied zu nehmen. Heute sind es Einkaufsmeilen mit teuersten Boutiquen und feinen Cafés. Hier, zeigt Pawel, hatte damals die Armee eine Straßensperre errichtet. Der Menschenstrom stieß auf schwere Militärlaster. Aus dem Gedränge hörten die Soldaten die Schreie Sterbender, erzählt er, aber sie hatten den Befehl, niemanden durchzulassen.

"Für mich ist Stalin das absolut Böse"

Zwischen den Führungen geht Pawel manchmal in eine Kaffeehauskette in der Nähe des Roten Platzes. Sein Vortrag auf der Straße klingt nüchtern, aber hier, bei einem Latte Macchiato, nimmt der Historiker kein Blatt vor dem Mund:
"Für mich ist Stalin das absolut Böse in Person. Das tückische und sehr konsequente Böse wie Darth Vader, der dunkle Imperator. Was damals geschah, soll so schnell wie möglich ans Tageslicht, wir sollten das baldmöglichst bewältigen. Die Wunde ist noch offen, egal wie man sie zu vertuschen versucht. In Russland gibt es heute fast 70 Stalindenkmäler. Das geht doch weit über alle Grenzen der Vernunft hinaus!"
Fast alle dieser Denkmäler sind nach der Sowjetzeit entstanden. Die jüngste Meinungsumfrage des unabhängigen Levada-Zentrums zeigt, dass Stalin in Russland so beliebt ist wie seit 16 Jahren nicht mehr. 46 Prozent der Befragten haben entweder Sympathie, Achtung oder Bewunderung für ihn übrig. Auch im staatsnahen Fernsehen ist er einer der beliebtesten Protagonisten.
"Das war ein Mann, der unser Land für die folgenden Jahrzehnte geprägt, ein Führer, der die heutige Gestalt Europas bestimmt hat... Sein Platz in der Geschichte wurde ausgelöscht und sein Name mit Mythen belegt..."

Das Land mit dem Holzpflug übernommen und zur Atombombe geführt

Eine Schülerin legt Blumen vor einer Stalin-Büste in Moskau ab.
Eine Schülerin legt Blumen vor einer Stalin-Büste in Moskau ab.© dpa picture alliance / Vitaliy Belousov
Wenn der beliebte russische Fernsehsender NTW nicht gerade den Sechsteiler "Stalin mit uns" zeigt, dann läuft auf einem anderen Sender "Das geheime Leben des Josef Stalin" oder "Die Frauen des Genossen Stalin". In den Talkshows erfahren die Zuschauer, dass Stalin den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Oder dass er das Land mit einem Holzpflug übernommen hatte und es mit einer Atombombe hinterließ.
Die Kritiker von Stalins Terrorherrschaft, die während der Perestroika den Ton angaben, werden heute ins Abseits gedrängt. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit den 90er Jahren um die Aufarbeitung der Stalin-Ära kümmert, wurde unlängst zum "ausländischen Agenten" erklärt. Dieser Stempel war unter Stalin Spionen und Volksfeinden vorbehalten. Medien, viele Bücher und sogar manche Schulbücher stellen indes den Diktator wie einen "effektiven Manager" dar. Stalins Vorgänger, der Revolutionsführer Wladimir Lenin fristet heute dagegen ein Schattendasein. Der Staatsgründer der Sowjetunion wurde lange wie ein verstorbener Gott verehrt, seine mumifizierte Leiche war im Mausoleum am Roten Platz ausgestellt.
Am Tag von Pawels Führung ist das Mausoleum für die jährliche Wartung geschlossen, aber Stalin kann man am Roten Platz sehen und hören. Ein Schauspieler ist da.
"Die Leute fragen, ob sie mich umarmen dürfen", sagt der stattliche Mann in Uniform des sowjetischen Generalissimus, "sie nennen mich Stalin, der Sieger". Der Laiendarsteller trägt auch seinen authentischen Schnauzer und hält seine berühmte Rauchpfeife in der Hand. Das Geschäft blüht. Ein Schnappschuss mit dem Diktator kostet 200 Rubel. "Alle lieben den Genossen Stalin", sagt er. Lenin aber habe wenig zu tun, mit ihm wolle sich niemand fotografieren lassen. "Jetzt ist der Kollege nicht da", lächelt Stalin, "Lenin hat sich wieder betrunken."
Es gebe einen Grund, sagt die Memorial-Historikerin Irina Scherbakowa, warum sich heute Stalin gegen Lenin durchgesetzt habe. Das geschehe, weil die offizielle Erinnerungspolitik vor allem eins vermitteln will:
"Ihr sollt immer die starke Macht unterstützen. Ihr sollt die Machtvertikale, den starken Führer unterstützen, denn die Revolution ist schlimm, ein Maidan wie in der Ukraine ist furchtbar, das führt zum Bürgerkrieg. Dagegen ist eine starke Figur die Rettung für das Land und auch für den kleinen Mann. Der kleine Mann soll sich zurücklehnen, die Obrigkeit wird alles für ihn entscheiden. Der Staat ist alles, der Bürger ist nichts."
Doch gerade wenn es um ihre eigene Geschichte geht, akzeptieren immer weniger Bürger die staatliche Entmündigung. Als Gegentrend zur Verklärung Stalins wächst das kritische Interesse an der Vergangenheit. Vor allem die private Geschichtsforschung erlebt eine Renaissance. Webseiten, die sich auf Familiengeschichten und Stammbäume spezialisieren, haben mehrere Millionen Besucher. Die professionelle Recherche von Familiengeschichten ist ein florierendes Geschäft, der Marktführer verdient damit 100 Millionen Rubel im Jahr. Während die staatlichen Archive den Bürgern nach und nach die Einsicht verweigern, verzeichnen die noch offenen Archive einen deutlichen Anstieg von Privatanfragen.

In jeder russischen Familie ist jemand vom Zweiten Weltkrieg betroffen

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist in Russland, ähnlich wie in Deutschland, immer politisch. In fast jeder Familie ist entweder jemand im Krieg, im Gulag, in der sibirischen Schneewüste oder während der künstlich erzeugten Hungerkatastrophe umgekommen. Oder wie der Urgroßvater von Denis Karagodin von Stalins NKWD mit einem Genickschuss hingerichtet worden.
"Mein Urgroßvater ist einem Mord zum Opfer gefallen", schrieb Karagodin seinem Internet-Blog. Der 35-jährige arbeitet im sibirischen Tomsk als Designer. In seiner Freizeit durchforstet er Archive, sucht nach Dokumenten, die beweisen sollen, wer für die Erschießung seines Urgroßvaters verantwortlich war. Seit fünf Jahren veröffentlicht er seine Entdeckungen im Internet. Inzwischen sind auch die unabhängigen russischen und internationalen Medien auf sein Projekt gestoßen.
Alle wichtigen Details des Falles hat Denis Karagodin ans Licht gebracht, er veröffentlichte die Einzelheiten der damaligen Gerichtsverhandlung und sogar die Namen der Schreibmaschinenschreiberin des NKWD und die Fotos der Henker, die das Urteil vollstreckt hatten. Nun will der Urenkel des Erschossenen gegen diese Menschen Anzeige erstatten, entweder wegen Mordes oder wegen Beihilfe beziehungsweise Anstiftung zum Mord. Damit sind die zuständigen Volkskommissare der sowjetischen Regierung und namentlich der Staatschef Stalin gemeint.
Karagodins Erfolgsaussichten vor einem russischen Gericht sind nicht gut, doch seine Recherche hat bereits etwas in der Gesellschaft bewegt. Nachdem er den Namen und das Foto des Mannes veröffentlichte, der seinen Urgroßvater und am selben Tag noch 35 weitere Menschen tötete, bekam Karagodin eine E-Mail. Sie stammte von der Enkelin des Henkers. Sie heißt Julia und sie hat nichts dagegen, dass Auszüge aus ihrer E-Mail veröffentlicht werden.
"Seit Tagen finde ich keinen Schlaf. Für das Elend von damals lässt sich heute keine Buße tun, doch die nachfolgenden Generationen haben die Aufgabe, nichts zu verschweigen. Ich werde niemals sagen, dass meine Familiengeschichte mich nichts angeht. Es würde sich in unserer Gesellschaft nichts ändern, wenn die ganze Wahrheit nicht bekannt wird. Dass es heute wieder Stalinisten, wieder Stalindenkmäler gibt, das geht einem einfach nicht in den Kopf. Ich danke Ihnen nochmals, und vergeben Sie mir!"

Staatsfernsehen ignoriert Vergangenheitsbewältigung

Moskau, Lubjanka-Platz. Vor dem Hauptquartier der russischen Staatssicherheit steht eine lange Schlange. Stundenlang warten Hunderte Menschen im Nieselregen, bis sie an der Reihe sind, dann treten sie ans Mikrofon.
"Jewtechijewa Juliana Sotowna, 37 Jahre alt, Erzieherin im Kindergarten Nr. 10. Erschossen am 31. Mai 1938.
Jeganow Michail Jakowlewitsch, 24 Jahre alt, Student am Institut für Back- und Süßwarenindustrie. Erschossen am 10. Dezember 1937."
Wer keine Opfer in der eigenen Familie hat, trägt stattdessen die Namen von Ermordeten vor, die von Memorial in den Archiven der Staatssicherheit gefunden wurden. Seit 2007 wird die Aktion "Rückkehr der Namen" in Moskau und mehreren anderen Städten jährlich durchgeführt. Nach zehn Jahren ist man erst bei der Hälfte der Namen auf der Opferliste angekommen.
Über solche Aktionen berichten nur wenige Medien. Die Videomitschnitte sind im Internet zugänglich, doch für das staatsnahe Fernsehen und die Behörden ist diese Art der Vergangenheitsbewältigung ein Fremdwort. Für den Kreml gibt es in der sowjetischen Geschichte hauptsächlich ein Ereignis, an das sich das Volk zu erinnern hat: der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wird. Der Kult Stalins sei eng mit diesem Kriegskult verbunden, sagt Irina Scherbakowa von Memorial:
"Ohne diesen Krieg geht nichts, und auch die Wiedergeburt des Stalinkults hängt mit ihm zusammen. Der Sieg rechtfertigt alles! Das ist eine Einstellung, die auch Putin mehrmals geäußert hat: Mögen die Opfer an sich nicht unbedingt notwendig gewesen sein, doch gerechtfertigt waren sie auf jeden Fall, weil wir dann im Krieg gesiegt haben."

Im Freizeitpark wird Schlacht um Berlin nachgestellt

Was wie ein Propagandafilm aus der Stalinzeit aussieht, ist eine moderne Open-Air-Show. Im Freizeitpark "Patriot" bei Moskau wurde mit großem Aufwand eine Attrappe des Reichstags errichtet. Ein deutscher Soldat wälzt sich unter Schmerzen am Boden, sein Rücken brennt lichterloh. Die gefangengenommenen Kameraden werden von sowjetischen Soldaten abgeführt. Auch die deutschen Panzer brennen, darüber brausen im Tiefflug sowjetische Flugzeuge. Über dem Reichstag weht die rote Fahne.
Anderthalbtausend Laienschauspieler stellten die Schlacht um Berlin nach. Um den sowjetischen Sturm auf den Reichstag zu sehen, zahlen fünftausend Zuschauer bis zu 40 Euro Eintritt, auch Verteidigungsminister Sergej Schojgu ist unter den Gästen. Sein Ministerium hatte die Show bezahlt.
Nach einer Umfrage des Levada-Zentrums sind 83 Prozent der Befragten "stolz" auf den Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg". Wegen des Staatsterrors und der Deportation ganzer Völker "schämen" sich dagegen nur 22 Prozent. So wenig wie noch nie seit Beginn der Erhebung.
Die Führung zum Begräbnisort Stalins ist bald zu Ende. Die Teilnehmer kommen miteinander ins Gespräch. Ein älterer Herr hatte damals als Kind das Gedränge von seinem Balkon aus beobachtet. Die 21-jährige Geschichtsstudentin Faina versucht zu verstehen, was die Menschen damals dazu bewegt hatte, zum Grab des Tyrannen zu gehen.
"Ich wollte mich sozusagen in sie hineinversetzen. Bei uns herrscht leider eine Tendenz zur Vergessenheit. Wer diese Zeiten noch erlebt hatte, gab sein Wissen nicht an die Kinder weiter. Und dann schauen diese Kinder unser Fernsehen, das gar nichts über die Verbrechen der 30er und 40er Jahre erzählt. Wir sind hier also eine Minderheit. Und der Mehrheit ist wie immer alles egal."
Josef Stalin hält seine Tochter Swetlana Allilujewa auf dem Arm.
Stalin mit seiner Tochter Swetlana Allilujewa im Jahr 1936. Kritik am Diktator ist heute unerwünscht.© imago stock&people/United Archives International
Plötzlich stellt sich ein Passant Faina in den Weg. "Ist diese Demonstration zugelassen?" fragt er.
Der Mann trägt keine Uniform, vielleicht will er auch nur ins Gespräch kommen. Faina aber glaubt, dass er sich zum Polizisten aufspielen möchte, wie man es in der Sowjetunion gerne tat. Sie rechtfertigt sich: "Dürfen wir etwa nicht mehr aus dem Haus gehen?"
Der Mann erzählt, er sei kein Ordnungshüter, sondern Mitarbeiter des weltgrößten Aluminiumherstellers Rusal. Rusal ist einer der Handvoll Großkonzerne, die gemeinsam mit den Geheimdiensten und dem Militär, die Macht des Kremls stützen. Er weiß, wie man in diesen Kreisen über die Vergangenheit denkt.
"Wenn ich zurückschaue, spüre ich einen kühlen Wind der Geschichte, der vorbeiweht. Wie kann man jemanden einschätzen, der einen Haufen Menschen um die Ecke gebracht hat? Natürlich negativ. Aber wenn jemand sein Land mit einem Holzpflug übernimmt und mit einer Atombombe hinterlässt, das ist selbstverständlich gut. Aber wiederum nicht für die Leute, denen Stalin das Mark aus den Knochen gesaugt hat. Warum hat Lenin im Gegensatz zu Stalin keine gute Publicity? Schauen Sie, das ist sehr einfach. Heute braucht doch niemand eine Revolution. Dafür das Volk kleinzukriegen, das ist heute gerade angesagt."
Dann verschwindet der Mann in einem Restaurant, Faina schüttelt den Kopf. Sie gehört zu den Menschen, die man kleinkriegen will.

Die Impfung gegen Gewalt wirkt nicht mehr

"Alle wollen hier weg. Die intelligenten Menschen, die nicht fernsehen, erkennen ja, was sich bei uns anbahnt. Wenn man schon nicht mehr auf die Straße gehen kann. Ich bin Jüdin, mein Urgroßvater war Rabbiner und wurde in den 30ern erschossen. Ich selbst habe im Gegensatz zu vielen meiner Freunde keine Angst. Mir geht es gut, ich bin hier geboren, hier ist meine Heimat. Aber meine Freunde verstehen mich nicht, sie sagen, dass es bald zu spät sein wird, zu gehen."
Auch die Historikerin Irina Scherbakowa blickt mit Sorge in die Zukunft. Die Fähigkeit, sich seiner Vergangenheit zu stellen und sie somit zu bewältigen, vergleicht sie mit einer Impfung gegen Gewalt. Eine Impfung, die heute nicht mehr wirke.
"Es gibt einen Teil der Gesellschaft, der in seiner Einstellung zu Stalin, aber auch zum Krieg in der Ukraine und zur heutigen staatlichen Repression eindeutig kritische Position bezieht - dieser Teil wird allerdings immer kleiner. Circa zwölf Prozent sind entschlossene Gegner der Rehabilitierung Stalins und der ganzen Sowjetmacht. Wenn sie sich aber nicht durchsetzen, wie bereits abzusehen, bedeutet das nur eins. Ohne große Verluste kommen wir aus dieser Geschichte nicht raus. Ich hoffe nur, dass wir nicht einen realen, physischen Preis dafür zahlen müssen."
Beginn der Russischen Revolution im Oktober 1917: Wladimir Iljitsch Lenin wendet sich auf dem Roten Platz in Moskau zu den Menschen.
Wladimir Iljitsch Lenin zu Beginn der Russischen Revolution im Oktober 1917. Heute gedenken die Russen eher Stalin.© imago / United Archives International
Die genaue Zahl der Opfer des Stalinismus im In- und Ausland steht bis heute nicht fest, aber sicher ist, dass darunter auch mehrere Millionen Sowjetbürger waren. Deswegen gibt die Beliebtheit Stalins den Soziologen ein Rätsel auf. Warum scheinen so viele Russen diese Verbrechen nicht wahrzunehmen?
"Die Popularität Stalins ist heute lediglich die Projektion von Putins Beliebtheit. Es ist falsch zu sagen, 'Putin ist Stalin heute'. Nein, es soll heißen, 'Stalin ist Putin gestern'."
Und dennoch sollte man die beiden Männer nicht gleichsetzen, sagt Alexej Levinson, Soziologe beim unabhängigen Lewada-Meinungsforschungsinstitut. Der historische Stalinkult fußt auf Angst, Putin wirkt dagegen wie ein Vertrauter. Die Verbindung zwischen den beiden Führerfiguren ist trotzdem da. Levinson ist überzeugt: Wenn die Russen Stalin verehren, meinen sie in Wirklichkeit Putin.
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